Annotationen zu den Zeugen Jehovas
Marko Martin
In
der seinerzeitigen "Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in der DDR" (jetzt:
in Deutschland) gab es dem Titel nach auch einen Präsidenten. Wenn Rutherford,
Knorr, Franz, Henschel usw. sich so nannten und auch der Deutsche Willi P. diesen Titel führt, dann
wollte der Betreffende es Ihnen wohl gleichtun. Also ward auch er Präsident.
Kurz nachdem die letzte DDR-Regierung
die Zeugen Jehovas neu anerkannt hatte, war zwar nur von einem Koordinator die Rede.
Allein dies scheint den handverlesenen Herren der "Religionsgemeinschaft der Zeugen
Jehovas in der DDR" aus der lediglich einer wieder ausgeschieden ist ( mehr
unfreiwillig: Hermann Laube alias "Hans Voss") nicht klangvoll genug gewesen zu
sein.
Präsident Helmut Martin ist wie auch
viele andere verheiratet. Rutherfords Empfehlung mit dem "Heiraten bis nach
Harmagedon zu warten", hat er offenbar nicht mehr so richtig mitbekommen, oder nie
ernst genommen, oder sich schlicht einfach dem "Heiratsboom" von Knorr
angeschlossen, als der 1950 die Rutherford-These für sich zum alten Eisen legte.
Der Sohn des späteren Präsidenten
Martin lernte die harte DDR-Wirklichkeit kennen. Im Zusammenhang mit der
Wehrdienstproblematik landete auch er in DDR-Gefängnissen. Dies war jedoch noch nicht die
Endstation seines Lebensweges. Aber da der Sohn von Präsident Martin sich dazu nicht
selbst geäußert hat, will ich hier nicht weiter spekulieren.
Wie auch in anderen Familien üblich,
wurde Präsident Martin eines Tages auch zum Opa "befördert". Der
hoffnungsvolle Enkelsohn wuchs heran und sammelte auch so seine Lebenserfahrungen. Er
ließ es nicht nur beim "sammeln" bewenden. Er ging einen Schritt weiter und
handelte.
Er handelte in einer Art und Weise,
die weder dem Koordinator Martin, noch dem DDR-Staat eigentlich recht war. Er nahm sich
die Freiheit den DDR-Staat zu verlassen und dass zu einem Zeitpunkt, wo dessen Grenzen
durchaus noch nicht offen waren. Man kann sich vergegenwärtigen, dass damit ein gewisses
Risiko und auch persönlicher Mut verbunden war.
Da es zwar etliche waren, die zu jener
Zeit schon den DDR-Staat verließen; andererseits aber nun doch noch nicht so übermäßig
viele, hatte das für den Enkelsohn Marko Martin auch noch die "kleine"
Nebenwirkung, dass politische Institutionen der alten Bundesrepublik sich seiner annahmen
und ihn im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch förderten. Hatte der DDR-Staat ihm auch eine
reguläre Berufsausbildung versagt, so bekam er in der alten BRD dann doch noch seine
Chance.
Auf den Fall Marko Martin bin ich erst
durch einen in der Tagespresse vorangekündigten Radio-Essay letzteren, im Berliner
Rundfunksender SFB 3 aufmerksam geworden, den er den Titel gab: "Zwischen Harmagedon
und Babylon". An anderer Stelle hatte ich das schon mal notiert:
"Kernthese von Marko Martin war
darin die Feststellung, dass es ihm nicht schwer gefallen sei, die' politische und
religiöse DDR zu verlassen'. Wobei er mit letzterem die Zeugen Jehovas meinte, deren
Thesen für ihn persönlich zur Folge hatte, dass er in der DDR keine ordentliche
Berufsausbildung abschließend absolvieren konnte. Seinen Großvater charakterisiert er
darin als eine autoritäre Persönlichkeit, der sich regende Zweifel an der Richtigkeit
der Zeugenlehre bei seinem Sohn und seinem Enkel rigoros abwiegelte ohne sich mit ihnen
inhaltlich auseinanderzusetzen."
Birgit Zscheile zitiert in ihrer 1997
abgeschlossenen Diplomarbeit mit dem Titel "Der Einfluss von Sekten - insbesondere
auf Kinder und Jugendliche - am Beispiel der 'Zeugen Jehovas' in den neuen
Bundesländern" einen weiteren Bericht des Marko Martin welcher in der Ausgabe vom 4.
1. 1996 der (seinerzeitigen) Zeitschrift "Wochenpost" veröffentlicht wurde. Er
sei auch hier einmal zitiert:
"Das Kind aber hört aufmerksam
zu und nimmt den Wahn für bare Münze. Das Kind ist vielleicht sechs oder sieben Jahre
alt, es lebte in der tiefsten DDR-Provinz in einer Familie von Zeugen Jehovas, und dieses
Kind war ich.
