Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Milton G. Henschel und Bertrand Russell

Die amerikanische Zeitschrift „Look" veröffentlichte in den Jahren 1952-55 eine Serie von Artikeln über die Religion in den USA. Das Prinzip dieser Artikel war einfach „gestrickt". „Look" formulierte einige Fragen und stellte es ausgewählten Vertretern der verschiedenen Religionen anheim, sie in der ihnen genehmen Weise zu beantworten. „Nachfragen" zu diesen Antworten gab es nicht. Herausgekommen ist dabei ein Sammelsurium von Selbstdarstellungen. Sofern nicht eventuell in der Ausgangsfrage schon ein kritischer Ansatz vorhanden, blieben alle Befragten vor weitergehender Kritik verschont.

Auch die Zeugen Jehovas bekamen diesergestalt die Chance zur Selbstdarstellung. Sie wurde wahrgenommen vom damaligen persönlichen Sekretär des WTG-Präsidenten Knorr, dem Herrn Milton G. Henschel. Bekanntlich nahm letzterer in seinen vorgerückten Lebenstagen dann auch noch mal die Funktion eines WTG-Präsidenten war. Wobei man sich allerdings des Eindruckes nicht erwehren kann (vielleicht auch aus gesundheitlichen Gründen des Herrn Henschel), dass er mehr oder weniger nur eine Galionsfigur ist, die nichts mehr zu sagen hat. Die eigentlichen Entscheidungen treffen andere, mehr im „Hintergrund" stehende „Technokraten".

In den 1950er Jahren indes befand sich Henschel noch in seinem dritten Lebensjahrzehnt. Damals war er also durchaus noch anders zu bewerten. Liest man den Henschel-Text im Detail, kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, dass auch er einige Plattitüden serviert. Vielleicht mit am bedeutsamsten sind seine Ausführungen in Sachen Wehrdienst. Henschel verlautbart sich darin dergestalt, Jehovas Zeugen seien keine prinzipiellen Pazifisten. Sie würden kämpfen „wenn Gott es ihnen befiehlt". Ein schaler Nachgeschmack stellt sich ob solcher Argumentation ein.

Die „Look"-Artikel erschienen dann auch noch in gesammelter Form als Buch. Auch in Deutsch im Jahre 1956. Da man Henschel, unbeschadet seiner gegenwärtigen Bedeutungslosigkeit, durchaus als eine Person anzusprechen hat, die in der Zeugen Jehovas-Geschichte eine gewisse Rolle spielte, und da das fragliche Buch schon lange nicht mehr lieferbar ist, erscheint es mir nicht unbillig auch einmal seine damaligen Ausführungen zu dokumentieren. Ohne weiteren zusätzlichen Kommentar.

Da dem Henschel nun diese eigentlich unverdiente Ehre zuteil wird, möchte ich das aber doch etwas relativieren. Wie? Indem noch ein zweiter Beitrag aus diesem Buch mit dokumentiert wird (gleichfalls ohne Kommentar). Der des Bertrand Russell. Beide Beiträge sind in gewisser Hinsicht als entgegengesetzte Pole zu bewerten. Vielleicht liegt darin auch ihr Reiz:

WER SIND DIE ZEUGEN JEHOVAS?

Von Milton G. Henschel

Milton G. Henschel ist der Leiter der „Watch Tower Bible and Tract Society", der leitenden Organisation der Zeugen Jehovas. Er wurde als Zeuge in dritter Generation 1920 in Pomona, New Jersey, geboren, und predigte schon mit acht Jahren von Haus zu Haus. Mit vierzehn Jahren widmete er sich ganz der Vermittlung des Gedankenguts seiner religiösen Gruppe. Mr. Henschel ist geweihter Geistlicher der Zeugen Jehovas und ist in seiner Eigenschaft als persönlicher Assistent des Präsidenten der Watch Tower Bible and Tract Society durch acht Länder gereist.

Zu welchem Glaubensbekenntnis bekennen sich die Zeugen Jehovas?

Die Zeugen haben kein Glaubensbekenntnis. Sie folgen der Bibel ganz, nicht nur halb. Sie sind der Ansicht, daß die Bibel -- und zwar die hebräischen und griechischen Schriften - für unsere Zeit vollkommen gültig und praktisch anwendbar ist.

Woher kommt der Name?

Der Name Zeugen Jehovas findet sich in der Bibel, und zwar bei Jesaja 43, Vers 12: „Ihr seid meine Zeugen, sagt Jehova, und Ich bin Euer Gott." Die Geschichte der Zeugen Jehovas und ihres Dienstes an Gott reicht 6000 Jahre zurück. Abel und andere Gläubige vor Christus werden in Hebräer 11 und 12, Vers I „Zeugen" genannt. Christus ist der „gläubige und wahre Zeuge« in der Offenbarung 3, Vers 14. Mit seinen Worten „Ihr werdet meine Zeugen sein … bis an das Ende der Erde", (Apostelgeschichte 1,8) bestimmte er andere, das Zeugnis für ihn fortzusetzen.

Die Zeugen Jehovas von heute sind nur die letzten einer langen Reihe von Dienern Gottes. Sie sind keine eingetragene Körperschaft. Sie bedienen sich der gemeinnützigen Wachturm-Gesellschaft (Watch Tower Bible and Tract Society), die im Jahre 1984 von Charles Taze Russell und ihm nahestehenden Christen als Gesellschaft öffentlichen Rechts in Pennsylvania eingetragen wurde.

Was lehren die Zeugen Jehovas?

Daß Jehova der einzige wahre Gott ist. Seine Vorherrschaft ist von Satan herausgefordert worden, der die Rebellion im Garten Eden verursachte und die Integrität aller Menschen auf die Probe stellt. Gottes Hauptanliegen ist es, seine Überlegenheit zu rechtfertigen. In Ausübung dieses Vorsatzes sandte Gott Jesus zur Erde, um das Sühneopfer zu bringen und die Grundlage für Gottes neues System aller Dinge zu legen. Jehova wird das Böse auf Erden nicht für alle Zeiten dulden. Der Anfang vom Ende kam für Satan, als Christus als König des Himmels seine Herrschaft antrat. Das geschah im Jahre 1914. Die erste Tat Christi war es, Satan aus dem Himmel zu verstoßen, was zu großen Unruhen auf Erden führte. Der Höhepunkt dieses Kampfes wird in der Schlacht Gottes, Armageddon, erreicht werden: sie bringt die vollständige Vernichtung des Teufels und seines Systems, seiner Welt. Damit wird Jehovas Name gerechtfertigt, und das Tausendjährige Reich Christi beginnt. Alles, was Atem hat, wird dann Jehova preisen. Christus steht jetzt in seiner zweiten Gegenwart. Er wird uns Menschen stets unsichtbar bleiben, aber seine Gegenwart wird durch das Weltgeschehen seit 1914, das alle Voraussagen von Matthäus 24 erfüllt, bewiesen.

