Die Angst des Wachtturms vor dem Internet
Die ungehinderte Kommunikation der Zeugen Jehovas im Internet scheint für die
Wachtturm-Gesellschaft (WTG) ein ernsthaftes Problem zu sein. Zu diesem Eindruck
kommt man jedenfalls, wenn man die Beilage im internen Mitteilungsblatt
"Königreichsdienst" vom November 1999 liest, in der massiv vor dem Medium
gewarnt wird.
Früher war die Welt des Zeugen Jehovas noch in Ordnung. Die Nachrichten
bestärkten ihn tagtäglich in seiner Überzeugung, dass das Ende dieses "Systems
der Dinge" unmittelbar bevorstand. In der "Wahrheit" hingegen schien alles in
bester Ordnung zu sein. Hier kannte man keine Unmoral, keine Vergewaltigung,
keinen Kindesmissbrauch, keine Scheidungen, keine Geschlechtskrankheiten, keine
unehelichen Kinder, keine Gewalt in der Ehe, ja noch nicht einmal ein böses
Wort. Schließlich besaß man ja die Wahrheit, lebte nach den hohen moralischen
Grundsätzen der Bibel und war schon deshalb besser als die verderbte Welt
Satans.
Nur wenigen Zeugen Jehovas war bewusst, dass sie sich ein Weltbild zurecht
gelegt hatten, das mit der Realität nur wenig zu tun hatte. Kein Wunder,
schließlich erfuhren sie ja nicht, was in den eigenen Reihen vor sich ging. Zwar
hörte man hier und da ein Gerücht, aber die meisten negativen Meldungen drangen
nicht weiter als bis in die Nachbarversammlungen.
Die WTG tat ihr übriges, um dieses idealisierte Schwarzweiß-Denken ihrer
Gläubigen zu fördern. Auf den Kongressen gab es nur leuchtende Vorbilder und
positive Erfahrungen. Skandale in den Versammlungen wurden so gut es ging hinter
verschlossenen Türen behandelt. Der gemeine Zeuge musste also zwangsläufig den
Eindruck gewinnen, dass es die wirklichen Probleme nur in der "Welt" gab.
Eine Situation, die sich grundlegend verändert hat. Zumindest in den Ländern, in
dem große Teile der Bevölkerung Zugriff auf das Internet haben. Jetzt erfährt
der Zeuge Jehovas in Turku/Finnland plötzlich, was der Kreisdiener in El
Paso/Texas gesagt hat, der Bericht der Europäischen Menschenrechtskommission
über die Kompromissbereitschaft der WTG in Bulgarien ist im Original-Wortlaut
nachzulesen und Pressemeldungen über Zeugen Jehovas aus aller Welt können im
Abonnement bezogen werden.
Dazu kommt, dass sich jetzt jeder Zeuge Jehovas bequem zu Hause vor dem Monitor
selbst davon überzeugen kann, ob die bösen Abtrünnigen wirklich nur Lügen
verbreiten. Er erfährt von einer weltweiten Gruppe von Ältesten für Reform in
der Blutfrage. Er liest die Erfahrungen von Zeuginnen, die als Kind mißbraucht
oder als Ehefrau mißhandelt wurden, während die Täter nach wie vor als
vorbildliche Älteste gelten. Er erfährt warum so mancher Ehemalige wirklich
ausgeschlossen wurde. Und er kann sich im Schutz der Anonymität in Newsgroups
und Diskussionsforen mit anderen austauschen und dabei sogar Kritik los werden.
Kein Wunder, dass die WTG durch dieses Kommunikationsmedium ihr
Informationsmonopol bedroht sieht und nicht müde wird, über das Internet zu
schimpfen. Auf dem Bezirkskongress 1999 in Mannheim wurde das Internet sogar von
der Bühne herab als Werk Satans und "die größte geistige Schrotthandlung"
bezeichnet. Vermutlich hat der Sprecher dabei übersehen, dass auch die WTG
dieses satanische Medium nutzt. Auch wenn sie von Kommunikation nach wie vor
nichts hält und weder ein Diskussionsforum, noch ein Gästebuch oder eine
eMail-Adresse anbietet.
