Re: Über Wertvolle und wertlose Menschen


Rund ums Thema Zeugen Jehovas

Geschrieben von Drahbeck am 26. Mai 2006 06:32:37:

Als Antwort auf: Re: Anbiederung geschrieben von Drahbeck am 25. Mai 2006 07:38:27:

"Wertvolle" und "wertlose" Menschen

In ihrem Buch "Als Gefangene bei Hitler und Stalin" geht Margarete Buber-Neumann, als Zeitzeugin auch verhältnismäßig umfänglich auf die Zeugen Jehovas ein. Selbst dem "Wachtturm" war das schon einen Nachdruck, unter Ausmerzung einiger für die WTG eher unangenehmer Passagen wert.

Als einen Aspekt, der im besonderen die Fassungslosigkeit von Buber-Neumann hervorrief, erwies sich der Fall der Anna Lück. Letztere war von der KZ-Lagerbürokratie auf die Liste der zur physischen Vernichtung bestimmten gesetzt worden. Einerseits teilte die Kommunistin Buber-Neumann die Auffassungen der Zeugen Jehovas nicht. Andererseits kam sie nicht umhin, ihnen (im Vergleich zu anderen Häftlingsgruppen die sie auch kennenlernte, aber weitaus weniger "schätzen" lernte), eine gewisse Hochachtung nicht zu versagen.

Eingesetzt als Blockälteste im Bibelforscherblock, der zugleich auch Besichtigungsblock war, wurde ihr mehr als einmal deutlich, welche Abgründe da bestanden. Nämlich sollte solch eine Besichtigung einmal "schief" gehen, hätte das unweigerlich auch für sie selbst die bittersten Konsequenzen. Sie wusste es daher durchaus zu schätzen, dass die erwiesene Disziplin der Bibelforscherinnen, ihr einiges potentielles Ungemach abwenden half. War es auch keine echte "Sympathie" so jedoch zumindest gegenseitiger Respekt und auch die Bereitschaft, sich im Rahmen des möglichen zu helfen. Und genau das, bedeutete unter KZ-Bedingungen, viel, sehr viel.

Aus der Sicht von Buber-Neumann war daher ihr agieren in Sachen Anna Lück, der Versuch zu helfen. Leider musste sie aber registrieren, dass dieses Hilfsangebot von seiten der Zeugen Jehovas nicht als solches anerkannt wurde, ja dass es gerade in dieser Sache zu einer scharfen Kontroverse kam.

In ihrem "Als Gefangene bei Stalin und Hitler" geht sie bereits darauf mit ein. Mehr noch, in einem weiteren Buch von Buber-Neumann mit dem Titel:

„Milena. Kafkas Freundin" kommt sie erneut darauf zu sprechen. Die beiden Berichte überschneiden sich inhaltlich. Zum anderen nutzt Buber-Neumann sie aber auch, um eine bemerkenswerte Vergleichsanalogie daraus abzuleiten. Genau deshalb, sei sie auch an dieser Stelle dokumentiert.
In ihrem Milena-Buch schreibt sie:

„Milenas Gesundheitszustand verschlechterte sich. Immer wieder versteckte ich sie während der Mittagspause auf einem Strohsack in meiner Baracke, damit sie etwas ruhen konnte. Tagsüber zu liegen war streng verboten. Auf die Solidarität der Bibelforscher konnte ich mich verlassen. Doch einmal kam es zu einem erschütternden Vorfall, der Milenas Freundschaft mit den Bibelforschern jäh beendete.

Sie entdeckte auf einer Vernichtungsliste im Krankenrevier den Namen einer Frau aus meiner Baracke. Sie hieß Anna Lück und litt an offener Drüsentuberkulöse. Schon tagelang hatte ich die Kranke im Block behalten und verhindert, daß sie ins Revier ging, weil ihr dort der Tod durch Injektion drohte. Aber der SS-Arzt hatte sie bereits vorher bemerkt. Nun gab es nur noch eine Rettung. Ich besprach mit Milena, Anna Lück zu überreden, den Bibelforscherrevers der Gestapo zu unterschreiben. Die Zeugen Jehovas waren gewissermaßen freiwillige Häftlinge. Gaben sie ihre Unterschrift und verpflichteten sie sich dadurch, nicht mehr für die Ziele der Bibelforscher tätig zu sein, entließ man sie noch am gleichen Tag aus dem Lager. Ich ging zum Bett der Kranken, machte ihr die schreckliche Mitteilung, sagte ihr, in welcher Gefahr sie schwebte, und redete ihr zu, sofort aufzustehen, in die Schreibstube zu gehen und den Revers zu unterschreiben.

Sie kleidete sich an. Ich verschwand im Dienstzimmer, damit die im Block anwesenden Bibelforscherinnen des Zimmerdienstes nicht aufmerksam würden und Anna Lück an diesem ,Verrat', wie sie es nannten, hinderten.
Kurze Zeit danach klopfte es an die Tür, und Ella Hempel, ein Häftling vom Zimmerdienst, trat ein. Mit einer Miene voller Abscheu und Leidenschaft stieß sie hervor: "Grete, das hätte ich nie von dir gedacht, daß du im Bunde mit dem Teufel bist! Daß du gemeinsame Sache mit der SS machst! - Du hast Anna Lück geraten, zum Unterschreiben zu gehen. Wie konntest du so etwas tun?!"

In ehrlichem Zorn brüllte ich die Bibelforscherin an: "Ihr wollt Christen sein! ? Und liefert eure Schwester kaltblütig dem Gas aus! ? Ist das Nächstenliebe? Ihr leistet zu Ehren Jehovas einem Mord Vorschub! Kaltherzige Bestien seid ihr!"

