Re: Bei Aigners klingeln keine Zeugen Jehovas mehr


Rund ums Thema Zeugen Jehovas

Geschrieben von anonym am 23. November 2005 23:30:11:

Als Antwort auf: Bei Aigners klingeln keine Zeugen Jehovas mehr geschrieben von Drahbeck am 23. November 2005 07:52:30:

Ich selber saß als Kind im Nachkriegsdeutschland in einem nassen kleinen Fensterlosen Keller eines Einfamilienhäuschens auf den Kellerstufen.
Unserer Versammlung.
Ein Holz-Böller-Ofen heizte den kleinen Kellerraum mit vielleicht 20 Holzklappstühlen.
Bei der richtigen Wetterlage verpuffte oder qualmte er mehr in den Kellerraum als das er heizte.
Das Einfamilienhäuschen gehörte einem Ehepaar deren Mann aus der Russischen Gefangenschaft gekommen war.
Streng, das wenige Haar militärisch exakt nach rechts gekämmt, die kahlen stellen erfolglos verdeckend.

Bitte nicht Falsch verstehen.
Die Zeit war herrlich, leicht, romantisch, spannend.
Ich habe heute noch den klang der Königreichslieder die wir dort im Keller gesungen haben im Ohr:

„Fest und entschlossen in dieser letzten Zeit.
stehn Gottes Gesandte, zum Streit für ihn bereit.
Er lehrte sie kämpfen und siegen –
Er lehrte sie kämpfen und siegen“

Was in dem Bericht nur zwischen den Zeilen erzählt wurde, war, dass Bruder Aigner aus einfachsten Verhältnissen kommend, auf einmal selber der so geachtete Geistliche war, auf den er als Kind aufsah.
Diese Habenichtse die sich in der Gesellschaft an der untersten Stufe sahen, waren in der Versammlung wer.

Er erzählt von seiner Königreichdienst Schule.
Am Ende der Schule trafen sich die Kursteilnehmer draußen auf einer Treppe im Wiesbadener Bethel zum Gruppenfoto.
Er stand neben den anderen 20 / 25 jährigen die selber Flüchtlinge waren, aus KZ entlassene Häftlinge, traumatisierte Soldaten, junge Burschen die ihre Kindheit in den Luftschutzbunkern verbracht hatten, gesundheitlich angeschlagen durch die einseitige Ernährung oder Hunger.
Ihr Lehrer war vielleicht Bruder Tempelton aus Amerika.
Da stehen sie also in ihren Anzügen - jetzt waren sie jemand – sie waren die Elite

und

sie bekamen Macht.

So mancher der jungen Brüder die hier in den Fotoapparat lächelten machten die Kariere in der Wachtturmgesellschaft zu ihrem Lebensinhalt.
Unter Ihren Fotos schrieben Sie zum Beispiel „meine Welt“.

Dann wurden in Viehhallen Kreiskongresse Organisiert.
Im Winter wurde mit dem Schlitten die gute Wohnzimmer Couch für die Bühne zur Halle gezogen.
In Scheunen wurde das Kongress Inventar gelagert.
Aus nichts machte man ein Fest für Jehova.

Kalt war’s, zugig war’s – schön war’s.
Kein noch so perfekt organisierter Kongress kommt heute nur im Entferntesten an die zu Herzen gehenden Kongresse der damaligen Zeit heran.

Dann Bezirkskongress 1953 / 55.

Die jungen Leute heute machen sich ja keine Vorstellung davon was für einen Aufwand für den Kongress „Triumphierendes Königreich“ auf der Nürnberger Zeppelin Wiese betrieben wurde.

Manche haben Tennisbälle gesammelt um sich die Pfennige für die Eisenbahnfahrt zusammen zu sparen.

Unter den Säulen der Aufmarschhalle Hitlers wurde eine riesige Bühne gezimmert.
Die Zuhörertribünen wurden von Unkraut befreit.
Als Bühnendekoration war in der Mitte der Säulen eine riesige Hand die das Zepter unseres Königs hielt.
Unterkünfte mussten Organisiert werden, Zelte zur Verpflegung, Zelte für Tonbandaufnahmen, Sanitär Anlagen.
Allein die Riesigen Toilettenanlagenzelte mit den Abflussrohren die in Erde gegraben wurden. Die Schüsseln dicht and dicht jede nur Abgetrennt durch Kartoffelsack- Leinen.
Eine riesige Zeltstadt wurde errichtet, mit Feuerwehr, Straßennamen, Läden, Postamt mit Telefon und den bis heute unvermeidlichen Ordnern (ohne diesen so manches Flüssiger laufen würde ;-) ).
Ein Ausmaß das Deutschlandweit für Aufsehen sorgte.

Und dann:

Kongress - nachts - unter freiem Himmel - im Dunkeln!