Während andere Kinder im
Westfernsehen die Biene Maja sahen, erblickte ich die große Hure Babylon. Besoffen und
bedrohlich saß sie auf dem scharlachfarbenen Pferd, aufdringlich im Vierfarbendruck der
Zeitschriften 'Erwachet!' und 'Wachtturm', die uns jede Woche auf verschlungenen Wegen in
der DDR erreichten.
Die Religionsgemeinschaft der Zeugen
Jehovas war in allen sozialistischen Ländern (und dazu noch in einigen afrikanischen
Diktaturen) verboten, was zweifellos für sie sprach. Zeugen Jehovas verweigerten den
Kriegsdienst, starben für ihre Überzeugungen in Hitlers KZs und Stalins GULAGs;
Überlebende der Nazi-Zeit wurden nicht selten unter Ulbricht und Honecker ein zweites Mal
eingekerkert. Das war der heroische Aspekt, der mir bis heute imponiert.
Die andere
Seite aber war penetrante Selbstgenügsamkeit, ein sanfter Wahnsinn, der vorgab, die Welt
genau zu deuten. Und ich deutete nach den Vorgaben der Sekte fleißig mit.
Auf die vorgestanzten Fragen in den
Traktaten gab ich vorgestanzte Antworten.
Großes Weltgericht, kleine DDR. Man
versammelte sich zu den wöchentlichen Zusammenkünften in Privatwohnungen, die zur
Sicherheit regelmäßig gewechselt wurden.
In osttypischen Einkaufsbeuteln hatte
man die Bibel (in der offiziellen Übersetzung der Zeugen Jehovas) und die Traktathefte
mitgebracht, die 'geistige Speise' genannt wurden.
Es dauerte Jahre, bis ich die
Ähnlichkeit des DDR-Miefs mit der Abgeschlossenheit der Sekte begriff. Schließlich
schützte die Absonderung auch. Ich trug weder Halstücher der Pioniere noch blaue FDJ
Hemden. Weshalb auch an Nachmittagen Panzer malen und Grüße an 'unsere Soldaten der
Grenztruppen' schicken, wenn in diesem Staat mein Vater als Kriegsdienstverweigerer im
Gefängnis gewesen war? Das ging mir näher als alles Leid der biblischen Propheten
zusammen: der Vater, 23 Jahre alt, drei Wochen nach meiner Geburt mit Handschellen
abgeholt, das leichte Sichabwenden der freundlichen Nachbarn, das heimlich in den Knast
geschmuggelte Foto des Kindes, die nicht endenden Geschichten über brutale Schließer,
schließlich die verdeckten Hausdurchsuchungen der Stasi während unserer Ostsee-Urlaube.
Da entstand eine Resistenz die
stärker war als das zwischen Nörgeln und Mittun wankende Verhalten einiger meiner
Mitschüler, die nachmittags in der 'Jungen Gemeinde' belehrt wurden. Protestantische
Zerknirschtheit, die im Zweifelsfall doch den geförderten Kotau beging oder rigide
Ablehnung aller staatlichen Lügen? Die Antwort war einfach. Schön, wenn dieser Staat
untergehen wurde - aber musste es denn gleich die ganze Welt sein?
Je älter ich wurde, desto größer
wurde auch dieser Widerspruch. Was verband mich mit den Zeugen Jehovas außer ihrem
passiven Widerstand gegenüber einer Diktatur? Gefühle, Fragen, Stimmungen, vorerst nicht
mehr.
Ich war ein äußerst ängstliches
Kind.
Ich war auf die Vielfalt menschlicher Existenz denkbar schlecht vorbereitet.
Die Geburtstags- und Weihnachtsfeiern waren tabu, und die zu Fasching verkleideten Kinder
in unserer Straße jagten mir Angstschauer über den Rücken.
Wenn sie im Februar über die
verschneiten Straßen auf das Haus unserer Familie zuschlitterten, wurden die Türen
verschlossen, und ich betete, dass ihr fröhliches Klopfen und Klingeln doch endlich ein
Ende nehmen möge. 'Das sind die Kinder von Weltmenschen', sagte man in der Familie
abwertend.
Aber das Wort 'Weltmensch' - für die
Zeugen Jehovas Inbegriff aller vom Teufel geleiteten Existenz - begann in meiner
Vorstellung zu leuchten. Mitschüler, die mir ihre zerlesenen Walt-Disney-Hefte, die sie
von Westverwandten geschickt bekamen, ausborgten oder mir den Zauber des Fernsehens
eröffneten: 'Raumschiff Enterprise' oder 'Disko' in der ARD mit Ilja Richter. Das war
lange vor jeder Pubertät, Ende der siebziger Jahre, als die Disko-Welle begann.
