Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Brigitta Hack

Einleitender Hinweis.

Gelegentlich gab es auf einigen Webseiten zum anhören auch schon mal ein berüchtigtes Dokument. Die Himmler-Rede 1943 in Posen. Mögen einige Webseiten besagtes Dokument dann auch wieder gelöscht haben (so dass eine sinnvolle Verlinkung hier nicht mehr möglich ist), sei zumindest darauf verwiesen. Auch Nur-Text jener Rede lässt sich im Internet eruieren.

Eine (veraltete) URL diesbezüglich war:
http://www.nationalsozialismus.de/dokumente/textdokumente/heinrich-himmler-posener-rede-vom-04101943-volltext
Da Herr Himmler hier nicht "Haupthema" sein kann, wird darauf verzichtet, eine andere URL zu suchen ("Interessenten" können es fallweise selber tun).

Das empfohlene Tondokument veranschaulicht in exemplarischer Weise jene Geisteshaltung, welche das NS-Regime beseelte.
In diesem Kontext eingeordnet - und das ist meines Erachtens unabdingbar - wird auch deutlich, wie die Chancen von Nonkonformisten - auch religiösen Nonkonformisten - im Nazi-Regime bestellt waren.

Man sagt den Zeugen Jehovas nach, sie seien partiell "freiwillige" Gefangene in den KZ des Naziregimes gewesen. Dergestalt, dass sie sich ihre Freiheit mittels einer Unterschrift unter eine dubiose Abschwörungserklärung hätten erkaufen können. Nur eine äußerst bescheidene Minderheit nutzte diese Option. Was der NS-Staat da faktisch verlangte, war eine erzwungene "Liebeserklärung". Erzwungen von Opfern die in ihrem Inneren - und vielfach auch äußeren - nur Hass und Verachtung für das Naziregime übrig hatten.
Das die Nazis daher mit ihrer Zeugen Jehovas-Politik der ersten Jahre scheiterten (scheitern mussten) liegt auf der Hand.

Die Menschen, die da nur Hass und Verachtung für das Naziregime übrig hatten, waren hochmotiviert. Endzeit-Motiviert. Nicht wenige von ihnen hatten schon dem "Endzeitjahr 1925" zugefiebert. Jenes Jahr verging. Die Endzeit-Fieberhaltung indes nicht.
Noch Anfang 1933 wurde auf Geheiß ihres "Häuptlings" (Rutherford) eine groß angelegte Verteilaktion mit der Broschüre "Die Krise" vorgenommen.

Man vergleiche dazu:
19332Krise

Deren Verteiler verstanden den Begriff durchaus wörtlich. Die herbeigekommene Krise als Endzeit-Zeichen.

Herbeigekommen indes war das Naziregime. Nach Jahren von Inflation, Massenarbeitslosigkeit und Weimarer Republik-Selbstzerfleischung, wähnte man sich als "Aufbruch zu neuen Ufern". Und ihren "Führer" als neue "Lichtgestalt".

Und da waren sie nun die Endzeit-Sektierer mit ihrer Krisen-Botschaft.
Einer ihrer Lieblings-Bibelsprüche, auch und besonders in jener Zeit, der aus Psalm 146:3 (zitiert nach der von ihnen damals mit Vorliebe verwandten Elberfelder Bibelübersetzung)

"Vertrauet nicht auf Fürsten, auf einen Menschensohn, bei welchem keine Rettung ist!"

Genau dieses Vertrauen aber, wollte das Naziregime im Übermaß einfordern.
Das konnte nur in Form eines gewaltigen Aufeinanderprallens sein Ende mit Schrecken finden.
Und nun war es da, jenes menschenverachtende System. Das dies letztendlich die "Fieberkurve" nur noch anheizte, anstatt "abzukühlen" war doch zu offenkundig.

Jene Fieberkranken nahmen es auch in Kauf; dieweil Quacksalber ihre "Ärzte" unter allerlei Umweltbedingungen noch jene für sich auszuwählen, welche ihre Fieberkurve noch zusätzlich ansteigen ließen.

Herr W. zitierte auf einer der "Standhaft"-Veranstaltungen, jener vom 18. 4. 2000 in Karlsruhe, einmal einen Brief von Rutherford an Zeugen Jehovas in Hamburg (ganz offensichtlich an den dortigen "englischen Korrespopndenten" Hero von Ahlften adressiert). In der Sache drehte es sich darum, wie dem Ansinnen des Naziregimes in Sachen Hitlergruß zu begegnen sei. An dem Brief ist eines vor allem anderen interessant. Das Datum. Laut W. von Rutherford am 20. September 1933 verfasst. Also zu einem Zeitpunkt, wo die WTG nachweisbar, noch ernsthaft glaubte mit den Nazis doch noch zu einem Arrangement kommen zu können. Diese Blütenträume zerstäubten dann zwar. Im September 1933 indes war es noch nicht so weit.

Nun soll es nach W. auch in der Hitlergruß-Frage in späteren Jahren noch Verschärfungen gegeben haben. Indes ist der Text jener Rutherford-Antwort trotz eben genannten Umstandes, dennoch beachtlich zu nennen.
Damals schrieb Rutherford, dem genannten Fragesteller, zum genannten Zeitpunkt:

"Die dem Herrn ergeben sind, haben keinen Streit mit den Regierungen, obschon sie von Regierungsbeamten mißverstanden und falsch dargestellt werden. Wenn jemand bei der Finanzbehörde des Deutschen Staates angestellt ist, und von ihm verlangt wird, dass er beim Eintritt in das Büro grüßt, dann sollte er dies entweder tun oder seine Stelle aufgeben. Und wofür er sich entscheidet, muss er für sich selbst festlegen."

Also damals wollte Rutherford höchstpersönlich, die sich anbahnenden Konflikte noch nicht auf die Spitze treiben. Es wäre durchaus machbar gewesen diese "geschmeidige Politik" beizubehalten. Manches Leid hätte abgemildert werden können.
Indes der Herr im sicheren San Diego entschloss sich dies so nicht weiter laufen zu lassen, und auch seinerseits auf Konfrontation umzuschalten.

Wenn die vielfältigen Opfer in der Nazizeit beklagt werden, dann hat auch der Herr aus San Diego, Wohnadresse "Beth Sarim" (Haus der Fürsten) seinen Anteil daran!

Das diese Konflikte (auch) auf den Rücken von Kindern und Jugendlichen ausgetragen wurden, wusste man bereits früher.

In einer mehrbändigen Dissertation aus dem Jahre 2004 mit dem Titel "Die Kinder von Zeugen Jehovas unter dem Dritten Reich. Verfolgung von Kindern und Jugendlichen in Europa" schreibt deren Autorin - Carlen Beaurain - in einem Selbstreferat (auszugsweise):

" ... Hitler versprach sogar‚ diese Brut aus Deutschland auszurotten! Was konnte den Fuehrer bei dieser kleinen Gemeinschaft so stoeren ? Vor allem die zahlreichen religioes begruendeten Verweigerungen, wie beispielsweise ihre Weigerung den Hitlergruss zu leisten, nazistische Lieder zu singen, nazistischen Parteien und Organisationen beizutreten, den Kriegsdienst zu leisten oder in irgend einer Form den Krieg zu unterstuetzen. Die Kinder der Zeugen Jehovas waren in ihrer Verweigerung genau so kategorisch. Was waren die Folgen ? Für die Erwachsenen: Verfolgung, Gefangenhaltung, Brutalitaeten, Hinrichtungen, Lagerhaft, Experimente.
Und für die Kinder? Nach meinen Forschungsergebnissen wurden europaweit 969 Kinder von Zeugen Jehovas (469 Maedchen und 500 Jungen) verfolgt:
37% wurden in der Schule diskriminiert, 4,6% durften einen gewuenschten Lehrberuf nicht ergreifen, 10,3% wurden durch die Haft der Eltern von ihnen getrennt, 43% kamen zu Pflegefamilien, in Kinder- oder Erziehungsanstalten, 7,2% waren im Gefaengnis, 10,1% im KZ, 2% wurden hingerichtet, 4,6% waren bei Hausdurchsuchungen oder Verhoeren dabei, 2% verstarben (ohne offizielle Hinrichtung), 0,3% wurden sexuell misshandelt, an 0,4% wurden medizinische Experimente durchgefuehrt und 2,5% von ihnen wurden zur Arbeit gezwungen.
Sie wurden als Staatsfeinde betrachtet, weil sie sich dem Totalitaetsanspruch der Nazis verweigerten. Die meisten Zeugen Jehovas moechten selber nicht als "Widerstandskämpfer" bezeichnet werden. In diesem Sinne waere "Zivilcourage" passender als der Begriff "Widerstand". Diese Passivitaet wurde aber zu einem europaweiten stummen Aufstand.
Daraus ergeben sich prinzipielle Fragen: Ist Verweigerung per se schon Widerstand? Stoff zum Nachdenken über den Umfang des Widerstandsbegriffes."

Eben genannte Dissertation ist zwar in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien vorhanden. Andernorts indes ist ihre „Greifbarkeit" mehr als schwierig.

Da sieht es mit einer anderen Arbeit zum Thema (auch eine Dissertation) schon erheblich besser aus. Die Rede soll jetzt sein von Brigitta Hack „Bibelforscher-Kinder. Jehovas Zeugen in der NS-Zeit im Spiegel erzählter Kindheits- und Jugenderinnerungen."
Im Gegensatz zu der vorgenannten Arbeit liegt ihr nicht zu unterschätzender Vorteil auch darin. Sie ist über den Buchhandel erhältlich (und mit entsprechender zeitlicher Verzögerung), dann sicherlich auch noch im Bestand einiger führender wissenschaftlichen Bibliotheken zugänglich.

Unter Bezugnahme auf WTG-Quellen beziffert die Autorin die Zahl der Sorgerechtsfälle im NS-Regime mit Zeugen Jehovas-Bezug auf 860 bekanntgewordene Fälle. Eventuell auch eine vermutete höhere Zahl.
Dies veranlasst sie zu dem Ausruf:

"Wie stark müssen die Ängste und Nöte der Bibelforscher-Kinder gewesen sein, wenn die Betroffenheit derjenigen, die glimpflich davon gekommen waren, noch nach Jahrzehnten zu spüren war." (S. 3)
Und weiter:

"Zudem stellt sich die Frage, ob die Qualen, Verluste und Bestrafungen nur aufgrund des unbeugsamen Handelns aus Glaubensgründen als ein Zeichen der "Lauterkeit" zu verstehen sind." (S. 4), wie dies in den WTG-Publikationen so interpretiert wird."

Ihre selbstgestellte Zielstellumg, eingebettet in einer Volkskundlichen Untersuchung, besteht einerseits darin, die WTG-Prämissen zum Thema entweder zu bestätigen, oder partiell davon abzuweichen.
Zum anderen, der genannter Opfergruppe (eben speziell den Kindern der zeitgenössischen Bibelforscher) noch im nachhinein "ein Gesicht" zu geben. Also eine "Gruppe" in Individualschicksalen, transparenter zu machen.

Dabei muss sie konstatieren:
"Doch die Beschreibungen über die Schicksale der Bibelforscher-Kinder kann im Vergleich zu den Lebens- und Leidensgeschichten der erwachsenen Zeugen Jehovas als dürftig bezeichnet werden Aus Sicht der Glaubensgemeinschaft ist dies jedoch nachvollziehbar: Deren Ziel ist es, den festen Glauben der Getreuen zu dokumentieren." S. 12)

Vereinfacht formuliert. Die WTG-Quellen bieten in der Regel das Bild einer "Heldensaga". Inwieweit die Wirklichkeitsadäquat ist, müsse auch ein Untersuchungsgegenstand sein.

"Was das Kind selbst empfand und wie es mit der ungewohnten Situation in der fremden Umgebung zurechtkam (nach einem Sorgerechtsentzug), gehört zu den marginalen Fragen der Glaubensgemeinschaft. Denn nicht das Wohlbefinden, sondern die Glaubensstärke mussten hinterfragt und zum Wohle aller dokumentiert werden." (S. 13)

Angesichts der verhältnismäßig dünn gesäten veröffentlichten Studien und Erlebnisberichte über das Schicksal von Bibelforscher-Kinder im NS-Regime, entschloß sich die Autorin in Kooperation mit der WTG und unter ausdrücklicher Nutzung ihrer Ressourcen, "Fragebogen" zu verschicken. Man vernimmt, dass die WTG es nicht versäumte dabei auch "gestaltend" mit zu wirken (S. 20f.) Zwar habe die WTG alle gewünschten Fragen der Autorin weitergeleitet. Aber man kann sich unschwer vorstellen, dass die Rückantworten, die über die WTG-Kanäle weitergeleitet, wohl kaum Akzente aufwiesen, die vielleicht bei einer Direktbefragung ohne WTG-Beteiligung "herauskristallisierbar" gewesen wären.

Charakteristisch auch ein Satz wie der (S. 190):
"Eine Erhebung wurde zwar in der Wohnung der Zeugin vorgenommen, bekam aber durch die Anwesenheit eines Mitarbeiters der Wachtturm-Gesellschaft eine formale Form. Fünf weitere Interviews hatten einen offiziellen Charakter. Drei dieser Gespräche wurden im Rahmen der Ausstellung "Standhaft trotz Verfolgung" in Darmstadt bzw. Wetzlar geführt, zwei Interviews erfolgten im Geschichtsarchiv in Selters."

Von den eingangs genannten 860 Fällen muss unsere Autorin dann zur Kenntnis nehmen. Diese Zahl stammt im wesentlichen aus statistischen Erhebungen, unmittelbar nach 1945. Eine Untermauerung durch umfängliche Detailberichte, die über den Rahmen einer Fragebogenbeantwortung hinausgingen, erfolgte damals, und auch weitere Jahrzehnte danach nicht. Als die Autorin sich ab etwa 1998 mit diesem Thema zu beschäftigen begann, kann sie somit keineswegs aus einem bereits vorhandenen umfänglichen "Fundus" schöpfen.

Damit ist zugleich schon das Urteil gesprochen, welchen "Stellenwert" die Untersuchung von Frau Hack in einer Geschichtssicht haben kann, die sich eben nicht der WTG-Heldensaga verpflichtet weis.
Eingeräumt sei. Günther Pape's Buch oder (marginal) auch "Infolink" als Internetquelle, kommen am Rande in ihrer Untersuchung mit vor. Am Rande ...

Im Gegensatz etwa zu einem Detlef G. würde ich Frau Hack bescheinigen, dass sie durchaus im Sinne des Roman-Sujets von Stefan Heym ("Der König David-Bericht" mit seiner Parabel, dass ein Historiker in einem Geschichtsbericht, der eigentlich "allen Zweifeln ein Ende bereiten sollte", der aber für die Herrschenden weitgehend wertlos wurde, dieweil sich in ihm verstreut auch "unerlaubte Gedanken" vorfinden). Also einem Detlef G. würde ich die Kunst das zu beherrschen, eher

n i c h t bescheinigen. Anders schon Frau Hack. G. weiß "bestenfalls" von "Glaubensgehorsam" zu faseln (eine seiner Wortkreationen, auch dort wo er konkreter werden müsste, es aber nicht wird).

Ihre bereits genannte Abhängigkeit von den WTG-Apparatschicks, hat Frau Hack doch nicht daran gehindert, "hier und da" so ein paar solcher für die Herrschenden (sprich die WTG) unerlaubte Gedanken in ihre Geschichte mit einzustreuen, die doch eigentlich "allen Zweifeln ein Ende bereiten sollte".

Als ein Beispiel dazu mag auch ihr Zitat auf Seite 86 dienen:
"Die angewandte "Kriegslist" gehörte zu den Methoden, den Glauben auch in den Ländern zu verbreiten, in denen die WTG verboten war. "Lügen sind Unwahrheiten, die aus selbstischen Gründen erzählt werden und anderen schaden. [...] Die Wahrheit aber einem Feinde zu verhehlen, der kein Anrecht darauf hat, sie zu wissen, schadet ihm nichts, und das ist besonders dann angebracht, wenn er die Auskunft dazu benutzen würde, Unschuldigen Schaden zuzufügen. [...] Die einzige Möglichkeit, das Gebot, die gute Botschaft des Königreiches Gottes zu predigen, zu erfüllen, ist für sie die Anwendung theokratischer Kriegslist, Strategie. [...] So ist es denn in der Zeit eines geistigen Kampfes angebracht, den Feind auf falsche Fährte zu weisen, indem man die Wahrheit verbirgt. Dies geschieht aus Selbstlosigkeit und gereicht niemandem zum Schaden; im Gegenteil, es bewirkt viel Gutes."

Interessant auch ihr Satz:
"Die Behauptungen der Nationalsozialisten, das Handeln der Bibelforscher sei nur ein frommes Getue mit politischem Hintergrund, und die Anschuldigungen der Wachtturm-Gesellschaft, der nationalsozialistische Staat wolle sich als religiöse Institution verehren lassen, konnten nur insofern erhoben werden, als vergleichbare Erscheinungsformen beiden Gruppierungen bekannt waren und von beiden praktiziert wurden." (S. 120)

Noch so ein bezeichnender Satz:
"Die neuesten Quellen, die Auskunft über Verfolgungsschicksale in der NS- Zeit geben, sind die Anträge auf Entschädigungszahlung für Zwangsarbeit im Rahmen des "German Forced Labour Compensation Programme" (GFLCP). Nach etlichen Aufrufen im Sommer 2001 in den Gemeinden der Zeugen Jehovas in Deutschland gingen bis Dezember 2001 mehrere hundert Entschädigungsanträge beim Geschichtsarchiv in Selters ein — davon über 500 von Betroffenen, die in der NS-Zeit Kinder bzw. Jugendliche waren. Die Wachtturm-Zentrale in Deutschland leitete die GFLCP-Anträge an die Stiftung ,Jehovah's Witnesses Holocaust-Era Survivors Fund, Inc." in Patterson, New York weiter. Diese Stiftung, die von der "leitenden Körperschaft" der Zeugen Jehovas gegründet wurde, hat es sich zur Aufgabe gemacht, die NS-Opfer — auch diejenigen, die damals keine Zeugen Jehovas oder deren Kinder waren - bei ihren Entschädigungsanträgen zu unterstützen." (S. 21).

Böse Zungen würden dazu nur noch als Kommentar hinzufügen.
Fehlt nur noch der Hinweis auf eine WTG-Schrift mit dem Titel „"Charitable Planning to Benefit Kingdom Service Worldwide" ("Geplantes Geben zum Nutzen des weltweiten Königreichswerks") Jener im Jahre 2000 erschienene WTG-Broschüre
Carlo Vegelahn etwa erwähnt sie mit in seiner Auflistung der WTG-Literatur unter dem WTG-eigenen Kürzel dx86-00-X, S.761
(Was wohl heißen soll: Index der Wachtturm-Publikationen 1996 - 2005 S. 761).

Neben der Fragebogenaktion führte die Autorin auch diverse mündliche Interviews durch. Da hatte sie ja meiner Meinung nach eine Option, um etwas unabhängiger agieren zu können.

Wie Schnellebig der Verfallswert mancher Sachen ist, welche nun gedruckt im Buch von Frau Hack vorliegen, mag der Hinweis auf den Zeugen Jehovas-Webring unter der Ägide des Roland Frisch verdeutlichen. Würde Frau Hack Herrn Frisch, heute, wo ihr Buch gedruckt vorliegt, zu diesem Aspekt nochmals befragen, könnte sie sich ein eigenes Bild von gewissen "Wandlungen" verschaffen. Dazu gehört dann auch (was Frau Hack keinesfalls anzulasten ist), dass die genannten Infolink-URL ebenfalls nicht mehr zutreffend sind.

Man kommt bei einer Einschätzung der Tragödien im Naziregime nicht umhin, auch den Herrn Rutherford im besonderen zu bewerten. Da hat Frau Hack durchaus einen wesentlichen Aspekt erfasst, wenn sie etwa auf Seite 37 ihrer Studie schreibt:

"Die Aussage, dass Regierungen "unter der Oberaufsicht eines unsichtbaren Oberherren, Satans des Teufels," ihre Macht ausüben, und die Fragestellung
"Werden die Nationen dem Teufel weiter dienen, oder werden sie fortan Jehova Gott dienen und gehorchen?", reduzierten erheblich die Sympathien der Regierungen zu der Watch Tower Society.
Als dann die Bibelforscher 1928 begannen, den Predigtdienst sonntags von Haus zu Haus zu versehen und Schriften zum Verkauf anzubieten, fingen in den USA die Verhaftungen aufgrund der Störung des Sonntagsfriedens und wegen Hausierens ohne Gewerbeschein an.
Die Anweisungen und die Sprache Rutherfords wurden zunehmend radikaler.
Die Bibelforscher sollten bedingungslose Verkündiger des Wortes Gottes werden. Die Umgebung, in der die Gläubigen zwangsläufig lebten, entwickelte sich, nach der Definition Rutherfords, zu einer immer schlechter werdenden Welt, aus der die Bibelforscher leuchtend hervortreten sollten."

Zustimmbar ist auch der von der Autorin herausgearbeitete Aspekt, dass die allermeisten der deutschen Zeugen Jehovas der 30er Jahre noch nicht zu den in diesen Glauben "Hineingeborenen" gehörten. (S. 134) Da ist wohl die heutige soziologische Struktur dergleichen Religionsgemeinschaft anders zu bewerten. Eben der hohe Prozentsatz der "ersten Generation" zu damaliger Zeit, impliziert auch den geringeren Anteil an "Mitläufern". Im Umkehrschluss aber auch den größeren Anteil der Fanatischen, besonders auf den relevanten Konfliktfeldern.

In ihren Gesprächen mit "Nachgeborenen" Zeugen Jehovas, also jenen welche das Naziregime nicht persönlich erlebten, begegnet Frau Hack nicht selten im Einklang mit der WTG der "Heldensaga"-Tendenz.
Am Schlusse ihrer Studie sieht sie jedoch genau diesen Aspekt etwas differenzierter, wenn sie dann ausruft:

"Diese und vergleichbare Aussagen, die mir sehr oft begegneten, suggerierten eine geschlossene Gruppe gläubiger Anhänger und ihrer Kinder, die auf keinen Fall von ihrer Glaubenslehre abwichen und jegliche Strafmaßnahmen, die der NS-Staat kannte, erdulden mussten. Dass die Menschen - auch Jehovas Zeugen - unterschiedlich agierten und reagierten und dass es deshalb keine allgemein gültige Aussage zum Verhalten der Bibelforscher geben kann, kam in den Aussagen nicht vor. ... Die Heroisierung der in der NS-Zeit lebenden Bibelforscher stammt also von denjenigen, die ihre verfolgten Glaubensgeschwister als Vorbilder für ihre bewiesene Glaubensstärke ansehen." (S. 515f.)

Meine Meinung zum Buch noch. Dissertationen (und um die Buchform einer solchen handelt es sich) sind in den allerseltensten Fällen ein "Publikumsrenner". Einmal weil sie nicht selten langatmig, zum anderen geht es ihren Autoren in erster Linie um den Erwerb des erstrebten akademischen Grades. Auch im vorliegenden Fall wird man das so registrieren.
So erfährt man etwa, dass die Verschriftlichungen der Tonband-Interviews im RTF-Format dann einen Umfang von etwa 1,2 MB Speicherplatz umfassen.

Vorgestellte Details aus den Interviews erfolgen grundsätzlich anonymisiert. Auch in den Fällen (man denke beispielsweise nur an die umfänglich dokumentierten Fälle der Familie Kusserow) wo solche Berichte bereits andernorts als "Parallelbericht" vorliegen. Insoweit hält sich der Neuigkeitscharakter innerhalb der wiedergegebenen Interviews in engen Grenzen. Das konnte man zwar schon im voraus wissen. Sieht man es nun bestätigt, braucht man dieserhalb dann auch nicht enttäuscht zu sein.

Ein paar charakteristische Detailsätze vielleicht doch noch aus diesen Berichten:
"Dagegen mieden die Kinder des Dorfes den jungen Alfred oder wurden von ihren Eltern dazu aufgefordert, sich von ihm fernzuhalten. Den fünf Kilometer langen Schulweg musste er allein zurücklegen, während er die anderen Kinder gemeinsam laufen sah. ... Das Gefühl des "Nicht-dazu-gehören-Dürfens", des "Allein-gelassen-Seins", durchzieht seine Erzählung wie ein unsichtbarer Faden."

"Herrn Brenners Ausführung gleicht einer Rechtfertigung. Er machte in seinem Bericht deutlich, dass er nicht zu der Gruppe der Zeugen Jehovas gehören konnte, die - wie in der Wachtturm-Literatur beschrieben - "standhaft" ihren Glauben verteidigten. Als wolle er sich dafür entschuldigen, dass er zur Zeit seiner Pflegschaft noch keine Kenntnisse der Bibelforscher-Lehre hatte, bittet er gleichzeitig um Verständnis, dass er in seiner Jugend nicht nach dem rechten Glauben lebte und handelte."

"Dieses ständige Hin-und-her-gerissen-Sein zwischen dem, was die Mutter aus der Bibel lehrte, dem, was den Jungen faszinierte, und dem, was von ihm als "deutscher Junge" verlangt wurde, durchzieht das Leben des Josef Jäger während seiner Kinder- und Jugendzeit. Das schlechte Gewissen, vielleicht doch gegen Jehovas Gesetze verstoßen zu haben, tauchte immer wieder auf."

"Mein Vater starb dann 1940 im Lazarett in der Haftanstalt an Entkräftung." Ottilie Ortmann und ihr Bruder verbrachten etwa neun Monate bei ihrer Tante, die keine Zeugin Jehovas war, auf dem Bauernhof. Nachdem ihre Mutter durch eine Amnestie aus der Haft entlassen wurde, durften die Kinder wieder nach Hause zurückkehren. Ihre Mutter distanzierte sich danach von den Zeugen Jehovas, weil sie sich und ihre Kinder nicht der Gefahr einer erneuten Verhaftung aussetzen wollte. Die Mutter musste, seit ihr Ehemann in Haft saß, den Lebensunterhalt allein bestreiten. Die 11-jährige Ottilie hatte ihre Mutter bei den Arbeiten in den Privathaushalten zu unterstützen."

Vielerlei Mobbing-Situationen, mit oftmals bitteren Konsequenzen waren ohne Zweifel auch die Kinder der Bibelforscher ausgesetzt.
Seltene "Lichtblicke" in dunkler Zeit indes gab es auch. Zum Beispiel das nachstehend erwähnte Beispiel:

"Nina Nosseck spürte in der Firma einen Schutz, der von ihrem Chef, der auch einer Verfolgtengruppe angehörte, ausging.
Bei uns ist Tabakindustrie. [...] Der Fabrikbesitzer war ein SPD-Mann. Und die SPD-Leute wurden damals ja von den Nazis auch verfolgt. Die hatten es auch nicht leicht. Und der hat dann meine Schwester eingestellt als Zigarrenarbeiterin. Und als ich aus der Schule kam, durfte sie schon meine Meisterin sein. Also ich hatte bei meiner Schwester das Zigarrenmachen gelernt, obwohl sie nur zwei Jahre älter ist als ich. Aber das hat er gemanagt. Weil die SPD-Leute, die haben damals das auch anerkannt, dass wir so gerade durchgingen. Und weil wir nicht in der Kirche waren und die alten SPD-Leute ja auch nicht, da haben sie dann wieder Verständnis für uns gezeigt und uns gestützt und geholfen, wo [sie] konnten."
(S. 455).

Beachtlich auch die Aussage:
"Josef Jäger war bewusst, dass die Forderungen, die der Staat an die Jugendlichen stellte, nicht mit dem Glauben zu vereinbaren waren. Seine "kleinen" Schritte von der Hitlerjugend zum Reichsarbeitsdienst bis hin zur Wehrmacht rechtfertigte er vor seinem Gewissen dadurch, dass er nur das zwingend Notwendige akzeptierte und nur peripher den geforderten Verpflichtungen nachkam.
"Da kriegte ich meine Einberufung zum Reichsarbeitsdienst Da habe ich dann überlegt: ,Was mache ich?' [...] Kriegsdienst, die Wehrmacht hätte ich wahrscheinlich verweigert Der Reichsarbeitsdienst - aber auch mit diesen Gefühlen: Naja, es ist kein Kriegsdienst [...] Und: Ich bin in Arbeitsdienst-Uniform von der Wehrmacht übernommen worden." ...
Von den Befragten verweigerte keiner weder den RAD noch den Wehrdienst."
(S. 461)

Noch ein Aspekt sei angesprochen. Ein Veranschaulichungsbeispiel.
Frau Gabriele Yonan, bekannt für ihr Zeugen Jehovas-Engagement, musste die seinerzeitige DDR auf ziemlich abrupten Weg (Flucht) verlassen. Ihr leibliches Kind blieb zurück. Jahre danach, die politischen Rahmenbedingungen haben sich gewandelt, gibt es doch noch eine verspätete Familienzusammenführung. Aus dem Statements ihres Sohnes ist ersichtlich, eine wirklich enge familiäre Bindung, ist wohl auch in diesem Fall ins Wolkenkuckucksheim verbannt. Die Trennungsjahre wirken nach. Nachhaltig nach. Auch Frau Y. selbst, äußerlich unter nunmehr westlichen Rahmenbedingungen etabliert, kämpft noch Jahrzehntelang in der Form eines "grenzenlosen Hasses" gegen jenen Staat, die ihrer Meinung nach ihre Tragödien zu verantworten hat.

Auch bei Frau Hack liest man Beispiele, von "Familienzusammenführungen" nach 1945, wo es keineswegs so wie "früher" war. Auch hier zeitigten die Trennungsjahre Wirkungen. Nachhaltige Wirkungen.

In diesem Kontext gehört auch der Satz von Frau Hack:
"Der Zwist zwischen Daheimgebliebenen und Heimkehrenden ergab sich auch in der Glaubensfamilie der Zeugen Jehovas, den Versammlungen. Unter ihnen gab es Gläubige, die sich wegen ihrer aus Glaubensgründen erduldeten Haft rühmten. Sie stellten sich über ihre Glaubensgeschwister, die ihren Glauben nicht bis zur letzten Konsequenz verteidigten." (S. 471)

"Die meisten Interviewten gaben an, nach der Verfolgungszeit nicht über ihre Erlebnisse aus der NS-Zeit geredet zu haben. Gründe dafür waren zum einen das Desinteresse des Bekanntenkreises, zum anderen die Unfähigkeit, sich mitzuteilen. Nur wenige fanden während oder direkt nach der NS-Herrschaft eine interessierte Zuhörerschaft." (S. 483)

"Die meisten Befragten gaben an, bis zu dem Gespräch mit mir nicht detailliert über ihre Erlebnisse geredet zu haben. Höchstens seien Randbemerkungen bei den Ausstellungen oder bei Glaubensgeschwistern und in den Familien gefallen." (S. 484)

Skurriltät am Rande:
Anläßlich der kürzlichen Fußball-Weltmeisterschaft, ausgetragen in diesem Lande, konnte man sie mal wieder sehen. Die "Fahnenhisser", sei es in Wohnungen, sei es in Autos usw.
Den Alt-Bundesrepublikanern sind ja in der Regel die hautnahen DDR-Erfahrungen erspart geblieben. Wer sie indes miterlebt, für den war das mit den "Fahnenhissern" kein Novum. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass solcher Art "Patriotätsbekundungen" sowohl im Naziregime als auch in Ostdeutschland, in der Regel von oben verordnet wurden. Sollten indes solche selbsternannten "Patrioten" je wieder auch auf anderen Ebenen (außerhalb des Fußballes) die Oberhand gewinnen. Wohin das dann letztendlich führt, ist Geschichtskundigen nur zu gut bekannt.

Offenbar aber nicht den "Bildzeitungs-Gebildeten" (und ädaquaten Gruppen). Die haben dann noch, wenn es für sie schon zu spät ist – reichlich Zeit ihre Bildungslücken aufzufüllen. Und sind sie dazu selbst nicht mehr in der Lage, werden "andere" ihnen auf sehr handgreifliche Art, diese Arbeit dann noch abnehmen.