Ein besonders mißglückter Versuch, das Internet zu verunglimpfen, ist die
Beilage im internen Königreichsdienst vom November 1999. Hier wird das Internet
als ein Platz beschrieben, in dem es vor allem um den Bau von Bomben und die
Darstellung von Gewalt und Pornografie geht. Und es wird der Versuch
unternommen, Mißtrauen gegen jede Form von Kommunikation zu sähen, die dieses
Medium ermöglicht.
Selbst Zeugen Jehovas, die eine eigene Website ins Netz gestellt haben, um
andere über ihre Glaubensansichten zu informieren oder ein Forum zum
Gedankenaustausch unter Zeugen Jehovas zu schaffen, werden angegriffen. Man
beachte die Wortwahl:
"Bemerkenswerterweise haben einige Personen Web-Sites eingerichtet, vorgeblich,
um die gute Botschaft zu predigen. Viele dieser Web-Sites werden von unbedarften
Brüdern unterstützt. Hinter anderen stehen womöglich Abtrünnige, die Arglose
verführen wollen ."
Es werden also von vornherein die Motive eines Zeugen Jehovas in Frage gestellt,
der eine eigene Website ins Internet stellt. In einer zentralistisch geführten
Organisation wie der WTG sieht man eben jede Form von Eigeninitiative mit
größtem Mißtrauen. Schon im November 1997 schrieb der Königreichsdienst dazu:
"Es ist nicht notwendig, dass Einzelpersonen Internet-Seiten über Jehovas
Zeugen, unsere Tätigkeit oder unsere Glaubensansichten vorbereiten. Unsere
offizielle Web-Site [www.watchtower.org] enthält genaue Informationen für alle,
die sie haben möchten"
Wie es scheint, sind den Wachtturm-Führern offensichtlich besonders die Websites
ein Dorn im Auge, in denen Zeugen Jehovas ein Forum zum Meinungsaustausch haben:
"Betrachten wir beispielsweise einige Internet-Sites, die angeblich von Zeugen
Jehovas eingerichtet wurden. Sie bitten dich, ...Erfahrungen zu lesen, die von
anderen beigesteuert wurden, die ebenfalls behaupten, Zeugen Jehovas zu sein. Du
wirst ermuntert, deine Gedanken und Ansichten über die Literatur der
Gesellschaft mitzuteilen. ... Aber kannst du sicher sein, dass diese Kontakte
nicht von Abtrünnigen hergestellt worden sind?"
Womit wir beim eigentlichen Thema wären - der Angst der WTG vor Kritik, ganz
gleich ob sie aus den eigenen Reihen oder von Aussteigern stammt. Da man aber
vielen Kritikpunkten offensichtlich nichts entgegen zu setzen hat, weicht man
eben wieder auf die alte Taktik der Diffamierung aus:
"Manche Web-Sites dienen eindeutig zur Verbreitung der Propaganda von
Abtrünnigen. In solchen Web-Sites wird vielleicht etwas anderes gesagt, und
diejenigen, die sie einrichten lassen, erklären vielleicht lang und breit, dass
sie wirklich Zeugen Jehovas sind."
Mit anderen Worten: Wer etwas Kritisches über die WTG sagt, muss zwangsläufig
ein Abtrünniger sein, auch wenn er noch so sehr beteuert, sich zu den Zeugen
Jehovas zu zählen. Und um Abtrünnige, das hat man den Zeugen Jehovas schließlich
jahrelang eingebläut, soll ein "wahrer Christ" einen weiten Bogen machen.
Berechtigte Kritik kommt in dieser Denkwelt nicht vor.
Genauso, wie es unerwünscht ist, wenn man sich die Freiheit nimmt, selbst zu
denken und seine Erkenntnisse auch noch mit anderen zu teilen:
"Einige meinen, sie würden den Brüdern einen Dienst erweisen, wenn sie
Informationen veröffentlichen, die sie in Verbindung mit unterschiedlichen
theokratischen Tätigkeiten herausgefunden haben. Nehmen wir einmal an, jemand
veröffentlicht die Ergebnisse seiner Nachforschungen beim Ausarbeiten eines
Öffentlichen Vortrages in der Meinung, dieser Aufschluss wäre auch anderen
nützlich... Ist das wirklich hilfreich?"
