Re: 1. 10. 1955 (Vor fünfzig Jahren)


Rund ums Thema Zeugen Jehovas

Geschrieben von Drahbeck am 01. Oktober 2005 06:10:05:

Als Antwort auf: Re: 22. 9. 1955 (Vor fünfzig Jahren) geschrieben von Drahbeck am 22. September 2005 08:02:58:

Die 15. Folge der Fortsetzungsserie "Neuzeitliche Geschichte der Zeugen Jehovas" (im "Wachtturm" vom 1. 10. 1955) notiert unter anderem, dass in Deutschland von den Bibelforschern (Zeugen Jehovas) in den Jahren von 1919 bis 1933, 48 Millionen WTG-Bücher und Broschüren abgesetzt wurden. Ferner wurden in Deutschland insgesamt, in diesem Zeitraum 77 Millionen Einzelexemplare der Zeitschrift "Das Goldene Zeitalter" an die Frau respektive an den Mann gebracht.
Insbesondere die Angabe bezüglich des "Goldenen Zeitalters" kann man durchaus beachtlich nennen. Ohne dieses Publikationsorgan hatten die WTG gesteuerten Bibelforscher nie jene Bedeutung erlangt, die sie tatsächlich erreichten.

Man kann das auch an dem Umstand festmachen, dass es bekanntlich in der WTG-Führung beim Machtantritt Rutherford's zu einem Schisma kam, in dessen Konsequenz Rutherford seine Opponenten "achtkantig" aus der WTG-Organisation rausschmiss.
Russells Ursprungserwartungen waren faktisch gescheitert. Rutherfords Kurs (im ersten Weltkrieg) führte zu seiner Inhaftierung. Nachdem sich diese Wogen allmählich wieder geglättet hatten, kann man in gewisser Hinsicht von einer neuen "Stunde Null" sprechen. Auch die Opponenten begannen sich zu organisieren. William Schnell schätzt ein (als Zeitzeuge, in seinem Buch "Dreissig Jahre Sklave des Wachtturms"), das 75% der alten Bibelforscher aus der Russell-Zeit letztlich den Opponenten zugehörig waren. Das Handicap der Opponenten war allerdings, dass es ihnen nicht gelang, ihre Sympathisanten mit "Haut und Haaren" zu vereinnahmen. Da war die Rutherford WTG weitaus erfolgreicher.

Immerhin brachten die Opponenten (auch deutschsprachig vorliegend), es auch zu einer Art "Standardwerk". Herausgegeben von R. E. Streeter offerierten sie eine zweibändige Auslegung über "Die Offenbarung Jesu Christi" (Streeter war schon zu Russells Zeiten einer seiner Kolporteure). Bibelauslegung in "altbewährten" Russell'schen Geleisen, ihr Inhalt. Dann war es ihnen auch noch möglich, eine bis heute noch (in Englisch) erscheinende Zeitschrift herauszugeben ("Der Herold des Königreiches Gottes").
Man vergleiche auch:
http://www.heraldmag.org/

Interessant: Die alten englischsprachigen Jahrgänge (1918 - 1992) sind auf dieser Webseite auch Online zugänglich (weiter unten in dem Link aufgeführt).
http://www.heraldmag.org/past.htm

Ab 1923 gab es davon gar noch einen deutschen Ableger. Die Gebrüder Sadlack zitieren in ihrem WTG-kritischen Buch "Die Verwüstung des Heiligtums" fleißig aus ihr.
Sie meinen dieses Blatt mit den Worten belobigen zu können:

"'Der Herold des Königreiches Christi' (im Deutschen erst seit 1923) offenbart einen guten Geist, der an die alten Wachttürme erinnert. Wir kennen zurzeit keine Zeitschrift, die besser den Geist Christi offenbart und für die Wahrheit eintritt, als diese. Solange sie so bleibt, glauben wir sie jedermann empfehlen zu können. Uns selbst gereicht sie zum großen Segen und, wie uns bekannt, auch vielen anderen."

Dennoch kennt heute kaum noch einer den "Herold des Königreiches Christi". Während man für "Wachtturm" und "Goldenes Zeitalter" der Frühzeit, auch einige (wenn auch nicht vollständige) Nachweise in wissenschaftlichen Bibliotheken eruieren kann, sieht es bezüglich des "Herold des Königreiches Christi" mal ziemlich mau aus. Gerade mal die Jahrgänge 1934 - 1936 haben sich auch in die Deutsche Bücherei Leipzig mit "verirrt".