Als Milena erfuhr, was geschehen war, bekam sie einen Haßausbruch gegen diese hoffnungslos Verblendeten, und von da ab lebten die Bibelforscherinnen in Angst vor ihr. In dem Gespräch, das ich mit Milena nach diesem traurigen Ereignis führte, als wir uns über die Unduldsamkeit der Bibelforscher, über ihre Beziehungslosigkeit zu allen jenen, die nicht zu ihrer Sekte gehörten, klar wurden, und auch über ihre Feigheit, wenn man eine wirkliche christliche Tat von ihnen erwartete, stellten wir eine auffallende Ähnlichkeit in der Geisteshaltung der Bibelforscher und der Kommunisten fest.

Die einen eiferten zu Ehren Jehovas, die anderen zu Ehren Stalins.
Die einen forschten heimlich in der Bibel und stellten deren Inhalt solange auf den Kopf, bis er sich zu ihren gewünschten Prophezeiungen umbiegen ließ. Die anderen hielten an Hand von Nazizeitungen heimlich Schulungskurse ab, machten dabei aus schwarz weiß oder, besser gesagt, rot und entnahmen den Nachrichten das, was sie wünschten, nämlich eine Bestätigung vom baldigen Ausbruch der kommunistischen Revolution.

Milenas Vergleich zwischen Kommunisten und Bibelforschern kam einigen "Politischen" zu Ohren und auch den tschechischen Kommunistinnen, was deren Haß auf Milena noch steigerte. ...
Lange danach hörte man, daß bei Paleckovä Zeichen von Geistesverwirrung zu bemerken waren. In diesem Zustand drehten sich ihre Äußerungen mehrmals um Milenas Vergleich zwischen Kommunisten und Bibelforschern. Das beschäftigte sie. Als man sich in der Baracke der ,alten' Politischen über Paleckoväs Zustand klar wurde, versuchte man, sie mit allen Mitteln vor einer Einlieferung ins Krankenrevier zu schützen. Denn Geisteskranke wurden getötet. Trotzdem gelang es den kommunistischen Häftlingen nicht, sie zu retten. Bei dem Versuch, ihr heimlich eine beruhigende Injektion zu geben, verfiel sie in Tobsucht.

Der SS-Arzt ließ sie in den Zellenbau bringen. Die dort als Kalfaktoren arbeitenden Bibelforscherinnen erzählten mir, daß ihr Zustand hoffnungslos sei, sie jede Nahrungsaufnahme verweigere und mit verzücktem Gesicht an der Wand stehe und rufe: "Stalin, ich liebe dich!" Nach zwei Wochen holten Häftlinge des Krankenreviers die zu einem Skelett abgemagerte Leiche der Paleckovä aus der Zelle,

Im Krankenrevier arbeiteten viele Kommunistinnen. Täglich und stündlich mußte Milena ihre Gespräche mit anhören. Schon der kommunistische Jargon brachte sie in Harnisch, und sie konnte nicht schweigen. Sie hatte eine tiefe Abneigung gegen die Diskrepanz zwischen Worten und Taten, immer wieder polemisierte sie gegen das verlogene Gerede von Kollektivismus, proletarischer Demokratie, sozialistischer Freiheit und gegen den Wust der unverdauten marxistisch-leninistischen Pseudoideologie. Besonders erregte sie das soziale Getue und das kindische Kollektivgespiele. Milena sagte, daß diese Frauen im Grunde ihres Herzens so unsozial eingestellt wären, wie man sich nur vorstellen könnte. Am meisten empörte sie die unterschiedliche Behandlung der Kranken.

Da wurde nicht gefragt: hast du Schmerzen oder Fieber, sondern: bist du in der Kommunistischen Partei oder nicht. Man machte Unterschiede zwischen den "wertvollen Menschen", nämlich den "Genossinnen", für die man alles tat, die gerettet werden mußten, und der großen Masse der anderen, der "Wertlosen", um die man sich nicht kümmerte. Milenas Gerechtigkeitsgefühl bäumte sich dagegen auf, und grob sagte sie den Kommunistinnen die Wahrheit ins Gesicht. ...

Alle Kommunisten sind Wunschdenker, doch erst in der Haft gab es für ihre Illusionen keine Grenzen mehr. Daß Hitler durch eine Revolution gestürzt würde, war für sie selbstverständlich, und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Deutschland wuchs, nach Meinung der Kommunistinnen, von Monat zu Monat. Beim Ausbruch des Krieges gegen Rußland ergriff alle politischen Häftlinge, nicht nur die Kommunisten, prosowjetische Begeisterung, sie gaben sich dem größten Optimismus hin. Es gab keine Zweifel, daß die Rote Armee siegen, das Hitlerreich in kurzer Zeit zerschlagen sein würde und für uns die Stunde der Befreiung käme.

Milena hielt mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg. Sie widerstand dem allgemeinen Freudentaumel, denn sie konnte kompromißlos denken und schreckte nicht vor schmerzlichen Erkenntnissen zurück. Sie war ein Mensch mit politischem Weitblick und sagte voraus, Furchtbares würde geschehen, wenn die Sowjetrussen Europa überrennen sollten. Sie sprach offen zu jedem, der es hören wollte, daß der Westen dem Sieger Stalin alle früheren Verbrechen verzeihen und ihm damit freie Hand für weitere Untaten geben würde. Nationalsozialismus und Kommunismus seien Holz vom gleichen Stamm. Damals, in ihrem verfrühten Siegesrausch, verbreiteten die Kommunistinnen im Lager, Milena Jesenska und Buber-Neumann würden nach der Befreiung durch die Rote Armee an die Wand gestellt. ...

Buber-Neumann

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