Irgendwann drehte dann auch ich an meinem alten Radio, suchte RIAS Berlin auf der grün
leuchtenden Skala und fand eine mir bislang vorenthaltende Welt.
Jeden Freitag Abend die 'Schlager der
Woche', Boney M - und das ausgerechnet mit 'By the River of Babylon'! - monatelang auf
Platz 1. Was für eine Offenbarung! Irgendwo wurde das live gesungen, drehten sich
Glaskugeln, funkelten Lichtorgeln, tanzten verliebte Menschen oder sahen sich in die Augen
beim Klang der BeeGees. Langsam begann ich, allen 'himmlischen Jerusalems' verloren zu
gehen, begann eine lange Revolte, die nicht theoretisch, eher sinnlich begründet war.
Als ich fünfzehn Jahre alt war, wurde
mein Vater vom strikt organisationstreuen Jehova zum verstoßenen Dissidenten. Die
Weisheit Salomons oder das kritiklose Nachbeten jeder neuen religionsinternen Anweisung -
wer da zögerte, machte in spießig eingerichteten DDR-Wohnzimmern eine unschätzbare
Jahrhunderterfahrung:
Überzeugungsgespräche mit besorgten
'reifen Brüdern', traurige Mienen angesichts des Zweiflers, dann Drohungen, der sofortige
Verlust aller Ämter und Rufmord. Mitgläubige schließlich, die sich von meinem Vater
abwandten oder solche, die ihn heimlich besuchten und Gottes Segen wünschten. All das
hatte ich erlebt: erhitzte Küchendiskussionen bis spät nach Mitternacht, wo man sich
darüber stritt, ob es nur der Fanatismus einzelner Funktionäre oder nicht doch die
Struktur der ganzen Organisation sei, die keine Luft mehr zum Atmen lasse.
Und weshalb wurde der Weltuntergang
immer wieder verschoben, 1914, 1975? 'Aber wir sind doch trotzdem loyale Christen', sagten
die einen, 'aber wir wollen doch die Arbeiterklasse nicht verraten', beteuerten die
anderen. Zwei Systeme, die sich überschneiden. Zwang, Tragik, Verklemmung, falsche Treue.
Und irgendwo lockte das heterogene Durcheinander der diesseitigen Welt - lockte Babylon.
Die Zeugen Jehovas hatte ich mit sechzehn Jahren dann ohne Blessuren hinter mir gelassen,
eine religiöse Mini-DDR, genauso dumpf wie der Staat da draußen."
Exkurs:
Geschrieben von Onkel Franz am 14. August 2001 23:19:31:
Irgendwo auf dieser Seite findet man Informationen zu diesem Spezi.
Keine Ahnung, was er heute so treibt. Sein Vater ist ein absoluter Hardliner - gewesen.
Das hat sich stark gewandelt. Inzwischen lebt er irgendwo in der Nähe von Konstanz.
Verbindungen zu den "alten" M.s, also Helmut Martin und Frau, stehen unter einem
seltsamen Vorzeichen: Die Mutter von Wolfram M. glaubt bis heute, daß ihr Sohn nach wie
vor ZJ ist. Dabei haben Wolfram und Christine M. schon seit Jahren keine Treffen der ZJ
mehr besucht. Die Mutter lebt in einer Scheinwelt, die Illusion bewahrt sie vor dem
Wahnsinn.
Geschrieben von Drahbeck am 15. August 2001 04:25:55:
Als Antwort auf: Marko Martin geschrieben von Onkel Franz am 14. August 2001 23:19:31:
Wenn ich den seinerzeitigen Artikel von Marko Martin in der "Wochenpost", der
sachlich dem entsprechenden Bericht auf der Webseite zugrunde liegt, richtig gelesen habe,
deutet er an, dass sein Vater (der Sohn des ZJ-Koordinator Helmut Martin) wohl auch den
Zeugen ade gesagt hat. Nur, er spricht in diesem Artikel nur über sich (Enkelsohn des
Helmut Martin). Nicht über Details, seinen Vater betreffend.
Marko Martin, der noch vor dem DDR-Mauerfall letztere verließ, wurde offenbar von
CDU-nahen Stiftungen gefördert und hat nach seinem Erstlingsbuch "Mit dem Taxi nach
Karthago", sich neuerdings auch als Romanschriftsteller versucht.
www.welt.de/debatte/kommentare/article128135409/Ein-verdammt-gutes-Land-diese-Bundesrepublik.html
Man vergleiche auch: