Annotationen zu den Zeugen Jehovas
Kurdi's Kongressbeobachtungen
Selbst dem Spiegel" war er eine zusammenfassende Kurznotiz wert; jener in der Süddeutschen Zeitung" vom 5. 8. 2003 erschienener Artikel zum Thema Zeugen Jehovas. Der Spiegel" notierte:
Hartmut el Kurdi, ein ehemaliger Zeuge Jehovas, hat nach
25-jähriger Abstinenz wieder einmal einen Jahreskongress der Glaubensgemeinschaft
besucht. "Die gruseligsten Erinnerungen stiegen wieder auf, ich spürte das dringende
Bedürfnis, sofort nach Hause zu gehen, Gott zu fluchen und eine Marilyn Manson-CD
einzulegen. Noch beängstigender waren allerdings die gelegentlich aufwallenden positiven
Erinnerungen, die mir für kurze Momente ein kuscheliges Heimkehrer-Gefühl vermittelten.
Wahrscheinlich handelte es sich dabei um eine Art Religions-Ostalgie. Wie in der DDR war
auch bei den Zeugen Jehovas ,nicht immer alles nur schlecht gewesen'. Zumindest kam es mir
beim Anblick der durchaus freundlichen Menschen auf einmal so vor."
Da bietet es sich doch an, den
Religions-Ostalgie" überschriebenen Beitrag einmal im vollen Wortlaut zu
lesen:
Mumientrocken, raunend, und bitte nicht am
Pillermann spielen: Ein ehemaliger Zeuge Jehovas geht auf einen Jahreskongress
Den letzten Jehovas Zeugen-Kongress hatte ich 1978 besucht. Mit dreizehn. Damals stand ich
kurz davor, mich von Gottes auserwähltem Volk zu verabschieden. Ich weiß noch, dass ich
am Ende des mehrtägigen Sektenkirchentages durchatmete und nicht ohne pubertäres Pathos
dachte: Das war's! Nie wieder!"
Ich wollte einfach nicht mehr. Nicht mehr an drei Tagen in der Woche in die
Versammlung" gehen und den zehrenden Vorträgen lauschen. Nicht mehr sonntags
an der Seite eines Erwachsenen predigend von Tür zu Tür schlurfen und dabei jedesmal
befürchten, einer meiner Mitschüler könnte öffnen, mich auslachen und dann beim
allmontäglichen Wer hat am Wochenende die schärfste Geschichte
erlebt"-Wettbewerb mit meinem Auftritt als Jehova-Hausierer punkten. Ich wollte auch
keine doofen Schlipse und Sakkos mehr tragen. Vor allem aber wollte ich mir keine Angst
mehr machen lassen. Von niemandem.
Seit meine Mutter von einer unappetitlichen Scheidung demoralisiert einem
Haus-zu-Haus-Prediger mit Wachtturm auf den Leim gegangen war und sich ein Jahr später in
einem Hallenbad hatte taufen lassen, versetzten mich die Zeugen in Furcht und Schrecken.
Sie erzählten mir siebenjährigem Knirps, dass überall Dämonen lauerten, die mich auf
ihre Seite ziehen wollten. Nicht im metaphorischen Sinne, nein real: Alles voller
Dämonen, die ganze Welt! Sie drohten mit Harmagedon", dem Ende des
bösen Systems der Dinge", bei dem Jehova alle Ungläubigen vernichten würde und nur
die treuesten und eifrigsten seiner Zeugen überleben ließe. Und dies sollte nicht
irgendwann geschehen, sondern 1975. Für einen Zehnjährigen, der natürlich ständig
irgendetwas biblisch Illegales tut, war das ein Jahr der Dauerpanik.
Weltende? Hat keiner behauptet
Als sich die Prophezeiung am 1. Januar 1976 immer noch nicht erfüllt hatte, war ich
spontan erleichtert, im Gegensatz zu vielen verstörten Zeugen, denen es den Boden unter
den Füßen wegzog. Die Sektenchefs in der Wachtturm-Zentrale in Brooklyn ließen
kaltschnäuzig verlauten, die Gläubigen seien selbst schuld, die Organisation hätte nie
ein definitives Datum für den Weltuntergang genannt. Die offizielle Endzeitberechnung
besage lediglich, dass ab 1975 jeden Tag mit dem großen Knall gerechnet werden müsse.
Die Gemeinde schluckte die faule Ausrede; der Kampf ging weiter.
Es folgten zwei weitere hysterisch-angstvolle Jahre, bis sich plötzlich, warum auch
immer, ein unerwarteter Abnutzungseffekt einstellte: Meine Angst ließ nach! Und das
fühlte sich gut an. Gleichzeitig wuchs der Neid auf die Weltmenschen". Darauf,
dass sie nicht täglich ein schlechtes Gewissen haben mussten, dass sie denken durften,
was sie wollten, dass sie einfach so Spaß haben konnten. Und obwohl ich nicht wirklich
sicher war, das Richtige zu tun und noch einige Zeit unter Schuldgefühlen und Alpträumen
litt, entschied ich mich schließlich dazu, das Risiko einzugehen und fortan ein Leben in
Sünde zu führen. Zwar musste ich noch ein hartes Dreivierteljahr mit unzähligen
Schreiereien und stundenlangen Diskussionen hinter mich bringen, bis alle Verantwortlichen
einsahen, dass sie mich endgültig an den Satan verloren hatten, aber dann war
tatsächlich Ruhe im Karton. Auch meine Mutter sprach das Thema danach nie mehr an. Ich
hatte nichts mehr mit den Zeugen zu tun. Bis zu diesem Sommer.
Als in der Zeitung stand, dass der Bezirkskongress 2003" in Braunschweig,
meinem Lebensmittelpunkt, stattfindenden würde, beschloss ich, in einer Mischung aus
schriftstellerischer Neugier und düsterer Sentimentalität, ihn zu besuchen.
Veranstaltungsort war ein Fußballstadion, in dem ansonsten der tragische Traditionsverein
Eintracht Braunschweig Saison für Saison von seinen Gegnern gedemütigt, gekreuzigt und
verscharrt wird um dann doch immer wieder von den Toten aufzuerstehen. Mythischer
Boden also, ein Ort der tiefen Religiosität. Statt mit gegeißelten Eintracht-Gläubigen
waren die Ränge nun aber mit rund 10 000 niedersächsischen Zeugen und ihren
überforderten und quengelnden Kindern gefüllt, die drei Tage lang die Seele strammstehen
lassen wollten.
An der Struktur und den Inhalten der Kongresse hat sich seit 1978 nichts geändert: Das
täglich sechsstündige Programm bestand fast ausschließlich aus endlosen,
mumientrockenen Ansprachen, breiigen und mit Bibelzitaten gespickten Vorträgen, in denen
vor Hurerei", Bluttransfusionen, höherer Bildung und
spiritismusverherrlichenden Fernsehsendungen" gewarnt wurde. Betitelt waren die
Vorträge entweder biblisch-bürokratisch Ein Leben in unversehrter Lauterkeit
führen" oder ratgeberisch-handfest Höre nicht auf die Stimme von
Fremden". Mit den Fremdstimmen" waren in erster Linie Abtrünnige gemeint,
die so der Redner alles daran setzten, die Zeugen mit in den Abgrund zu
ziehen. Deswegen solle man sofort flüchten", wenn ein Abtrünniger versuche,
sein teuflisches Werk zu tun, sei es von Angesicht zu Angesicht, im Fernsehen oder gar im
Internet.
Wie üblich blieben die Warnungen raunend unkonkret, um Zweifelnden nicht etwa noch
häretische Surftipps zu geben. So wurde auch nur nebulös von verleumderischen
Vorwürfen" gesprochen, die in letzter Zeit gegen Gottes Volk" vorgebracht
würden. Es ging dabei um einige öffentlich gewordene Fälle von Kindesmissbrauch und den
Versuch der Wachtturm-Gesellschaft, diese zu vertuschen. Traditionell reagieren die Zeugen
auf solche Angriffe mit Schweigen oder ablenkender Gegenpropaganda. Kindesmissbrauch?
Papperlapapp wir lieben unsere Kinder. Also bekamen alle Kongressteilnehmer
kostenlos das neue Kinderbuch Lerne von dem großen Lehrer" überreicht, in dem
die abergläubische und totalitäre Weltsicht der Gesellschaft sehr schön in einer auch
für Kinder leicht verständlichen Sprache zusammengefasst wird. Im Zusammenhang mit den
Missbrauchs-Vorwürfen fasziniert besonders die delikate Melange aus Lustfeindlichkeit und
Sexbesessenheit: Zum Beispiel gefällt es den Dämonen, wenn Jungs und Mädchen
gegenseitig mit ihrem Penis und ihrer Scheide spielen. Wir möchten den Dämonen aber
keinen Gefallen tun, stimmt's?"
Die gruseligsten Erinnerungen stiegen wieder auf, ich spürte das dringende Bedürfnis,
sofort nach Hause zu gehen, Gott zu fluchen und eine Marilyn Manson-CD einzulegen. Noch
beängstigender waren allerdings die gelegentlich aufwallenden positiven Erinnerungen, die
mir für kurze Momente ein kuscheliges Heimkehrer-Gefühl vermittelten. Wahrscheinlich
handelte es sich dabei um eine Art Religions-Ostalgie. Wie in der DDR war auch bei den
Zeugen Jehovas nicht immer alles nur schlecht gewesen". Zumindest kam es mir
beim Anblick der durchaus freundlichen Menschen auf einmal so vor. Ich erinnerte mich an
Kinderkumpeleien, an das gute Gefühl, wenn es ein Lob gab für das flüssige Vorlesen
einer Bibelstelle, an meine grottenschlechten, aber mit Kopftätscheln belohnten
Blockflötenauftritte im Versammlungsorchester. Und an das Gefühl, etwas Besonderes,
etwas Besseres zu sein. Besser als all die verdorbenen Weltmenschen". Dieses
Elite-Empfinden ist im Vergleich zur plumpen Angst das wesentlich raffiniertere Element
der Wachtturm-Lehre. Nur damit können die weltweit sechs Millionen Zeugen den
alltäglichen Hohn und Hass von außen, aber auch die Überwachung und Gängelung
innerhalb ihrer Gesellschaft ertragen.
Agitprop-Bibel
Das luxuriöse Gefühl, auserwählt zu sein, produzierte eine heilige Geduld, mit der man
sogar das gnadenlose Programm eines solchen Kongresses durchhalten konnte. Je länger ich
unter den Privilegierten weilte, desto öfter glitt auch ich in diesen geduldigen,
anspruchsreduzierten Trancezustand ab. Nach zwei Tagen war ich soweit, dass ich mich sogar
auf das Bibeldrama" freute.
Unter Zeugen gelten diese schlichten Lehrstücke als actiongeladene Höhepunkte der
Kongresse. Formal funktionieren sie wie das
Drei-Fragezeichen-Playback-Theater", nur ohne ironische Brechung: Zu einem
vorproduzierten Bibelhörspiel öffnen und schließen Statisten in historisierenden
Kostümen den Mund und versuchen durch flaggensignalartiges Gestikulieren auch noch in 150
Meter Entfernung sichtbar zu sein. Obwohl das Stück ohne jede Dynamik vor sich hin
plätscherte, kam es gut an. Auch ich war begeistert. Vor allem weil mir während dieses
durch und durch humorlosen und ästhetisch nicht mehr fassbaren Agitproptheaters klar
wurde, dass ich mir den letzten Nachmittag doch würde schenken müssen. Ich konnte nicht
mehr. Ich hatte genug. Mal wieder.
Heilfroh, mich vor 25 Jahren vom Glaubensacker gemacht zu haben, radelte ich nach Hause.
Als ich bemerkte, dass mir dabei trotzdem ein wenig wehmütig ums Herz wurde, verstand
ich, wie recht Wiglaf Droste doch hatte, als er sang: Schon seltsam / wie leicht man
vergisst/ dass alles was man tut / für immer ist". So oder so.