Lassen wir diesen Bericht noch mit einem zustimmbaren Zitat von Frau Hack ausklingen, welches in der Tat den "Grundnerv" trifft. Auf Seite 508 schreibt sie:
"Die Unterstellung der Nationalsozialisten, die Bibelforscher seien eine politische Partei und deshalb Konkurrenten, ist somit oberflächlich betrachtet nicht abwegig. Genauso ist die Fehleinschätzung der Bibelforscher, der Nationalsozialismus sei eine Religion, damit zu erklären, dass die Zeremonien, z.B. die Morgenfeiern und die Redewendungen Hitlers, der stets von der Vorsehung sprach, kirchlichen Gebräuchen ähnelten.
Doch nicht nur diese radikalen Fehleinschätzungen führten zur Verfolgung der Zeugen Jehovas.
Als wenig hilfreich oder sogar kontraproduktiv kann das Eingreifen der amerikanischen Watch Tower Society in das deutsche Geschehen angesehen werden. Rutherford, der weder genügend Kenntnis über die Situation in Deutschland hatte noch haben konnte, griff mit den von ihm initiierten Protestaktionen die deutsche Regierung an. Rutherfords unsägliche Überschätzung seines Einflusses richtete sich gegen diktatorische, größenwahnsinnige Machthaber. Ein Aufeinanderzukommen beider Kontrahenten musste an seinen und deren Grundvoraussetzungen scheitern."

Nachtrag:

In Heft 2/2007 der als einschlägig tendenziös (im Sinne der Zeugen Jehovas) bekannten Zeitschrift „Religion Staat Gesellschaft" fühlt sich ein Herr Krenzer (als Zeuge Jehovas bekannt) auch dazu bemüßigt vorgenanntes Buch zu rezensieren. Rechte „Freude" indes will bei Krenzer dabei allerdings nicht aufkommen. Dafür stehen dann auch seine Schulmeisterlich belehrenden Sätze bezüglich der ZJ-Ausschlußpraxis:

„Nicht die Verfehlung an sich, sondern vielmehr fehlende Reue ist das Kriterium für eine Exkommunikation".

Herrn Krenzer’s geschraubte These hätten Kommunisten und Nazis in ihrer Glanzzeit sicherlich etwas griffiger formuliert, etwa so:

„Die Partei hat immer recht ..."

Belehrungen vorgenannter Art, für die Autorin hat er denn noch ein paar mehr auf Lager, als geschulter „Erbsenzähler".

Zu den Siegesgewissheiten des Herrn Krenzer gehört dann auch seine Detailkritik:

„Rutherford ... unterstellt Hack aufgrund einer (inzwischen nicht mehr verfügbaren) Anti-Kult-Webseite eine ‘grundlegend antisemitische Gesinnung’ ... sei Rutherford auf den fahrenden Zug des Antisemitismus aufgesprungen."

Nun mag man vielleicht zurecht an der Vokabel „grundlegend" Anstoß nehmen. Indes was das aufspringen auf den fahrenden Antisemitismus-Zug anbelangt, wäre dies ein Aspekt, über den sich sehr wohl streiten ließe und bei dem man durchaus zu einer anderen Wertung als Krenzer kommen kann.

Wenn Herr Krenzer meint, die von ihm bemühte Webseite sei so nicht mehr im Netz, dann kann man dem nicht prinzipiell widersprechen. Auch bei Webseiten gibt es ein kommen und gehen.

Was indes die eigentlichen substanziellen Vorbehalte gegen Rutherford anbelangt, so sind die keinesfalls „verschwunden".

Siehe zum Beispiel Kuhn

Herr Krenzer hätte zudem gut daran getan, die vorangegangene Philosemitismus-Phase der Bibelforscher, ebenfalls einer ausführlicheren Würdigung zu unterziehen, was bei ihm (nicht unerwartet), allerdings als Fehlanzeige zu beobachten ist.

Seinen Frust fasst Herr Krenzer auch in dem Satz zusammen, eine „an vielen Stellen offen zutage tretende Abneigung gegenüber der Wachtturm-Gesellschaft" seitens der Autorin zu beobachten.

Und weiter beklagt er:

„Leider gerät ihre Studie aber an vielen Stellen zu einer apologetischen Abrechnung mit der Wachtturm-Gesellschaft. Dem Leser drängt sich dadurch mitunter der Gedanke auf, die Leider der ‘Bibelforscher-Kinder’ hätten nicht sein müssen, wenn sich die ‘Wachtturm-Spitze’ nur etwas einsichtiger gezeigt hätte."

Nun mag man in der Tat - zurecht - darauf verweisen, auch andere mussten im totalitären Naziregime Leiden erdulden, ohne es darauf „abgesehen" zu haben. Insoweit ist einer These nicht zuzustimmen, die unterstellt, ein konfliktfreies „Durchmogeln" durchs Naziregime wäre „möglich" gewesen.

Indes was durchaus bestreitbar ist, ist in Sonderheit der Umfang der Leiden der Zeugen Jehovas im Naziregime.

Hier hätte etwas mehr (nicht vorhandene) Geschmeidigkeit, einiges, wenn nicht verhindern, so doch abmildern können.

 

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