Das Programm ging offiziell bis 21.00 Uhr
Aber niemand schaute auf die Uhr und wollte dass sie Pünktlich aufhören sollten.
Und jetzt stehen über 50.000, am Ende des Tages, bei beleuchteter Bühne, unter dem Sternenhimmel, an dem warmen Sommerabend, auf und Singen zusammen das Lied:

„Die Himmel rühmen Jehovas Herrlichkeit
Die Werke seiner Hände überall wir sehen
Ein Tag sagt es dem anderen Tag
Und eine Nacht der anderen hilft seine Macht verstehen“

Vor kurzen stand ich wieder auf den verwilderten Tribünen der Zeppelinweise.
Ich bildete mir ein das Echo der Lautsprecher noch zu hören.

Ein Tipp unter Klosterschülern.
Das erste Nachkriegsliederbuch wurde nach 16 Jahren ersetzt.
Das rosa Liederbuch wurde nach 18 Jahren ersetzt.
Des jetzige besteht schon über 20 Jahre.
Für manche ist es zwar immer noch das „neue“ Liederbuch es stammt allerdings noch aus der „nicht vergehenden Generation“ Zeit...

Aber zurück zu den jungen Brüdern die zum Gruppenfoto auf der Treppe in Wiesbaden stehen.
So mancher der jungen Brüder die hier in den Fotoapparat lächelten, denunzierten später ihre eigenen Kinder in dem unerbittlichen Vertrauen zu ihrer Mutter – der Wachtturm Gesellschaft.

So manchem der jungen Brüder die hier in den Fotoapparat lächelten wurde später ihr Rückrad gebrochen als sie erleben mussten dass sie selber Opfer eines Komitee-Angriffes wurden.

Hier zerbrach dann eine Welt.
Wurde Vertrauen erschüttert das sich nie wieder kitten ließ.
Man erwartete das Gott innerhalb seiner Organisation kein Unrecht zulassen würde.
Man erwartete dass Ihr bedingungsloser Einsatz wenigstens mit Respekt honoriert würde.
Diese Erwartungen wurden bitter enttäuscht.

Dies steht in dem Bericht von Bruder Aigner nur zwischen den Zeilen.

Ich möchte hier aber nicht nur die Sichtweise der Brüder beleuchten.

Ich möchte hier die Erfahrung der Schwester L. erzählen.

Sie ließ sich 1925 in Dresden taufen.
Damals besuchten in Dresden 1309 Personen das Gedächtnismahl.
Das war die größte Gruppe Weltweit!
Die zweitgrößte Gruppe lag in London (Tabernakel) mit 1123 Besuchern dann Los Angeles mit 1073 und New York mit 802 (weiß) und 200 (Neger) Besuchern.
Um 1926 herum mieteten die Brüder aus Sachsen Sonderzüge und fuhren in ländliche Gegenden um zu Predigen.
Noch Jahrzehnte nach Kriegsende wurde man im Predigdienst in diesen ländlichen Gegenden auf dieses Ereignis angesprochen.
Unsere Schwester war eine Koryphäe, eine starke eigenwillige Persönlichkeit die immer gerade heraus, mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg hielt.
Nach der Räumung des Magdeburger Bethels wurde in privaten Kellern die Literatur
weiter vervielfältigt.
Zuerst kamen die Wachtürme noch per post aus der Schweiz.
Aber nach und nach wurden die Empfänger dieser Post von der Gestapo ausfindig gemacht und eingesperrt.
Es mussten andere Wege des Transportes gefunden werden.
Unsere Schwester diente über die ganze Zeit des NS Regimes als Kurier.
Sie war zwar wiederholt im Gefängnis, aber immer nur für kurze Zeit und wurde nie gefoltert oder in ein KZ Deportiert.
In Koffern transportierte sie Broschüren, Zeitschriften und Abschriften an vorher vereinbarte Treffpunkte.
Und sie konnte auf dem Rückweg oft Ausgaben des Wachturms nach Dresden bringen.
Von diesen vereinzelten Ausgaben wurden dann Abschriften gefertigt.
Für eine Gruppe die sich in Privatwohnungen oder auch im Freien trafen gab es meist nur eine solche Abschrift.
Diese wurde dann von einer Person studiert und zum Lesen und Antworten von einem zum anderen während des Wachtturmstudiums weitergereicht.
Zum Kriegsende floh die Schwester vor den Russischen Besatzern.
Bei der Frage wohin sie gehen sollte erinnerte sie sich an das Predigen in den ländlichen Gebieten und entschied sich dort hin zu ziehen.
In den Tagen nach Kriegsende war sie dort die erste und einzige Bibelforscherin.
Ihr Mut und ihre Durchsetzungskraft der ihr in der Verfolgungszeit in ihrem Dienst und ihrem Überlebenskampf geholfen hatte wurde ihr in den 50'er und 60'er Jahren des Nachkriegswirtschaftswunderdeutschlands zum Verhängnis.
Ohne das sie sich etwas zu Schulden kommen lies wurde sie von der Gemeinschaft Ausgeschlossen.
Die Brüder sind mit ihrer Willensstärke und ihrem unbändigen Freiheitsdrang nicht zurechtgekommen.
Die Brüder der Nachkriegsgeneration hatten nicht ihren Mut und die Größe sich von einer Frau den Spiegel ihrer eigentlichen Bedeutungslosigkeit vorhalten zu lassen.
Später fiel sie einem Ältesten wegen ihrer klaren und toleranten Lebenseinstellung und der Abneigung gegen jede Art der Obrigkeitshörigkeit auf.
Diesem Ältesten gelang es damals das ihre Verhandlung nach Jahren wegen Verfahrensfehlern wieder aufgewickelt wurde und ihr Gemeinschaftsentzug rückgängig gemacht wurde.
Was jedoch den Nationalsozialisten nicht gelungen war, war den Brüdern gelungen - ihr Rückrad war gebrochen.
Ihr Verhalten war still und zurückgezogen.
In ihrem hohen Alter von 90 Jahren wurde sie auf einem Kreiskongress als am längsten getaufte Schwester dieser ländlichen Gegend interviewt.

