Folgender Bericht fiel mir dazu ein, den
ich in dem Buch: "Auf der Suche nach christlicher Freiheit." von Raymond Franz
S.188-193 las:
"Würde man der Zentrale der Wachtturm-Gesellschaft die Frage stellen, ob
sich alle Mitglieder (...) am Zeugniswerk von Haus zu Haus beteiligen müssen,
wenn sie wahre Zeugen oder sogar wahre Christen sein wollen, bekäme man
wahrscheinlich zu Antwort, das sei kein unabdingbares Erfordernis. ...
Wir haben jedoch schon gesehen, daß Verantwortliche in der Organisation
zugeben, daß es fraglich ist, ob sich die Zeugengemeinde insgesamt tatsächlich
aus freien Stücken an dieser Tätigkeit beteiligt, aus freiem Entschluß und
ohne einen Zwang zu spüren.
Warum wird sie dann aber durchgeführt? Es liegt auf der Hand, daß sie im
Grunde genommen zu einer Gesetzesvorschrift geworden ist, so daß
Nichtteilnahme daran Schuldgefühle erzeugt, ähnlich wie sich ein
praktizierender Katholik schuldig fühlt, wenn er nicht regelmäßig zur Messe
geht. ...
Für die Zeugen hat das "Verkünden der ,guten Botschaft' " nur eine Bedeutung:
Predigtdienst von Tür zu Tür mit der Literatur der Organisation.
Es besteht kaum Zweifel, daß die Mehrzahl der Zeugen Jehovas inzwischen der
Lehre glaubt, diese besondere Methode des Zeugnisgebens von Tür zu Tür sei von
Gott angeordnet, es sei die von Christus und den Aposteln und Jüngern
angewandte Methode und der beste und wirkungsvollste Weg, heutzutage weltweit
die gute Botschaft zu predigen. Wie fest diese Ansicht in vielen Köpfen
steckt, zeigt deutlich die Ausgabe der Zeitschrift Wachtturm vom
1.Februar 1966, in der über die Tätigkeit der Zeugen Jehovas im
kommunistischen China berichtet wird.
Ein Artikel führt die Erlebnisse von Stanley Jones auf, der in diesem Land
Missionar war. Er erzählt, daß nach der kommunistischen Eroberung Schanghais,
wo die Zeugen vor allem tätig waren, ursprünglich die Freiheit bestand, das
Werk fortzuführen. Etwa zwölf Monate später, im Jahre 1951, teilten ihnen die
chinesischen Behörden mit, sie könnten in den Königreichssälen predigen und in
den Wohnungen der Menschen Bibelstudien durchführen, dürften aber nicht von
Haus zu Haus gehen. Die Wachtturm - Missionare, die keine Chinesen waren,
darunter auch Jones, hörten mit dieser Tätigkeit auf. Die chinesischen Zeugen
jedoch gingen weiterhin von Tür zu Tür, und Jones sagt, daß er und die anderen
ausländischen Missionar sich "sehr über ihre Reaktion freuten".
...
Stanley Jones berichtet:
Dann wurde Schwester Nancy [Yuen] vom
Dienst von Haus zu Haus weg zur Polizeiwache
geführt und in Haft behalten. Sie hatte vier Kinder, von denen eines erst ein
Jahr alt war. ...
Diese Schwester wurde vier Jahre in Haft behalten, bevor sie schließlich vor
Gericht gestellt und
verurteilt wurde. ... Eine andere Schwester, eine Lehrerin und gleichfalls
Mutter von vier Kindern, wurde
ebenfalls verhaftet.
Was könnte Mütter von Kleinkindern angesichts der Vorboten wachsender
Gefahr dazu bringen, die schreckliche Aussicht zu riskieren, für eine
unbestimmte Zeit von den Kindern, sogar
von einem einjährigen Baby, getrennt zu sein? Sie wußten, daß die
Missionare diese Tätigkeit eingestellt hatten. Doch sie machten weiter. Warum?
Betrachteten sie und die anderen chinsischen Zeugen die Tür-zuTür-Tätigkeit
als etwas Freiwilliges, als nur einen
von vielen gangbaren Wegen, den
Inhalt der Bibel mit anderen Menschen zu teilen? Oder sahen sie sie als DEN
Weg an, ... , als von Gott vorgeschriebenen Weg, den zu gehen sie verpflichtet
waren? Wenn das zweite zutrifft, warum waren sie dann dieser Meinung? Wer oder
was war der Anlaß, diese Aussicht zu übernehmen?
Vierzehn Jahre nach dem Erscheinen des Artikels über Stanley Jones enthielt
der Wachtturm vom
15.Oktober 1979 einen Bericht aus erster Hand von Nancy Yuen, die nun aus dem
Gefängnis entlassen war. Dieser Artikel bereitete den Weg für einen
Hauptartikel in derselben Ausgabe über die Wichtigkeit der Zeugnistätigkeit
von Haus zu Haus (geschrieben von Lloyd Barry, einem Glied der leitenden
Körperschaft). Nancy Yuen berichtet, was mit ihr geschah und warum:
Anfang 1956 [...] wies [man] uns warnend
darauf hin, daß wir das Predigen einstellen und
unser Wirken auf den Königreichssaal beschränken sollten. Da ich aber glaubte,
dem göttlichen
Predigtauftrag nachkommen zu müssen, beteiligte ich mich auch weiterhin an der
Tätigkeit von
Tür zu Tür. ...