(Die Deutsche Bücherei vermerkt redaktionell, mit Nr. 5, Juni 1936 erscheinen eingestellt). (Im Privatbesitz. Keine Bibliotheksbestände; lassen sich noch einige weitere Ausgaben davon nachweisen). Deutscher Herausgeber war Samuel Lauper, ein früher Aktivist der Russell-Bewegung. Herausgegeben in der Schweiz. Aber noch in der eben genannten letzten Ausgabe, findet man die Angabe (auch) eines Stuttgarter Girokonto für den Bezug in Deutschland.

Das Blatt war also von dem Nazi-Zeugen Jehovas-Verbot nicht direkt tangiert. Wozu auch kein sonderlicher Anlass bestand. Man beschränkte sich ja auf das "Biblische".
Demgegenüber steht der Umstand, dass die Deutsche Bücherei, zeitgenössisch, auch dieses Blatt ihrer berüchtigten Sperrabteilung zuordnete ("Sachgebiet für spezielle Forschungsliteratur"). Dieses Schicksal traf aber noch in weit größerem Umfange auch noch andere Literatur, welche die Deutsche Bücherei, als Gesamtarchiv deutschen Schrifttums weiter sammeln konnte. Auch dann sammeln konnte, wenn ihr Inhalt die Nazis "auf die Bäume brachte". Dann wurde es eben der Sperrabteilung zugeordnet. Und damit war das Problem ausgestanden.

Eine frühe Ausgabe des "Herold ..."

Wenn die Deutsche Bücherei eben für Mitte 1936 eine Erscheinungseinstellung registrierte, dann darf man das in erster Linie als wirtschaftlich bedingt beurteilen. Auch in der Schweiz war zu diesem Zeitpunkt die wirtschaftliche Decke für dieses Zeitschriftenprojekt, einfach nicht mehr tragfähig genug. Damit ist offenkundig, wer im Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel (WTG-Hörige und WTG-Opponenten) letztendlich den längeren Atem hatte.

Die WTG-Opponenten beschränkten sich auf das ihrer Meinung nach "streng biblische".
Auch Dietrich Hellmund kommentiert in seiner 1972 erschienenen ZJ-bezüglichen Dissertation:
"Hier können wir nochmals Bilanz machen. Das endgültige Schicksal 'der' Opposition ist Selbstzerfleischung. Letzlich ging der Gegnerschaft Rutherfords eine echte Führerpersönlichkeit ab.Rutherfords Gegenspieler waren kleine Geister und konnten den überlegenen Taktiker Rutherford nicht in Gefahr bringen. Man mag über den Menschen Rutherford sehr verschieden denken und sehr kritisch. Aber über seine Führereigenschaften ist nur ein Urteil möglich: Vorzüglich."

Einen Aspekt allerdings, der ergänzend zu der Hellmund'schen (im Prinzip richtigen) Aussage noch genannt werden muss, ist eben auch der Rutherford Coup mit dem "Goldenen Zeitalter".
War es doch zugleich auch eine Zeitschrift (mit - aber nicht nur) politischer Komponente. Vermochten konservative "Bibelauslegungen" nur relativ wenige "hinterm Ofen vorzulocken". So sah es beim "Goldenen Zeitalter", mit seiner auch Politik-Tendenz, schon erheblich anders aus. Auch die genannten Vertriebszahlen sprechen dafür.

Ein vergleichbares Pedant hatte die WTG-Opposition einfach nicht im Programm. Und damit war und ist dieser Wettkampf entschieden. Die Zeugen Jehovas sind nur das, was sie heute sind, weil sie über ihre Medienlinie "Goldenes Zeitalter", "Trost", "Erwachet!", stets auch verbrämte Politikelemente mit ins Spiel brachten.

In diesem Kontext (das nur nebenbei) wird man aus der rückschauenden historischen Sicht, der Reduzierung ihres "Erwachet!" ab Anfang nächsten Jahres, auf eine monatliche Ausgabe, auch noch einen gewissen Stellenwert zuordnen können. Aber das den WTG-Appartschicks, etwa im Vergleich zu ihrem Buch aus den fünfziger Jahre "Dein Wille geschehe", schon seit geraumer Zeit, namentlich in der nach 1975-Ära, die "zündenden" Ideen ausgegangen sind, hatte man schon des längeren registriert.