Pflicht jedes Christen ist es, sich für Jehova rein zu erhalten, die Herrschaft des Himmelskönigs zu verkünden und den Mitmenschen zu helfen, den Weg zum göttlichen Dienst und zum ewigen Leben zu finden.

Glauben die Zeugen Jehovas an die jungfräuliche Geburt?

Jesus wurde auf wunderbare Weise geboren, jungfräulich, wie es der Prophet (Jesaja 7,14) vorausgesagt hat. Er starb den Opfertod, um den Menschen von der Sünde zu erlösen, die er von seinen Ureltern im Garten Eden ererbt hat. Wie I. Korinther, Kap. 15 zeigt, starb Christus körperlich, erstand aber als mächtige geistige Kreatur neu.

Glauben die Zeugen an die Heilige Dreieinigkeit?

Die Zeugen Jehovas glauben, daß Gott Jehova und Jesus Christus zwei verschiedene Personen sind und nicht mit einem sogenannten „Heiligen Geist" in einer dreieinig genannten Gottheit vereinigt sind.

Salutieren die Zeugen vor einer Nationalflagge?

Den Zeugen Jehovas erscheint die Ehrenbezeigung vor der Nationalflagge eines Volkes als unchristliche Götzenverehrung. Jede Nationalflagge ist das Symbol einer vom Volk als geheiligt angesehenen souveränen Macht. Die Zeugen Jehovas können nicht bewußt an einer Handlung teilnehmen, die eine Verehrung des nationalen Emblems und der Nation, die es versinnbildlicht, vorschreibt. Denn es heißt in den Zehn Geboten: „Du sollst keine fremden Götter neben mir haben. Du sollst dir kein Bildnis noch irgend ein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, was im Wasser unter der Erde ist."

Die Zeugen Jehovas wollen sich nicht den Zorn Gottes dadurch zuziehen, daß sie entgegen seinen Geboten etwas verehren. Sie haben auch nichts dagegen, wenn jemand den Wunsch oder das Recht hat, eine Flagge zu grüßen. Jeder muß selbst entscheiden, was er tun will. Das ist wahre Glaubensfreiheit. Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten hat in einem Prozeß gegen Zeugen Jehovas entschieden, daß keine Verpflichtung für den Gewissenhaften besteht, die Flagge der Vereinigten Staaten zu grüßen.

Leugnen die Zeugen die Autorität der Regierung?

Nein. Ohne Regierungen würden Anarchie und Chaos herrschen. Irdische Regierungen haben das Recht, Gesetze zur Regelung der Moral, zum Schutz der Person und des Eigentums und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu schaffen. Die Zeugen Jehovas beachten diese Gesetze, wenn sie mit den göttlichen Gesetzen übereinstimmen. Besteht zwischen dem Gesetz Gottes und dem der Regierung ein Widerspruch, dann folgen sie dem in der Bibel festgelegten obersten Gesetz Gottes.

Warum fordern die Zeugen Befreiung vom Wehrdienst?

Weil sie - sich auf die Zehn Gebote stützende - Gewissensgründe gegen eine Beteiligung an den Kriegen der Welt haben. Die Kriege der Völker von heute sind nicht die gleichen wie die Kriege Israels in alten Zeiten. Israel war die theokratische Nation Gottes; daher waren die Israeliten Kämpfer in Kriegen Gottes. Keine politische Nation unserer Tage kann diesen Status für sich in Anspruch nehmen. Obgleich sie keine Pazifisten sind, kämpfen die Zeugen Jehovas nur, wenn Gott es ihnen befiehlt. Seit den Tagen des alten Israel hat Gott den Menschen nicht mehr befohlen, an Kämpfen zwischen Völkern teilzunehmen. Daher haben die Christen des ersten Jahrhunderts sich geweigert, in den kaiserlichen Armeen Roms zu dienen. Außerdem sind in vielen Ländern Geistliche vorn Militärdienst ausgenommen. Da jeder Zeuge Jehovas zum Geistlichen berufen ist, verlangen alle Zeugen Befreiung von Wehrdienstgesetzen. Die Zeugen widersetzen sich nicht dem Wunsche des einzelnen, in irgendeiner Armee zu dienen, ebensowenig wie sie die Bemühungen eines Volkes ablehnen, eine Armee auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht zu schaffen. Sie halten sich nur neutral und weigern sich, ihre Bindung an ihren Gott und Erlöser zu lösen. Die Zeugen nehmen die Stellung neutraler Botschafter für Christus, den König, ein. Ein gutes Gewissen Gott gegenüber macht einen Menschen nicht zum Schwächling oder Feigling. Es ist nicht die Angst vor dem Tode, die zur Ablehnung des Wehrdienstes führt; in manchen Ländern werden die Zeugen Jehovas sogar wegen ihrer Haltung durch Exekutivkommandos erschossen. Man braucht mehr Mut dazu, sich für unpopuläre Grundsätze einzusetzen, als im Kielwasser der Mehrheit zu schwimmen.

Was halten die Zeugen von der Hölle?

Die Hölle ist das Grab: sie ist kein Platz für feurige, ewige Qualen. Die Hölle ist ein Ort der Ruhe, an dem man auf die Erlösung wartet und nicht ein Ort der Pein, dein man nie mehr entfliehen kann. Petrus sagt, Jesus sei nach seinem Tode in der Hölle gewesen. Am Ende der Tausendjährigen Herrschaft Christi werden Tod und Hölle vernichtet sein. Das Fegefeuer wird in der Bibel nicht erwähnt, es ist eine Erfindung der Menschen. Es gibt auch kein "Zwischenstadium" des Todes; solche Gedanken kann man in den alten heidnischen Religionen finden, aber nicht in der Bibel.

Was halten die Zeugen vom Himmel?

Der Himmel ist die Behausung der geistigen Kreaturen, der Ort, an dem Gottes Thron steht. Der Lohn eines geistigen Lebens mit Christus im Himmel ist nur den irdischen Geschöpfen sicher, die das Königreich Gottes erben. Im Buch der Offenbarung 7, Vers 4, ist die Zahl dieser Menschen mit 144 000 genau angegeben.

