"Die Jahreswende gab den Propheten auf beiden Seiten des Rheins die Gelegenheit, Franzosen und Deutschen pro 1926 den starken Mann oder wenigstens das diktatorische Regiment vorauszusagen. Man weiß, daß die Bereitschaft dazu in den vergangenen Monaten auch in Frankreich größer wurde. In Paris wie in Berlin ist die Regierungskrisis permanent, die Parlamente aber sprechen, intrigieren, sind ein großes Hindernis, statt eine Hilfe und stehen außerhalb der Nationen, "Wir erleben eine Krisis der Demokratie. Das Bürgertum verzweifelt immer mehr am Parlamentarismus und wendet sich faschistischen Gedankengängen zu-"
so klagen radikale französischen Politiker.
Frankreichs kranke Finanzen sind in der "National-Zeitung" oft genug
dargestellt worden.
Das Land hat 330 Milliarden zum bedeutenden Teil kurzfristige Schulden.
Schon setzt der gewaltige Wirbel der Inflation ein, der allen Wohlstand im
gelobten Land der Kleinrentner verschlingen möchte. In Deutschland hat der
Papiergeldrausch eine Minderheit, wenn auch eine sehr erhebliche,
enteignet und ruiniert. In Frankreich droht die Expropriation der Mehrheit
des Volkes. Die materiellen Voraussetzungen, daß unser von der Natur reich
bedachtes westliches Nachbarland seine Krisis überwände, sind durchaus da.
Aber das Volk mißtraut dem gegenwärtigen politischen Regime und glaubt
nicht mehr, daß dieses Regime und dessen Symbol, das Parlament, der
Parlamentarismus, die Kraft hätten, entscheidend zum Rechten zu sehen. Den
Parlamentarismus ganz überwunden hat besonders die geistige Jugend, deren
Einfluß auf das Leben der Nation sehr viel bedeutender ist, als etwa in
Deutschland, weil diese Jugend ihre Kraft überwiegend aus einer
lebendigen, großen und zwar katholischen Tradition schöpft. Diese
Tradition lehrt die unbedingte Notwendigkeit und Autorität und die Pflicht
zur Disziplin. ...
In Deutschland liegen Millionen hungernd auf der Straße, die
Arbeitslosenziffern übertreffen die Zahlen der vergangenen Woche um
hundert Prozent, aber niemand regiert, der Kanzler kommt von einem beinahe
vierzehntägigem Weihnachtsurlaub aus der Schweiz heim, und die Parteien
des Reichstages beraten immer noch, was für eine Regierung ihren
Sonderwünschen und Spezialisten eventuell genehm wäre. Hier steht das
Parlament erst recht außerhalb der Zeit und der Nation, und die
Entscheidung über das Schicksal dieser Nation wird bestimmt nicht am
Königsplatz zu Berlin getroffen.
Doch wo trifft man sie, wo steht sie wenigstens in Vorbereitung ? Alle
namentlich privaten Berichte aus dem Norden durch Briete und Reisende
melden wieder die "Katastrophmstimmung" und die Beobachtung; "Daß es so
unmöglich weitergehen kann."
Aus den Kreisen rechts erschallt abermals der Ruf nach dem
"Wirtschaftsdiktator" oder dem Diktator schlechthin.
Mächtige Arbeitgeberverbände verlangen vom Reichspräsidenten die Anwendung
des Paragraphen 48 der Verfassung, die Proklamation eines
Ausnahmezustandes, welche im gegenwärtigen Moment von den verzweifelnden
Massen - und zu diesen Massen gehören nicht nur die Arbeiter, sondern bald
das gesamte, noch viel ärger als die Arbeiter drangsalierte Kleinbürgertum
- als schwerste Provokation, als brutalen Schutz der Besitzenden gegen die
Besitzlosen aufgefaßt werden müßte.
Es ist immerhin bemerkenswert, daß sehr entschieden Rechtsgerichte gerade
in Anerkennung dieser Gefahr einer revolutionären Verhetzung nichts vom
Paragraphen 48 wissen wollen. So wendet sich z. B. die "Politische
Wochenschrift" energisch gegen den Versuch, alle Lasten einfach auf die
Arbeiterschaft abzuwälzen und eine Maßregel, welche unter Umständen zum
Wohle des ganzen Volkes, auch der Arbeiter, notwendig werden könne, als
Interessenschutz der Arbeitgeber bei den Arbeitern zu diskreditieren.
Die Sehnsucht der Verzweifelnden nach dem Diktator ist groß, aber auch in
Deutschland fehlt der Mann wahrhaft diktatorischer Art, weil die Gegenwart
nicht am großen und starken Einzigen, sondern nur an der entschlossenen
freiwilligen Vereinbarung zwischen möglichst vielen freien Bürgern
gesunden kann. Den einzig sichtbaren Gewinn an der deutschen Not hat bis
jetzt nur der Kommunismus, der die Taktik der Verunglimpfung und
Beschimpfung aller Andersdenkenden aufgegeben hat und angesichts des
absoluten Versagens der Sozialdemokraten immer mehr Sozialdemokraten, ja
sogar, wie die "Köln. Volkszeitung" beklagt, Christlichsoziale in seine
Kreise zieht. In den Augen der enttäuschten deutschen Massen ist die
kommunistische die einzige bis jetzt noch nicht kompromittierte Partei."
Und als eigenen Kommentar fügt das GZ dann noch ergänzend an:
"Das ist eine richtige Darstellung der Tatsachen, aber ..."
Dieser "aber" mündet dann in die sattsam bekannten eigenen Endzeittheorien ein.