Um auf die Fortsetzungsserie "Neuzeitliche Geschichte der Zeugen Jehovas" zurückzukommen. In der genannten Folge davon, findet man auch ein Dokument wieder, das mit zu den "Lieblingszitaten" der Zeugen Jehovas gehört, wenn sie heutzutage, auf die Zeit 1933-45 zu sprechen kommen. Auch dieses Dokument offenbart eines. Den letztlich politischen Charakter der Zeugen Jehovas (Politik in vermeintlich biblischer Verbrämung). Es wurde von der WTG in späteren Jahren eigentlich nie mehr im vollen Wortlaut zitiert, der in dieser WT-Ausgabe aber noch offeriert wurde. Und so sei denn, und damit mag diese Betrachtung enden, auch an dieser Stelle, dieses Dokument, in seinem vollen Wortlaut (unkommentiert) dokumentiert:

Nachstehend folgt der unverkürzte Text eines beeidigten Berichts, der am 12. November 1947 von Karl R. A. Wittig unterzeichnet wurde. Dieser arbeitete im Jahre 1934 für die damalige deutsche Regierung und war gerade anwesend, als Hitler von Dr. Frick von den Protesttelegrammen der Zeugen Jehovas unterrichtet wurde. Der Text des beeidigten Berichts lautet wie folgt:

"ERKLÄRUNG - Am 7. Oktober 1934 suchte ich in meiner Eigenschaft als damaliger Bevollmächtigter General Ludendorffs nach vorausgegangener Aufforderung den damaligen Reichs- und Preußischen Minister des Innern, Dr. Wilhelm Frick, im seinerzeitigen Reichsministerium des Innern in Berlin, Am Königsplatz 6, auf, um von letzterem Mitteilungen entgegenzunehmen, die den Versuch enthielten, General Ludendorff zur Aufgabe eines ablehnenden Standpunktes dem nationalsozialistischen Regime gegenüber zu bewegen. Während meiner Unterredung mit Dr. Frick erschien plötzlich Hitler und beteiligte sich an den Verhandlungen. Als unser Gespräch zwangsläufig auch das bisherige Vorgehen des nationalsozialistischen Regimes gegen die Internationale Bibelforscher-Vereinigung [Jehovas Zeugen] in Deutschland streifte, legte Dr. Frick Hitler eine Reihe aus dem Auslande eingelaufener Protestttelegramme gegen die Verfolgung der Bibelforscher im 'Dritten Reich' mit folgendem Bemerken vor: 'wenn sich die Bibelforscher nicht gleichschalten, dann werden wir sie mit den schärfsten Mitteln anfassen', worauf Hitler aufsprang, seine Hände zusammenballte, sie erhob und hysterisch schrie: 'Diese Brut wird aus Deutschland ausgerottet werden!' Vier Jahre nach dieser Unterredung habe ich mich während meiner sieben Jahre dauernden zweiten Schutzhaft, die bis zu meiner Befreiung durch die Alliierten anhielt, in der Hölle der nationalsozialistischen Konzentrationslager Sachsenhausen, Flössenburg und Mauthausen aus eigener Anschauung davon überzeugen können, daß es sich bei dem Wutausbruch Hitlers um keine leere Drohung gehandelt hat, denn keine Häftlingskategorie ist in den genannten Konzentrationslagern dem Sadismus der SS-Soldateska in einer solchen Weise ausgesetzt gewesen, wie die Bibelforscher; ein Sadismus, der durch eine derartige nicht abreißende Kette physischer und seelischer Quälereien gekennzeichnet war, die keine Sprache der Welt wiederzugeben imstande ist.
Frankfurt am Main, den 12. November 1947
Wehrheimer Straße 9 [gez.] Karl R. A. Wittig
Urkundenrolle Nummer 778 Jahr 1947
Die auf der Vorderseite befindliche Unterschrift des Schriftstellers Karl Wittig, wohnhaft zu Frankfurt am Main, Wehrheimer Straße 9, wird hiermit beglaubigt.
Frankfurt am Main, den 13. November 1947
[gez.] Ludwig, Notar
[Stempel] Otto Ludwig, Notar in Frankfurt am Main."


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