Was wird aus den Milliarden von Menschen, die auf Erden gelebt haben?

Nach Erwähnung der 144 000, die zum Himmel auffahren werden, spricht das 7. Buch der Offenbarung von „der großen Menge, die niemand zählen kann aus allen Nationen", die zu Füßen des Thrones steht. Sie sind dazu bestimmt, für immer auf Erden zu leben.

Der Apostel Petrus sagt: „Dieses Versprechen läßt uns nach neuen Himmeln und einer neuen Erde ausschauen." Das bedeutet, daß das böse und unterdrückende System des Satans beseitigt wird und Christus seine rechtmäßige Herrschaft antritt.

Dann wird die Erde zum Paradies werden. „Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen" - Offenbarung 21, Vers 4. Jehova wird den Menschen alles geben, was sie brauchen, und die Tiere, die jetzt noch wild sind, werden mit den Menschen in Frieden leben - Jesaja 65. Es wird keine nationalen Grenzen mehr geben, keine politische Spaltung und keine Kriege - Buch Micha 4. Zu dieser Welt werden die Menschen in den Gräbern wieder erweckt werden.

Glauben die Zeugen an die Taufe?

Ja. Die Taufe ist das Symbol der Unterwerfung unter den Willen Gottes. Taufe ist für uns völliges Untertauchen, nicht nur Besprengen mit Wasser. Die Taufe, die mit der Taufe Jesu begann, soll keine Reinigung von Sünden sein - denn Jesus war kein Sünder - Hebräer 7. Matthäus 28 zeigt uns, daß die Getauften zuerst in der Lehre unterwiesen werden müssen. Diese Tatsache und die Taufe Jesu im Alter von dreißig Jahren kann als Beweis dafür gelten, daß die Taufe nicht für Kinder gedacht ist, sondern für reife Menschen, welche die Fähigkeit des Lernens besitzen.

Kann ein Zeuge Jehovas geweihter Priester sein?

Ja, denn die wahre Weihe kommt von Gott. Durch Christus weiht Gott seine Zeugen zu Priestern - Johannes 15, Vers 16. Jesus wählte Fischer, Steuereinnehmer und andere ungebildete Personen ebenso wie den gelehrten Paulus. Die Zeugen Jehovas sind wirklich eine Gemeinschaft von Priestern. Die öffentliche Zeremonie des Untertauchens im Wasser identifiziert den Zeugen als Geweihten Gottes. Sie macht ihn zu einem Menschen, der sein ganzes Leben dem Dienst Jehovas geweiht hat, wozu auch gehört, daß der Betreffende alle Verpflichtungen auf sich nimmt, die dieser Dienst ihm auferlegt. Jesus gab mit seiner Taufe im Jordan das Beispiel, weil er sich anschließend Dienste Gottes weihte. Wir sind der Ansicht, daß Titel für Geistliche, wie „Father" oder „Reverend" und dergleichen nicht angebracht sind, da sie nur Gott alleine zustehen - Matthäus 23, Vers 9. Die Zeugen Jehovas kennen auch keine Priestergewänder.

Dürfen auch Jungen und Mädchen predigen?

Ja. Die Jugend darf nicht nur predigen - sie wird sogar dazu ermuntert, so wie es bei den Knaben Samuel, Jeremia und Timotheus der Fall war. Jesus war erst zwölf Jahre alt, als er „in dem, was meines Vaters ist" saß und die Heilige Schrift diskutierte.

Werden unsere Priester und Mitarbeiter bezahlt?

Die Geistlichen in unserem amerikanischen Hauptquartier in Brooklyn, New York, und die Mitarbeiter im Lande sind Freiwillige. Alle Angestellten der Wachturm-Gesellschaft erhalten monatlich vierzehn Dollar für ihre persönlichen Bedürfnisse sowie freie Wohnung und freie Verpflegung. Die meisten Zeugen leisten für ihren Lebensunterhalt weltliche Arbeit.

Wie werden die Zeugen Jehovas gelenkt?

Die übergeordnete Körperschaft besteht aus sieben Geistlichen, die ein Direktorium bilden. Sie werden von den in 29 Ländern wohnenden 402 Mitgliedern der Wachturm-Gesellschaft gewählt. Das Direktorium wählt dann einen der Direktoren zum Präsidenten. Der gegenwärtige Präsident heißt N. H. Knorr und lebt in Brooklyn.

Wie stehen die Zeugen zur Ehescheidung?

Eheliche Untreue wird als Scheidungsgrund anerkannt. Ehebruch ist eine Verletzung eines göttlichen Gesetzes. Wird ein Zeuge Jehovas aus anderen Gründen geschieden und verheiratet sich dann wieder, so muß er aus der Kongregation ausgeschlossen werden.

Wie stehen die Zeugen zur Geburtenkontrolle?

Der Zweck der Ehe ist das Aufziehen von Kindern. Die Zeugen Jehovas betrachten die Geburtenkontrolle als eine rein persönliche Angelegenheit.

Warum lehnen die Zeugen Bluttransfusionen ab?

In Leviticus 17, Vers so, heißt es: „Wer auch immer irgend etwas von Blut ißt, den will ich von seinem Volk absondern." Und in der Apostelgeschichte 15, Vers 20: „ .. daß sie sich enthalten … vom Erstickten und vom Blut." Das ist klar und deutlich.

Die Zeugen Jehovas sehen keinen Unterschied darin, ob jemand Blut durch den Mund, die Nase oder intravenös aufnimmt. In Notfällen darf Blutsubstitut benutzt werden. Ein Zeuge Jehovas würde lieber „vorübergehenden" Tod auf sich nehmen, als einer Bluttransfusion zustimmen und sich damit den Unwillen Gottes zuziehen.

Wir verdammen nicht die medizinische Tätigkeit; unter den Zeugen Jehovas gibt es viele Ärzte und Zahnärzte.

Einige verteidigen die Bluttransfusion, weil sie Menschenleben rettet; dabei berufen sie sich auf Jesus als das größte Vorbild für eine Bluttransfusion. Diese Begründung ist aber hohl: das Blut Jesu Christi wurde nicht abgezapft und konserviert. Das wenige Blut, das wirklich vergossen wurde, tropfte zu Boden. Kein bißchen von seinem Blut wurde benutzt, um in die Venen eines anderen geleitet zu werden.

Warum gehen die Zeugen in anderer Leute Wohnungen und versuchen diese zu bekehren?

Die Zeugen Jehovas predigen in anderer Leute Wohnungen, weil auch Jesus dies tat und sie sich ihn zum Vorbild nehmen und seinem Beispiel folgen. Paulus sagt, er habe „öffentlich und von Haus zu Haus" gelehrt. Wir glauben, daß wir die dringlichste Botschaft aller Zeiten zu verkünden haben und daß wir daher der Bibel folgen und sie von Haus zu Haus tragen sollten.

Warum bieten die Zeugen an den Straßenecken schweigend Literatur an?

Viele Menschen sind in ihren Wohnungen nicht zu erreichen. Die Zeugen Jehovas glauben, sie müssen allen Menschen in der Welt predigen, bevor diese Generation dahinschwindet, und sie versuchen alle möglichen Wege, um dies zu tun. Das Predigen auf der Straße ist einer der Wege. Der Apostel Paulus predigte auf Marktplätzen. Jesus lehrte die Menschen auf den Straßen. Daher ist diese Methode in der Bibel begründet.

Warum werden die Zeugen Jehovas verfolgt?

Die Bibel sagt: „Und alle, die gottselig leben wollen in Christo Jesu, müssen Verfolgung leiden" (2. Timotheus, 3, 12). Die Zeugen Jehovas glauben, daß ihre Arbeit gottselig ist. Sie wissen, daß ihr eigentlicher Verfolger der Teufel ist. Sie wurden verhaftet, geschlagen, ins Gefängnis geworfen, und zwar in vielen Ländern, einschließlich aller kommunistischen, in denen sie verboten sind.

Halten die Zeugen ihren Glauben für den einzig wahren?

Sicher. Glaubten sie, daß jemand anders den wahren Glauben hätte, dann würden sie diesen predigen. Es gibt nur „einen Glauben", sagt Paulus.

Die Zeugen Jehovas glauben nicht, daß mehrere Wege zur Erlösung führen oder daß die Mehrheit der Menschen die genauen Vorbedingungen des wahren Glaubens erfüllen wird. Jesus zeigte schon, daß nur eine Minderheit Recht haben wird: „Eng ist der Pfad, der zum Leben führt, und nur wenige gibt es, die ihn finden werden."

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WAS IST EIN AGNOSTIKER?
Von Bertrand Russell

Bertrand Russell, Träger des Nobelpreises für Literatur, ist einer der schöpferischsten, schärfsten und bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts. Seine über vierzig Bücher stellen einen dauerhaften Beitrag zu vielen Wissensgebieten dar: zur Philosophie, Mathematik, Logik, Staatswissenschaft, Theorie der Erziehung und Bildung, zur Sozialwissenschaft. In der Urkunde zur Verleihung des Nobelpreises heißt es, er sei ein Denker, der „ständig als Verteidiger der Humanität und Gedankenfreiheit aufgetreten ist". Bertrand Arthur William Russell wurde 1872 in Ravenscroft, England, geboren. Seine Familie hat in der englischen Geschichte seit dem 16. Jahrhundert eine bedeutende Rolle gespielt. (Sein Großvater war zweimal Premierminister.) Als im Jahre 1931 sein älterer Bruder starb, wurde er der dritte Earl Russell, läßt sich aber nicht als Lord Russell anreden.

Bertrand Russells erste geistige Neigung galt der Mathematik (schon mit elf Jahren studierte er Euklid) und der Philosophie. Er erwarb sich auf dem Trinity College in Cambridge den akademischen Grad eines Master o f Arts und erregte 1903 internationale Aufmerksamkeit, als er sein Buch „The Principles of Mathematics" schrieb. Darin untersucht er die Beziehungen zwischen der Mathematik, Logik und Symbolik. In Gemeinschaftsarbeit mit Alfred North Whitehead schrieb er das monumentale dreibändige Werk „Principia Mathematica".

Russell war drei Jahrzehnte lang politisch sehr aktiv. Er gehörte zur Gesellschaft der Fabier, trat schon sehr früh für das Stimmrecht der Frau ein und kandidierte auch einmal für das Parlament. (Seine Liberale Partei stellte ihn jedoch nicht auf, weil er ein glühender Freidenker war.) Als Pazifist und Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen verbrachte er vier Monate lang in einem englischen Gefängnis (im ersten Weltkrieg). Er nutzte diese Zeit dazu, um sein bewundernswertes Werk „Introduction to Mathematical Philosophy" zu schreiben.

Mr. Russell ist weitgereist, und auch in den Vereinigten Staaten hat er viele Vorträge gehalten. Er lehrte an der Harvard Universität, der Universität Chikago, der National University in Peking (China), der Universität von Kalifornien, Los Angeles, und dem College der City von New York. Dort, so wird man sich vielleicht erinnern, gab es um ihn einen Proteststurm, weil er „ein Feind der Religion und Moral" war.

Die Erkenntnistiefe, Kraft und Originalität des Geistes von Russell werden schon allein in den Titeln einiger der Werke sichtbar, die ihn berühmt gemacht haben: Human Knowledge: Its Scope and Limits (Das menschliche Wissen), Darmstadt, 1952; Mysticism and Logic (Mystik und Logik), Stuttgart, 1952; Marriage and Morals (Ehe und Moral), Stuttgart, 1951; The Conquest of Happiness (Eroberung des Glücks), Darmstadt, 1951; The Scientific Outlook (Das naturwissenschaftliche Zeitalter), Stuttgart, 1953, A History of Western Philosophy (Philosophie des Abendlandes), Darmstadt, 1950; The Problems of China (China und das Problem des Fernen Ostens), München, 1923; The ABC of Relativity (ABC der Relativität), München, 1925; Freedom and Organization (Freiheit und Organisation), Berlin, 1948. Ferner (in deutscher Ausgabe nicht bekannt): The Principles of Mathematics; Our Knowledge of the External World; Why Men Fight; Roads to Freedom; A Free Man's Worship; Education and the Social Order. Unter den vielen Auszeichnungen, die Russell verliehen wurden, befinden sich der Verdienstorden, die Nicholas Murray Butler Medaille der Columbia Universität, die Sylvester-Medaille der Royal Society und die de Morgan Medal der Londoner Mathematischen Gesellschaft. Lord Russells literarischer Stil ist für seine Klarheit und Präzision berühmt. Er hat ihm einen hervorragenden Platz unter den Meistern der englischen Prosa verschafft. Als Russell 1950 den Nobelpreis erhielt, nannte die schwedische Akademie ihn „einen der brillantesten Vertreter der Rationalität und Humanität unserer Zeit, einen furchtlosen Vorkämpfer der Redefreiheit und Gedankenfreiheit des Westens".

Sind die Agnostiker Atheisten?

Nein. Genau wie ein Christ ist ein Atheist der Ansicht, daß wir wissen können, ob es einen Gott gibt oder nicht. Die Christen glauben, daß wir wissen können, daß es einen Gott gibt; der Atheist sagt, wir können wissen, daß es keinen Gott gibt. Der Agnostiker enthält sich jedoch des Urteils, weil es seiner Ansicht nach weder für noch gegen die Existenz Gottes genügend Beweise gibt. Gleichzeitig kann ein Agnostiker der Ansicht sein, daß die Existenz Gottes zwar nicht unmöglich, aber doch unwahrscheinlich sei; er kann sie sogar für so unwahrscheinlich halten, daß es für ihn nicht der Mühe wert erscheint, sich näher mit dieser Frage zu befassen. In diesem Falle steht er dem Atheisten sehr nahe. Seine Haltung entspräche etwa der eines nachdenklichen Philosophen gegenüber den Göttern des alten Griechenland. Sollte man mich auffordern zu beweisen, daß Zeus, Poseidon, Hera und die übrigen Bewohner des Olymp nicht existieren, könnte es mir sehr schwer fallen, schlüssige Argumente dafür zu finden. Ein Agnostiker kann den Gott der Christen für genauso unwahrscheinlich halten wie die Olympier. In diesem Falle ist er, aus Gründen der Zweckmäßigkeit, dem Atheisten gleichzusetzen.

Sie lehnen das „Gesetz Gottes" ab. - Welche Autorität erkennen Sie als Leitfaden der Lebensführung an?

Ein Agnostiker erkennt überhaupt keine „Autorität" in dem Sinne an, wie die religiösen Menschen es tun. Er meint, der Mensch soll seine Lebensführung selbst bestimmen. Natürlich wird er versuchen, auch von der Weisheit der anderen Menschen zu profitieren, aber er selbst wird bestimmen, wen er für weise hält, und er wird nichts von dem, was sie sagen, als unfehlbar ansehen. Er wird erkennen, daß das, was man für „Gottes Gebot" hält, von Zeit zu Zeit Änderungen unterliegt. Die Bibel sagt beides: daß eine Witwe nicht den Bruder ihres Mannes heiraten darf und daß sie es unter gewissen Umständen sogar tun muß. Hat jemand das Pech, eine kinderlose Witwe zu sein und einen unverheirateten Schwager zu haben, dann ist es für die betreffende logisch unmöglich, es zu vermeiden, daß das „Gebot Gottes" mißachtet wird.

Wissen Sie, was gut und böse ist?

Was ist für den Agnostiker eine Sünde?

Der Agnostiker ist bezüglich dessen, was gut und was böse ist, nicht so sicher wie manche Christen. Er teilt nicht die Ansicht vieler Christen der Vergangenheit, daß die Menschen, die in bezug auf abstruse Behauptungen der Theologie anderer Ansicht seien, eines schmerzlichen Todes sterben müssen. Er ist gegen jede Verfolgung und geht mit der moralischen Verurteilung sehr sparsam um.

Was die „Sünde" anbelangt, so hält der Agnostiker sie nicht für einen nützlichen Begriff. Natürlich gibt er zu, daß einige Verhaltensarten wünschenswert und andere weniger wünschenswert sind; doch ist er der Ansicht, daß sich eine Bestrafung der unerwünschten Art nur dann empfiehlt, wenn sie wirklich abschreckend oder reformierend wirkt, nicht aber, wenn sie deswegen auferlegt wird, weil man denkt, es sei eine gute Sache an sich, daß die Verdammten leiden sollen. Dieser Glaube an rächende Bestrafung war es, der dem Menschen den Begriff der Hölle einpflanzte. Das gehört auch zu dem Schaden, den der Begriff der „Sünde" anrichtet.

Tut ein Agnostiker, was ihm gefällt?

In einem Sinne ganz gewiß nicht; in anderem Sinne handelt jeder so, wie es ihm beliebt. Angenommen, Sie hassen jemanden so sehr, daß Sie ihn umbringen könnten. Warum tun Sie das nicht? Sie werden vielleicht antworten: „Weil die Religion sagt, Mord sei eine Sünde." Statistisch gesehen neigen aber die Agnostiker nicht mehr zum Mord als andere Menschen, sogar weniger. Sie haben die gleichen Motive, die sie vom Mord zurückhalten, wie andere Leute. Das bei weitem mächtigste Motiv ist die Furcht vor Strafe. In gesetzlosen Zeiten, so zur Zeit des Goldrausches, pflegen alle Arten von Menschen Verbrechen zu begehen, obwohl sie unter normalen Verhältnissen gesetzestreu gewesen wären. Abschreckend wirkt aber nicht nur die wirkliche Bestrafung; man muß auch die Unruhe der Angst vor drohender Entdeckung dazu rechnen, ferner das Wissen, daß man selbst gegenüber den engsten Freunden eine Maske tragen muß, wenn man nicht gehaßt werden will. Schließlich gibt es auch noch etwas, das man das „Gewissen" nennen kann. Sollte man jemals einen Mord in Betracht ziehen, dann würde man die schreckliche Erinnerung an die letzten Augenblicke des Opfers oder an den leblosen Leichnam fürchten. Zwar ist alles das davon abhängig, daß man in einer gesetzesfürchtigen Gemeinschaft lebt; es gibt aber auch eine Unmenge weltlicher Gründe für die Schaffung und Erhaltung einer solchen Gemeinschaft. Ich sagte, daß der Mensch noch in einem anderen Sinne so handelt, wie es ihm beliebt. Nur ein Narr gibt jeweils seinen Impulsen nach; was aber bestimmte Wünsche unter Kontrolle hält, sind jeweils andere Wünsche. Die antisozialen Wünsche eines Menschen können beispielsweise durch den Wunsch im Zaume gehalten werden, Gott zu gefallen; es kann aber auch genauso sehr der Wunsch sein, seinen Freunden zu gefallen, die Achtung der Mitmenschen zu gewinnen oder in der Lage zu sein, sich selbst ohne Ekel zu betrachten. Hat jemand keinen solcher Wünsche, dann werden ihn rein abstrakte Moralvorschriften allein nicht auf dem rechten Wege halten.

Wie steht ein Agnostiker zur Bibel?

Der Agnostiker steht zur Bibel genauso wie ein aufgeklärter Geistlicher. Er hält sie nicht für von Gott inspiriert, sondern für eine frühe historische Legende, die keinen größeren Wahrheitsgehalt besitzt als Homer. Er glaubt ferner, daß ihre moralischen Lehren manchmal gut, manchmal schlecht seien. Ein Beispiel: Samuel gab Saul den Befehl, im Kriege nicht nur jeden Mann, jede Frau und jedes Kind des Feindes zu töten, sondern auch die Schafe und das übrige Vieh. Saul ließ jedoch Schafe und Vieh leben, und deshalb heißt man uns, ihn zu verdammen. Ich habe mich auch nie imstande gesehen, Elisa zu bewundern, weil er den Kindern fluchte, die ihn auslachten, oder zu glauben (was die Bibel behauptet), daß eine wohlwollende Gottheit zwei Bärinnen schicken würde, um die Kinder zu töten.

Wie steht ein Agnostiker zu Jesus, zur jungfräulichen Geburt und zur Dreieinigkeit?

Da ein Agnostiker nicht an Gott glaubt, kann er auch Jesus nicht für göttlich halten. Die meisten Agnostiker bewundern das Leben und die Lehre Jesu, wie es in den Evangelien geschildert wird. Er bewundert sie aber nicht unbedingt mehr als die anderer Männer. Einige pflegen ihn mit Buddha, andere mit Sokrates und weitere wieder mit Abraham Lincoln zu vergleichen. Sie glauben auch nicht, daß das, was er sagte, nicht angezweifelt werden kann, da sie keine Autorität als absolut anerkennen.

Die jungfräuliche Geburt ist für sie eine aus der heidnischen Mythologie übernommene Lehre, da dort solche Geburten durchaus nichts Ungewöhnliches waren. (Zoroaster soll von einer Jungfrau geboren worden sein; Ishtar, die babylonische Göttin, wird die Heilige Jungfrau genannt.) Sie können weder an die jungfräuliche Geburt noch an die Dreieinigkeit glauben, da alle diese Glaubensinhalte den Glauben an Gott voraussetzen.

Kann ein Agnostiker Christ sein?

Das Wort „Christ" hat zu den verschiedensten Zeiten verschiedene Bedeutungen gehabt. In den meisten Jahrhunderten seit Christi Zeiten bedeutete es, daß jemand an Gott und die Unsterblichkeit glaubte und Christus für Gott hielt. Aber auch die Unitarier nennen sich Christen, obwohl sie nicht an die Göttlichkeit Christi glauben, und heute gebrauchen viele Menschen das Wort Gott in einem viel weniger präzisen Sinne als dies einst üblich war. Viele Leute, die von sich sagen, sie glaubten an Gott, meinen aber nicht mehr eine Person oder eine Dreieinigkeit von Personen, sondern nur eine vage Tendenz oder Kraft oder einen der Evolution innewohnenden Zweck. Andere, die noch weiter gehen, verstehen unter „Christentum" nur ein System der Ethik, das sie, da sie sich in der Geschichte nicht auskennen, für das besondere Charakteristikum nur der Christen halten.

In einem meiner letzten Bücher schrieb ich, was die Welt brauche, sei „Liebe, christliche Liebe oder Mitgefühl". Viele Leser glaubten daraufhin, daß dies einen Wandel meiner bisherigen Einstellung bedeute, obwohl ich sinngemäß schon oft solche Äußerungen getan habe. Verstehen Sie unter „Christ" einen Menschen, der seinen Nächsten liebt, der für alle Leiden großes Mitgefühl empfindet und mit brennendem Herzen eine Welt erstrebt, die frei von Grausamkeiten und Greueln ist, die sie jetzt so entstellen, dann kann man auch mich ganz gewiß einen Christen nennen.

In diesem Sinne wird man unter den Agnostikern mehr „Christe" finden als unter den Orthodoxen. Ich kann meinerseits eine solche Definition nicht anerkennen. Ganz abgesehen von anderen Einwänden, scheint mir das eine Grobheit gegenüber Juden, Buddhisten, Mohammedanern und anderen Nichtchristen, die, soweit die Geschichte uns lehrt, mindestens genauso in der Lage gewesen sind wie die Christen, die Tugenden zu üben, von welchen die modernen Christen so arrogant behaupten, sie seien das besondere Kennzeichen ihrer Religion.

Ich glaube auch, daß alle, die sich früher Christen nannten, und ein großer Teil derer, die es heute tun, den Glauben an Gott und die Unsterblichkeit für wesentliche Charakteristika eines Christen halten. In diesem Sinne könnte ich mich nicht einen Christen nennen, und in diesem Sinne möchte ich sagen: ein Agnostiker kann kein Christ sein. Sollte aber das Wort „Christentu" nur eine Ethik bezeichnen, dann kann auch ein Agnostiker Christ sein.

Leugnet ein Agnostiker die menschliche Seele?

Diese Frage hat so lange keinen genauen Sinn, solange wir keine Definition des Wortes „Seele" haben. Man meint damit vermutlich irgend etwas Immaterielles, das im ganzen Leben des Menschen und für alle, die an die Unsterblichkeit glauben, auch in Zukunft besteht. In diesem Sinne wird ein Agnostiker vermutlich nicht an die menschliche Seele glauben. Ich möchte hier aber gleich hinzusetzen, daß dies nicht bedeutet, ein Agnostiker müsse Materialist sein. Viele Agnostiker hegen (genau wie ich) Zweifel an der Körperlichkeit und an der Seele, das ist aber eine lange Geschichte, die uns zu weit ins Metaphysische führen würde. Geist und Materie, so möchte ich sagen, sind nur nützliche Symbole für die Erörterung, aber keine wahrhaft existierenden Dinge.

Glaubt ein Agnostiker an das „Danach", an Himmel oder Hölle?

Die Frage, ob Menschen den Tod überleben, ist eine derer, die beweisfähig sind. Physikalische Forschung und Spiritismus sollen nach Ansicht vieler diesen Beweis liefern können. Ein Agnostiker nimmt zum Fortleben nach dem Tode erst dann Stellung, wenn es dafür oder dagegen wirkliche Beweise gibt. Was mich selbst betrifft, so habe ich keine guten Gründe zur Annahme, daß es ein Fortleben nach dem Tode gibt. Ich lasse mich jedoch gern vom Gegenteil überzeugen, falls sich Beweise dafür finden lassen.

Himmel und Hölle sind etwas anderes. Der Glaube an die Hölle ist an den Glauben gebunden, daß die rächende Bestrafung der Sünde an sich gut sei, ganz unabhängig von dem reformerischen oder abschreckenden Effekt, den sie haben kann. Es gibt kaum einen Agnostiker, der daran glaubt. Was den Himmel anbelangt, so könnte es eines Tages auf dem Wege über den Spiritismus vielleicht Beweise für seine Existenz geben. Die meisten Agnostiker glauben aber nicht, daß es solche Beweise gibt und glauben daher auch nicht an den Himmel.

Haben Sie keine Angst vor Gottes Richterspruch, wenn Sie ihn verleugnen?

Aber ganz gewiß nicht. Ich leugne ebenso die Existenz von Zeus, Jupiter, Odin und Brahma, ohne daß mir das Gewissensbisse bereitet. Ich kann außerdem feststellen, daß ein großer Teil der Menschheit nicht an Gott glaubt und dennoch keinerlei sichtbare Bestrafung erleidet. Gäbe es aber einen Gott, dann hielte ich es für sehr unwahrscheinlich, daß er von solcher Eitelkeit erfüllt wäre und sich von denen beleidigt fühlte, die seine Existenz bezweifeln.

Wie erklärt der Agnostiker die Schönheit und Harmonie der Natur?

Ich kann es nicht verstehen, wo diese „Schönheit" und diese „Harmonie" zu finden sein sollen. In der Welt des Tieres frißt die eine Gattung die andere rücksichtslos auf. Die meisten Tiere werden entweder auf grausame Weise von anderen umgebracht oder sie sterben einen langsamen Hungertod. Ich kann auch nicht finden, daß der Bandwurm besondere Schönheit oder Harmonie besitzt. Man sage mir nicht, dieses Tier sei dem Menschen als Strafe geschickt worden, denn er herrscht im Tierreich mehr vor als bei den Menschen. Ich nehme an, der Fragesteller denkt an solche Dinge wie den gestirnten Himmel. Da sollte man aber doch auch daran denken, daß immer wieder Himmelskörper explodieren und alles in ihrer Nachbarschaft in Weltennebel verwandeln. Auf jeden Fall ist Schönheit ein subjektiver Begriff und existiert nur im Auge des Schauenden.

Wie erklären Agnostiker Wunder und andere Offenbarungen der göttlichen Allmacht?

Die Agnostiker sind nicht der Ansicht, es gebe Beweise für „Wunder" im Sinne von Geschehnissen, die eine Durchbrechung der Naturgesetze darstellen. Wir wissen, daß es Wunderheilungen gibt und halten sie für keineswegs wunderbar. In Lourdes können gewisse Krankheiten geheilt werden, andere aber nicht. Diejenigen, die in Lourdes geheilt werden können, können es wahrscheinlich auch von jedem Arzt, zu dem sein Patient Vertrauen besitzt. Was Berichte über andere Wunder anbelangt, etwa den Befehl Josuas, die Sonne möge stillstehen, so gelten diese dem Agnostiker nur als Legenden. Der Agnostiker weist darauf hin, daß alle Religionen voller solcher Legenden sind. Für die Existenz der griechischen Götter gibt es bei Homer genau solche wunderbaren Beweise wie für die des Christengottes in der Bibel.

Es gibt in der Welt böse und grausame Leidenschaften, die von der Kirche bekämpft werden. Könnte die Menschheit existieren, wenn man diese religiösen Prinzipien aufgäbe?

Die Existenz böser und grausamer Leidenschaften ist unleugbar; ich finde in der Geschichte jedoch keinen Beweis dafür, daß die Religion diese Leidenschaften bekämpft hätte. Im Gegenteil: sie hat sie gerechtfertigt und es den Menschen ermöglicht, ihnen ohne Gewissensbisse nachzugehen. Grausame Verfolgungen gab es im Christentum mehr als in anderen Religionen. Was diese Verfolgungen zu rechtfertigen scheint, ist nur dogmatischer Glaube. Güte und Toleranz können heute nur in dem Maße gedeihen, in dem der dogmatische Glaube verfällt. In unserer Zeit ist eine neue, dogmatische Religion entstanden: Der Kommunismus. Der Agnostiker wendet sich gegen diesen genauso gegen jede andere Dogmatik. Die Verfolgungen seitens des Kommunismus sind genau dieselben wie seinerzeit die vom Christentum inszenierten. Soweit die Christenheit sich nicht mehr so sehr der Verfolgung anderer widmet, ist das vor allem der Arbeit der Freidenker zuzuschreiben, die Dogmatiker zu weniger dogmatisch denkenden Personen gemacht hat. Wären sie heute noch so dogmatisch wie früher, würden sie es immer noch für richtig halten, daß Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt würden. Der Geist der Duldsamkeit, den einige moderne Christen für wesentlich christlich halten, ist in Wahrheit das Ergebnis einer Veranlagung, die Zweifel zuläßt und gegenüber jeder absoluten Gewißheit Zweifel hegt. Ich glaube, daß jeder, der die Geschichte unparteiisch betrachtet, zu der Schlußfolgerung gelangen muß, daß die Religion mehr Leiden verursacht als verhindert hat.

Worin sieht der Agnostiker den Sinn des Lebens?

Hier fühle ich mich veranlaßt, mit einer Gegenfrage zu antworten: Was soll das bedeuten, „Sinn des Lebens"? Ich nehme an, es soll ein allgemeiner Zweck gegeben sein, glaube aber nicht, daß das Leben im allgemeinen überhaupt einem Zweck folgt. Es ist einfach da. Die einzelnen Menschen haben Ziele und folgen Zwecken, und es gibt nichts im Agnostizismus, was darauf hin arbeitete, daß diese Menschen ihre Zielsetzungen aufgeben. Natürlich haben sie keine Gewißheit, daß sie auch die Ergebnisse erzielen werden, die sie erstreben. Man würde aber wohl nichts von einem Soldaten halten, der sich weigerte zu kämpfen, solange der Sieg nicht gesichert scheint. Derjenige, der eine Religion braucht, um seinen eigenen Zielsetzungen mehr Rückhalt zu geben, ist ein schüchterner oder furchtsamer Mensch. Ich kann von ihm nicht genauso gut denken wie von einem anderen, der seine Chance wahrt und dabei eingesteht, daß er vielleicht auch scheitern könnte.

Ist Leugnung der Religion nicht gleichbedeutend mit Ablehnung von Ehe und Keuschheit?

Auch hier muß man mit einer Gegenfrage antworten: Glaubt der Fragesteller, daß Ehe und Keuschheit zum irdischen Glück hienieden beitragen, oder meint er, man sollte diese beiden Begriffe als beste Vorbereitung für den Himmel propagieren, weil sie auf Erden soviel Unannehmlichkeiten mit sich bringen? Wer letzterer Anschauung huldigt, wird zweifelsohne erwarten, daß der Agnostizismus zum Verfall dessen führt, was er Tugend nennt. Er wird aber zugeben müssen, daß das, was er Tugend nennt, nicht zum Glück der menschlichen Rasse beiträgt, solange sie auf Erden weilt. Steht er aber zur vorerwähnten Ansicht, daß es nämlich irdische Argumente zugunsten von Ehe und Keuschheit gibt, dann müssen diese Argumente auch so fundiert sein, daß sie vom Agnostiker akzeptiert werden können. Der Agnostiker als solcher hat keine eigenen und unterschiedlichen Ansichten über sexuelle Ethik. Die meisten Agnostiker werden aber ohne weiteres zugeben, daß es gute Argumente dafür gibt, dem Menschen nicht eine zügellose Befolgung seiner sexuellen Bedürfnisse zu gestatten. Solche Argumente würden sie dann aber aus irdischen Quellen beziehen und nicht von vorausgesetzten göttlichen Geboten.

Ist nicht der Glaube an die Vernunft allein ein gefährlicher Glaube? Ist Vernunft ohne geistige und ethische Gesetze nicht unvollkommen und unangebracht?

Kein vernünftiger Mensch, auch kein Agnostiker, „glaubt an die Vernunft allein". Die Vernunft gibt sich mit Tatsachen ab, von denen einige beobachtet, andere als Folgerung gezogen werden. Die Frage, ob es ein Leben nach dem Tode und ob es Gott gibt, betrifft Tatsachen. Der Agnostiker wird daher der Ansicht sein, sie sollten etwa auf die gleiche Art untersucht werden wie die Frage: „Wird es morgen eine Mondfinsternis geben?" Tatsachen allein genügen aber nicht, um eine Handlung in Gang zu bringen, da sie uns nichts über ihren Sinn und Zweck sagen. In bezug auf die Ziele einer Handlung brauchen wir etwas anderes als nur Vernunft. Der Agnostiker wird die Ziele im eigenen Herzen finden und nicht in einem von außen gegebenen Gebot. Man nehme folgendes Beispiel: Angenommen, man möchte mit der Eisenbahn von New York nach Chikago reisen. Dann wird man die Vernunft gebrauchen, um herauszufinden, wann der Zug fährt. Jemand, der glauben sollte, es sei eine besondere Gabe der Einsicht oder der Intuition, die es ihm ermöglicht, auf den Fahrplan zu verzichten, würde von den anderen als reichlich närrisch angesehen werden. Kein Fahrplan wird ihm aber sagen, es sei klug, nach Chikago zu fahren. Kein Zweifel: Hält er diese Fahrt für klug und angebracht, dann muß er auch eine Reihe von anderen Tatsachen berücksichtigen. Hinter allen Tatsachen aber stehen Zielsetzungen, die er für befolgenswert hält. Diese aber gehören nach Ansicht des Agnostikers und anderer Menschen zu einem Bereich, der nichts mit Vernunft zu tun hat, obwohl er in keiner Weise im Gegensatz zur Vernunft stehen darf. Ich meine den Bereich des Emotionellen, der Gefühle und der Wünsche.

Halten Sie alle Religionen für Aberglauben oder Dogmen? Welche der bestehenden Religionen achten Sie am meisten und warum?

Alle großen organisierten Religionen, die große Bevölkerungsschichten beherrscht haben, enthielten in mehr oder weniger starkem Maße Dogmen. „Religion" aber ist ein Wort, dessen Bedeutung nicht klar definiert ist. Man könnte beispielsweise den Konfuzianismus eine Religion nennen, obwohl er kein Dogma kennt. In einigen Formen des liberalen Christentums ist das Dogmatische auf ein Mindestmaß reduziert.

Von den großen geschichtlichen Religionen ziehe ich den Buddhismus den anderen vor, vor allem den Buddhismus der Frühzeit, weil er am wenigsten durch Verfolgungen anderer Religionen gekennzeichnet ist.

Auch der Kommunismus lehnt die Religion ab. Sind die Agnostiker deswegen Kommunisten?

Der Kommunismus lehnt die Religion nicht ab. Er ist nur gegen die christliche Religion eingestellt, genauso wie die Mohammedaner es sind. Der Kommunismus ist ein neues System von Dogmen mit besonderer Ansteckungsfähigkeit und einem besonderen Verfolgungstrieb, zumindest der Kommunismus der Prägung, wie er von der sowjetischen Regierung und der Kommunistischen Partei propagiert wird. Jeder echte Agnostiker muß sich daher gegen den Kommunismus wenden.

Glauben die Agnostiker, Wissenschaft und Religion lassen sich unmöglich versöhnen?

Die Antwort hängt davon ab, was man unter „Religion" versteht. Bedeutet sie nur ein System der Ethik, dann kann sie mit der Wissenschaft auf einen Nenner gebracht werden. Bedeutet Religion aber ein dogmatisches System, das man nicht in Zweifel ziehen darf, dann ist sie mit dem wissenschaftlichen Geist unvereinbar. Denn dieser weigert sich, Tatsachen ohne Beweise als solche anzuerkennen und ist auch der Ansicht, daß vollständige Gewißheit kaum jemals erreichbar ist.

Welche Beweise könnten Sie von der Existenz Gottes überzeugen?

Ich glaube, wenn ich eine Stimme vom Himmel hörte, die alles voraussagt, was mir in den nächsten 24 Stunden zustößt, einschließlich solcher Geschehnisse, die als höchst unwahrscheinlich gelten müßten, und wenn dann wirklich alles so einträfe, könnte ich vielleicht zumindest von der Existenz einer übermenschlichen Intelligenz überzeugt werden. Ich könnte mir noch andere ähnliche Beweise vorstellen, die mich überzeugen könnten; soweit mir bisher bekannt ist, gibt es sie aber nicht.

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