Es gab damals Dinge die man heute nicht mehr für möglich hält.

Zum Beispiel wird in dem Bericht erwähnt das man eine Operation zurückhielt weil Harmagedon zum greifen nah war.

Ich hatte das schon Vergessen. Aber es stimmt. Das war Alltag.

Ich bin mal einem älteren Ehepaar gegenüber gesessen die mir zu verstehen gegeben haben das sie traurig sind heute keine Kinder oder Enkel zu haben.
Ein Häuflein Elend saß mir da auf ihrer Couch gegenüber.
Mit ihrem bezahlten Kadett in der Garage.
In ihrem kleinen bezahlten Haus.

Es gab Pfannkuchen.
„Bruder Du brauchst mit dem Zimt nicht sparen“...

Der Bericht von Bruder Aigner endet mit dem Schwarzweiß Fernseher.
Ich könnte mir vorstellen das Bruder Aigner in seinem Bericht das eine oder andere heute Differenzierter darstellen würde.

Er schreibt so im Übertragenen Sinn „weil ich in der Wahrheit war, war ich arm“

Zwei Dinge kann ich von mir nicht behaupten.

Einmal, war die Zeit in der wir unseren Schwarzweisfernseher geschenkt bekommen hatten, im Nachhinein gesehen unsere glücklichste Zeit.
Wir waren jung, verliebt, hatten füreinander Zeit.
Das Leben war unkompliziert.
Jede noch so lächerliche Kleinigkeit war ein Grund zur Dankbarkeit.
Wir waren glücklich und zufrieden.

Wie viele Fernseher oder Plattenspieler, braucht man heute um diese Zufriedenheit zu erreichen?

und zum zweiten, durch Jehova bin ich reich geworden.

Reich weil wir zufrieden mit dem sind, was wir haben.
Zugegeben: Ich habe so manche Krawatte aus den Spendenshop getragen, die ein anderer im Dunkeln zum „auf die Toilette gehen“ nicht tragen würde.

Aber der Begriff „Reich“ läst sich nicht in Zahlen ausdrücken.

Der Begriff Reich ist in Nigeria wo Plastikeimer auf dem Bethelgelände gestohlen werden ein anderer als in Miami.
Obwohl beinahe jeder Südamerikanische Einwanderer in Miami sofort, wenn er könnte, nach Europa kommen würde.

Wir brauchen uns aber nicht unbedingt mit der Sahelzone vergleichen.

Wer, der scheinbar Wohlhabenden heute, würde nicht wesendlich ruhiger schlafen wenn er seine Schulden los wäre.
Wer, der scheinbar Wohlhabenden heute, würde nicht seinen ganzen alternden Besitz sofort aufgeben wenn er nur in Frieden, in einer intakten Familie leben könnte.

Durch Jehova bin ich reich geworden.
Und das nicht nur Platonisch.

Das Ehepaar mag zu recht traurig sein.
Vielleicht mag Bruder Aigner heute noch das Gefühl haben, er hätte materiell etwas verpasst.

Ich glaube aber das es an jedem einzelnen liegt und nicht nur an der Wachtturmgesellschaft.
Wenn das Ehepaar wollte hätte es 10 Kinder in ihrer Versammlung haben können.
Wenn Bruder Aigner wollte, hätte er genug um einem anderen zu geben.

Dann wären beide reich.


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