... Die eigentliche Frage ist: Macht der Auftrag Gottes an Christen, die gute
Botschaft zu verbreiten, es ihnen zur Pflicht, dies auf
eine bestimmte Art und Weise zu
tun, indem man nämlich von Tür zu Tür geht? Wird diese Methode in der Schrift
als der vorrangige Weg gelehrt,
die gute Botschaft zu verkündigen; als Markenzeichen der
wahren Jünger Jesu Christi? Nancy Yuen hatte das offenbar geglaubt. Ihre
eigenen Worte zeigen nämlich, daß sie dies als eine Tätigkeit ansah, der sie
,nachkommen mußte'. Die Vertreter der Wachtturm-Gesellschaft sagten nichts,
was ihr oder der anderen Mutter von vier Kindern Grund gegeben hätte, etwas
anderes zu glauben. Daß man sie als Beispiel nahm, um auf einen Artikel
vorzubereiten, in dem ein Glied der Leitenden Körperschaft positiv über das
Zeugnisgeben von Haus zu Haus sprach, läßt sicherlich den Schluß zu, daß man
ihre Haltung für richtig hielt.
Was geschah nun mit Nancy Yuen aufgrund ihres Standpunktes, den sie gewonnen
hatte und von dem sie glaubte, er sei biblisch? Sie berichtet:
Schließlich in der zweiten Hälfte des
Jahres 1956, nachdem ich bereits sechsmal aufgrund
meines Predigens verhaftet worden war, nahm man mich wieder fest, ... .
Diesmal ließ man mich nicht wieder frei.
Ehe sie, ihr Ehemann und die Kinder schließlich wieder in Hongkong als Familie
vereint waren, vergingen
dreiundzwanzig Jahre.Ihre Kinder waren nun nicht mehr klein; es waren
Erwachsene, Ende zwanzig und Anfang dreißig Jahre alt. In den Jahren, die
einen Menschen am meisten prägen, war sie nicht mit ihnen zusammengewesen. Bis
zu ihrem Prozeß war sie zuerst vier Jahre in Haft gehalten worden, sie wurde
dann zu einer Gefängnisstrafe verurteilt und nach einigen Jahren freigelassen.
Sie fing wieder an zu predigen, wurde wieder verhaftet und nochmals
verurteilt. Die Gefängnisstrafen betrugen insgesamt zwanzig Jahre.
...
Nancy Yuen sagte, was sie glaubte:
Damit ich meinem Gott treu bleiben konnte, mußte ich alles aufgeben, sogar meine kleinen Kinder.
Sie glaubte fest daran, daß die Loyalität zu Gott von ihr forderte, trotz
eines Gesetzes von Haus zu Haus zu gehen, das nicht verbot, zu predigen, das
aber verbot, auf diese Art zu
predigen. Ihr Glaube war ganz eindeutig das Ergebnis dessen, was die
Wachtturm-Publikationen lehren. So hieß es im Watchtower vom
1.Juli 1955, Seite 409 [deutsch:Wachtturm, 1.September 1955, Seite
537], in einem Artikel über die Taufe, der ein Jahr vor ihrer Verhaftung
erschien, unter der Überschrift "Erfordernisse":
10 ...Der
Gott
Hingegebene muß gemäß seiner Fähigkeit
von Haus zu Haus Zeugnis geben, so wie es
Christus Jesus und die Apostel taten, ... .
Das führt uns zum eigentlichen Thema zurück: Ist dieser Glaube biblisch?
Wenn ja, dann ist alles Leid im Falle von Nancy Yuen und anderen aus ähnlichen
Gründen zu Recht als Teil des "Leidens für Christus" anzusehen; es ist ein
notwendiges Opfer und eine Konsequenz, ... . In diesem Fall tragen die
Behörden, die solche harten und unterdrückenden Maßnahmen ergriffen haben,
dafür völlig die Verantwortung.
Wenn andererseits die Ansicht, die in Nancy Yuen, der anderen vierfachen
Mutter und den anderen chinesischen Zeugen - wie auch in vielen Zeugen in
weiteren Ländern - genährt wurde, nicht eindeutig
und unmißverständlich in der Bibel gelehrt wird; wenn sie sich aus der
Verfahrensweise einer Organisation aufgrund der Argumentation von Menschen
ergibt, dann kann man eigentlich nur noch die Frage stellen, wie sehr die
Urheber dieser Lehre dafür die Verantwortung tragen.
...
...
...
Man kann auch nicht leugnen, daß viele Zeuginnen geglaubt haben, sie seien
verpflichtet, trotz erheblicher Widerstände ihrer Ehemänner, die keine Zeugen
sind, weiterhin von Tür zu Tür zu gehen, obwohl sie wußten, daß das
Eheprobleme auslösen oder, wie in einigen Fällen vorgekommen, auch zur
Scheidung führen konnte. ..."