Natürlich ist es das nicht. Zumindest nicht nach Meinung der Verfasser dieses
Artikels. Schließlich hat die WTG kein Interesse daran, dass ein Zeuge Jehovas
beim Bibelstudium etwas anderes benutzt als die Bücher aus ihrem eigenen Verlag.
Es folgt daher eine langatmige Abhandlung der Vorteile eines persönlichen
Bibelstudiums, verbunden mit der scheinheiligen Schlussfolgerung:
"Gestützt auf die eigene persönliche Überzeugung kannst du dann in deinen
Ansprachen, in Kommentaren in den Zusammenkünften oder im Predigtdienst eine
Öffentliche Erklärung deines Glaubens abgeben."
Als ob nicht jeder Zeuge Jehovas wüßte, dass in Wirklichkeit nicht seine eigene,
persönliche Überzeugung gefragt ist, sondern einzig und allein die gegenwärtig
als "Wahrheit" geltende Doktrin aus Brooklyn.
Doch es gibt noch etwas, was der WTG ein Dorn im Auge ist: Per eMail haben
Zeugen Jehovas erstmals die Möglichkeit, über Versammlungs-, Kreis- und
Landesgrenzen hinweg miteinander zu kommunizieren. Ereignisse, die man lieber
verschwiegen hätte, können sich plötzlich in Windeseile um die ganze Welt
verbreiten, ohne dass die WTG irgend einen zensierenden Einfluß darauf haben
kann. Also muss man auch diese Möglichkeit in ein negatives Licht stellen:
"Es ist nichts dagegen einzuwenden, Familienangehörigen und Freunden, die weit
weg wohnen, Erfahrungen zu berichten, die man selbst gemacht hat, doch ist es
wirklich liebevoll, diese an andere weiterzugeben, die deinen Angehörigen und
deinen Freunden womöglich unbekannt sind? Oder sollten diese Erfahrungen in eine
Web-Seite gestellt werden, damit sie jeder x-beliebige lesen kann? Sollten diese
persönlichen Mitteilungen kopiert und wahllos an Personen gesandt werden, die du
vielleicht kennst, vielleicht aber auch nicht?"
Es sieht ganz so aus, als hätte die WTG Angst davor, dass der Erfahrungshorizont
eines Zeugen in Garmisch künftig weit über die Alpen hinaus reicht?
Offensichtlich ist es nicht in ihrem Interesse, wenn immer mehr Zeugen
mitbekommen, dass die Probleme, von denen sie wissen, durchaus keine Einzelfälle
sind, sondern auf der ganzen Welt dem selben Muster folgen. Und bei dem
Gedanken, dass "Erfahrungen" künftig nicht mehr auf die Seiten des Jahrbuchs
beschränkt sind, sondern völlig unbehindert durch's weltweite Netz schwirren,
scheinen sich ganz oben im Wachtturm ernsthafte Schwindelgefühle breit zu
machen.
Da sehnt man sich lieber an die gute alte Zeit zurück und beschwört die
bewährten Druckmedien aus dem eigenen Hause:
"Wie freuen wir uns doch darüber, dass das Jahrbuch, der Wachtturm und das
Erwachet voll nachprüfbarer Erfahrungen sind, die uns ermuntern und anspornen,
weiterhin auf , dem Weg' zu wandeln!"
Fragt sich nur, für wen eine Erfahrung im Wachtturm nachprüfbar ist. Für den
einzelnen Zeugen ganz bestimmt nicht. Wohl aber für die WTG, die volle Kontrolle
darüber hat, das in ihren Verlagserzeugnissen nur Dinge stehen, die sich in
ihrem Sinne "auferbauend" auf ihre Nachfolger auswirken.
