Tendenziöse Talmud-Interpretation der WTG

In der Religions- aber auch in der politischen Geschichte, spielte der Hinweis auf den jüdischen Talmud vielfach eine unheilvolle Rolle. Allerlei Gräuelgeschichten waren und sind da im Umlauf. Besonders in Deutschland zur Zeit des Hitlerregimes hatten sie Hochkonjunktur. Ein Hetzblatt wie der "Stürmer" des Julius Streicher lebte förmlich davon. Aber auch andere die sich diesbezüglich etwas "seriöser" gerierten wie etwa Jonak von Freyenwald mit seinem Buch "Jüdische Bekenntnisse ..." wälzten das Thema ungemein aus.

Hinzu kommt, dass wissenschaftliche Ausgabe des Talmud, etwa die Anfang der dreißiger Jahre im "Jüdischen Verlag" erschienene Ausgabe (noch heute ein entsprechendes Standardwerk in größeren wissenschaftlichen Bibliotheken zum Thema); viele Bände im großformatigen Oktavformat umfassen. Wer sich da von vorne bis hinten durchlesen will, der muss viel, sehr viel, Zeit und Energie investieren. Manch einer gibt dann dieses Vorhaben entnervt auf halber Strecke wieder auf (so ist es auch mir ergangen). Die Folge: Keiner hat einen wirklichen Überblick was denn wirklich im Talmud steht. Weitere Folge die antisemitischen Ressentiments leben fort, da keiner sie wirklich an den Originalquellen nachzuvollziehen imstande ist. Wozu aber diese Ressentiments führen, dass wurde nicht zuletzt im Naziregime auf plastische Weise demonstriert. Angesichts der Geschichte im Hitlerregime ist es nicht mehr als wie recht und billig zu fordern, diesbezüglich besondere Sensibilität an den Tag zu legen.

Mit Befremden nimmt man allerdings die Haltung der Zeugen Jehovas zu diesem Punkt zur Kenntnis. So veröffentlichten sie im Jahre 1946 (in Englisch, Deutsch 1951) ein Buch mit dem Titel "Ausgerüstet für jedes gute Werk". Also doch kurz nach Ende des Naziregimes. Was aufgrund der Talmudhetze im Naziregime alles passiert war, dürfte doch wohl diesen WTG Autoren nicht entgangen sein. Dennoch fühlten sie sich bemüßigt, in diesem Buch auch ein Kapitel mit einzufügen, dass überschrieben ist: "Einige Lehren des Talmuds". Nun wird wohl kaum ein Zeuge Jehovas die umfängliche wissenschaftliche Ausgabe des Talmud selbst gelesen haben. Er ist also auf das angewiesen was er dazu durch Hörensagen mitgeteilt bekommt. In diesem Falle eben durch eine WTG-Publikation. Deren Verantwortlichkeit wiegt daher doppelt.
So teilt die WTG ihren Lesern darin die nachfolgenden Gräuelgeschichten mit:

"Die im Talmud enthaltenen Legenden über Jesus sind ausserordentlich lästerlich. Man darf nicht vergessen, dass man den Talmud erst in dem Jahrhundert nach Jesu Erdenleben niederzuschreiben begann, und die Rabbis hatten nach der Dienstzeit Jesu und bis man mit der Niederschrift des Talmud anfing, viele Legenden über Christus Jesus erfunden. Sie bekämpften das Christentum mit allen Mitteln und heckten lästerliche Überlieferungen über Jesus aus, um die Ausbreitung des Christentums aufzuhalten. Sie sind gekennzeichnet durch krasse Arroganz und ruchlose Missachtung der wahren Umstände und Ereignisse. Mit dem zunehmenden Talmud wurden die rabbinischen Sagen weitergeleitet. Es wurden Jesus Christus entwürdigende Namen angehängt.

Ein Jude der den Talmud studiert hat, sich aber dann zum Christentum bekehrte, schrieb einen Bericht über eine dieser Legenden hinsichtlich Jesu. Sie lautet wie folgt:

'Jesus war der uneheliche Sohn Marias. ... Damit die Sache in Vergessenheit gerate, brachte Joseph Maria und das Kind nach Ägypten, von wo sie zurückkehrten, als der Knabe ungefähr zwölf Jahre alt war ... Einer seiner Mitschüler verhöhnte Jesus wegen der Schande seiner Mutter, wodurch er zum ersten Male auf diese Tatsache hingewiesen wurde. Der Jüngling [nun 18 Jahre alt] ging nach Hause und befragte seine Mutter über diese Sache; doch gab sie ihm keine befriedigende Antwort. Bald darauf begann Maria das Abendmahl zu bereiten, und während sie sich über eine Kiste beugte, in der Vorräte aufbewahrt waren, glitt ihr eine Brust aus den Falten ihres losen orientalischen Gewandes und hing über den Rand der Kiste hinab. Ihr Sohn, der das sah, schloss schnell den Deckel der Kiste, setzte sich darauf und erklärte grausam, er werde sie nicht loslassen, bis sie ihm die Wahrheit über seine Herkunft gesagt habe. Durch unerträgliche Schmerzen gepeinigt, musste die arme Frau ihre Schande bekennen.'

In dieser schrecklichen Legende heisst es weiter, Jesus habe bis zu seinem dreissigsten Jahr als Zimmermann gearbeitet und sei dann zum Rabbi an eine der höheren Schulen Jerusalems gewählt worden. Dann sei er eines Tages - so behauptet es die Legende - in das Allerheiligste des Tempels geschlichen und habe das Pergament gestohlen, auf dem der geheime Name Gottes, nämlich Jehova, stand. Die Rabbis behaupteten, dass die Kenntnis der richtigen Aussprache des Namens Gottes übernatürliche Macht verleihe. Im Bericht des jüdischen Schreibers heisst es weiter:
"Kraft dieses Namens, den das gestohlene Pergament enthielt, verrichtete Jesus alle seine Wunder. Nachdem er dieses Zaubermittel in seinen Besitz gebracht hatte, schnitt er seine Wade auf, verbarg das Pergament in der Wunde und nähte die Öffnung wieder zu. Da ihn die ungeheilte Wunde nach dem Zeremonialgesetz unrein machte und dies ihn am Ausüben seiner neuerlangten Macht hinderte, begab er sich vierzig Tage lang in die Wüste. Nach Ablauf dieser Zeit kehrte er nach Jerusalem zurück und begann zu wirken und zu predigen."

Auch die WTG muss angesichts dieser ihrer Legenden-Reproduzierung im Anschluss daran einräumen:

"Kein Wunder, angesichts all dieser Darlegungen, dass sich um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, als man mit dem Druck des Talmuds begann und er von Hebraisten gelesen wurde, große Feindschaft wider die Juden und den Talmud erhob. Die Christen waren empört über die talmudischen Geschichten, die unter den Juden zirkulierten. Die Juden wurden verfolgt, und viele Exemplare des Talmuds wurden gesammelt und verbrannt. Jetzt aber sind diese Legenden und Sagen über Jesus in den neuen, gesäuberten Ausgaben des Talmuds nicht mehr zu finden. Um unablässige Verfolgungen zu verhüten, haben die Rabbis beschlossen, diese Dinge über Christus Jesus nur mündlich weiterzugeben."

Besonders der letzte Teilsatz erweist sich als perfid. Auch die WTG muss zugeben. In den heutigen wissenschaftlichen Talmud-Ausgaben sind die von ihr zitierten Legenden nicht nachweisbar. Sie muss weiter zugeben, die Auswirkungen solcher Legenden waren verhängnisvoll.
Dann aber behauptet sie allen Ernstes, noch heute würden diese Legenden (die wie sie selbst zugeben muss gedruckt heute nicht nachweisbar sind). Sie behauptet also allen Ernstes, diese windigen Legenden würden heute noch durch Rabbis mündlich weitergegeben. Das ist dann ja wohl eine Brunnenvergiftung sondergleichen, dem Streicher'schen "Stürmer" ebenbürtig!

Beweist die WTG ihre These? Nennt sie einen Rabbiner beim Namen der wann und wo, solche Thesen mündlich kolportiert hätte? Antwort: Nein.
Nennt sie einen Rabbiner beim Namen, der solche Thesen gar noch heute in Schriftform verbreitet hätte? Antwort ebenfalls: Nein.
Nennt sie ein Aktenzeichen eines Gerichtsprozesses, die solch abenteuerliche Legenden in der Neuzeit zum Gegenstand gehabt hätten? Antwort ebenfalls: Nein!
Das Urteil lautet also: Die WTG betreibt übelste Stimmungsmache, und das noch unmittelbar nach 1945!

Die Sache sollte noch ein Nachspiel dergestalt haben, dass die WTG in dieser Sache schriftlich kontaktiert wurde, und ihr vorgehalten wird; die von ihr kolportierten Legenden seien in heutigen Ausgaben des Talmud überhaupt nicht nachweisbar. In einer Leserfrage im "Wachtturm" vom 1. 10. 1951 muss die WTG darauf eingehen. Sie muss erneut zugeben: Heutige Talmud-Ausgaben enthalten diese Aussagen nicht. Als Quelle verweist sie aber auf ein nur 96 Seiten umfassendes (englisches) Buch von einem gewissen Julius Feldman, der auf den Seiten 67 und 72 berichtet, der Talmud sei einmal gesäubert worden. Ob dieser Herr Feldmann auf diesen nur 96 Seiten wirklich alle Facetten dazu ausgeleuchtet hat, erscheint zumindest zweifelhaft.

"Die nicht gesäuberten frühen Ausgaben des Talmuds aber enthalten solche Legenden, und aus dieser Quelle schöpfte der Verfasser (Feldman)".

Da muss man dann doch rückfragen: In welcher wissenschaftlichen Bibliothek befindet sich denn eine solche "ungesäuberte" Talmud-Ausgabe? Und weiter fordern. Bitte mit genauen bibliographischen Angaben. (Erscheinungsort, Jahr, Seite). Diese im wissenschaftlichen Diskurs unabdingbare Forderung erfüllt die WTG aber nicht. Sie beruft sich einfach auf Dritte, kolportiert deren Thesen, ohne das in ihrem Buch "Ausgerüstet für jedes gute Werk" hinzuzufügen. Es handelt sich nur um die Kolportierung der Thesen Dritter; aber nicht um Ergebnisse eigenes Quellenstudiums. Genauso agierten auch die Antisemiten in der Nazizeit!

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