Es ist allerdings sehr fraglich, ob sich die Zeugen Jehovas und Internet-Nutzer
auf Dauer von einer derart durchsichtigen Argumentation beeinflussen lassen.
Schließlich muss man schon sehr einfachen Geistes sein, um diese Mischung aus
Unterstellungen, Halbwahrheiten und konstruierten Zusammenhängen ernst nehmen zu
können.
Oder, um es mit den Worten eines Teilnehmers am InfoLink Forum zu sagen:
"Dieser WT-Artikel hat das Niveau eines Aufsatzes, nun ja, bestenfalls 7. bis 8.
Klasse Hauptschule: Weitschweifende Einleitung, die nur wenig mit dem Thema zu
tun hat und eine gekünstelte Hinführung darstellt, die Gedankenstränge völlig
unstrukturiert mit Bibelstellen-Einlagen die ein kontinuierliches Mitdenken gar
nicht erst aufkommen lassen (sofern es denn nötig ist) und eine monotone
Sprache."
Ein anderer fand eindeutige Worte für die Absicht des Artikels:
"Da wird erst mal, a priori, ein abgrundtiefes Mißtrauen gegenüber allen
empfohlen, die sich als ZJ ausgeben. Man soll grundsätzlich Mißtrauen gegenüber
einem unbekannten ZJ haben, im Königreichsaal hat man alles, was man braucht und
zudem den Schutz, den die Einrichtung eines Gemeinschaftsentzuges für
Selbstdenker bietet. Welche Welt der Liebe (Liebe glaubt alles, hofft alles ...)
- ich empfinde es aber eher als Paranoia. Man hat keine Antworten mehr und will
den totalen Maulkorb verhängen. Auch wenn es heißt, man könne nicht prüfen, ob
der Inhalt einer Mitteilung denn auch korrekt sei - kann man das denn beim WT
prüfen ?? Leider (mein ich wirklich so !!) gibt es genug Beispiele von
vermutlich bewußten Falschdarstellungen und Schönungen ...
Aus dem InfoLink/Forum am Sonntag, den 9. April, 2000:
Vorsicht vor dem Internet!
Auszug aus dem Wachtturm 01. Mai 2000, Seite 9
Eine weitere Gefahr für unser Geistiggesinntsein können Abgefallene darstellen.
.... Heute ist unter dem Volk Gottes kein nennenswerter Abfall im Gange (Hört,
hört! Anm. des Verf.). ...einige sind erpicht, Jehovas Zeugen durch Lügen und
Falschdarstellungen zu diffamieren. Eine Anzahl arbeitet mit anderen Gruppen
zusammen, um der reinen Anbetung geschlossen entgegenzuwirken
(Apostaten-Sonderkongresse??? Anm. des Verf.). Dabei stellen sie sich auf die
Seite Satans, des allerersten Abgefallenen (Anleitung zur Anbetung siehe
Wachtturm 01. April 2000, ab Seite 4, Anm. des Verf.). Einige Abgefallene setzen
vermehrt verschiedene Massenkommunikationsmittel ein, unter anderem das
Internet, um über Jehovas Zeugen falsche Informationen zu verbreiten. ....Selbst
einige Zeugen sind versehentlich mit diesem schädlichen Material in Berührung
gekommen (ja, ja, versehentlich letzten Monat, versehentlich vorige Woche,
versehentlich vorgestern, versehentlich gestern, versehentlich heute....Anm. des
Verf.). Sich über die verschiedenen modernen Kommunikationsmittel mit den Lehren
Abgefallener zu befassen wäre ebenso schädlich, als nähme man Abgefallene in
sein Haus auf. ....Besonders was Christen angeht, die mit Zweifeln zu kämpfen
haben, schrieb Judas: " Fahrt fort, einigen , die Zweifel haben, Barmherzigkeit
zu erweisen; rettet sie, indem ihr sie aus dem Feuer reißt" (Jud. 22,23). Von
Rainbowman
Der (seinerzeitigen) Webseite WTCleanup entnommen.
http://geocities.com/wtcleanup/02Internes/01Internetangst.htm