Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Andere Gursky: Zwischen Aufklärung und Zersetzung

Auf der Webseite der Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen in Sachsen-Anhalt; gibt es auch in der Broschüren-Reihe „Sachbeiträge" als deren Nr. 27 die Studie von Andere Gursky

„Zwischen Aufklärung und Zersetzung.

Zum Einfluss des MfS auf die Zeugen Jehovas in der DDR am Beispiel der Brüder Pape".

Von genannter Webseite kann man diese Studie im pdf-Format herunterladen

http://www.landesbeauftragte.de/broschueren.htm#Sachbeitraege

http://www.landesbeauftragte.de/

Gekürzt, ohne Anmerkungsnummern, ohne enthaltene Abbildungen, nachstehend die wesentlichen Bestandteile dieser Studie im html-Format. Bezüglich der Anmerkungen, Seitenpaginierungen usw. Siehe das Original an obigem Ort.

Einleitung

Zeugen Jehovas Eine unbequeme Religionsgemeinschaft

Bis zum Ende der DDR gehörte die operative Bearbeitung der Religionsgemeinschaft Zeugen Jehovas (ZJ) durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zum zentralen Planungsvorhaben der Zersetzungsstrategie innerhalb der sogenannten Linie Kirchenfragen der Abteilung XX / Bezirksverwaltung (BV) Halle. Ausgewertete Ereignisse des Jahres 1989 sollten genutzt werden, um auf konspirativer Grundlage die Planorientierung für das Jahr 1990 zu den gestellten Schwerpunkten bei der Bearbeitung der verbotenen Organisation „Zeugen Jehovas" gestalten.1 Immerhin gehörten neben den Zentralen Operativen Vorgängen (ZOV) „Konflikt" (überregionale Umweltkreise), „Symbol" (überregionale Friedenskreise) und „Container" (Ostmissionen) insbesondere der ZOV „Sumpf" (Zeugen Jehovas) zu den ausdrücklich genannten Schwerpunkten der operativen Arbeit noch am Vorabend des Dezember-Parteitages der SED im Jahre 1989.

Verboten wurde die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas bereits ein Jahr nach Gründung des Ersten Arbeiter- und Bauernstaates im sowjetisch beeinflussten Teil Deutschlands. Über vierzig Jahre lang waren die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich selbst als Ernste Bibelforscher2 verstehenden Endzeitchristen3 einer immensen mehr und mehr sich perfektionierenden Herrschaftstechnik in der DDR ausgesetzt. Ihre Vorstellungen von „Gott und der Welt" widersprachen in allen Belangen der sich dort ausbreitenden stalinistischen Gesellschaftslehre seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Dies jedoch bedeutete keine Besonderheit, die sich aus der offensichtlichen Konfrontation der Wachtturmgesellschaft (WTG) der Zeugen Jehovas insbesondere mit den gesellschaftspolitischen Zielen der sich als sozialistisch verstehenden marxistisch-leninistischen Einheitspartei (SED) absehbarerweise ergab. Auch eine Reduzierung des Konfliktes zwischen Besatzungsmacht und den am Stalinismus geschulten und in die Positionen der Macht drängenden kommunistischen Führungskader4 einerseits und der deutschlandweit operierenden Religionsgemeinschaft andererseits greift hier zu kurz. Dieser Konflikt entfaltete sich bereits während der sowjetischen Besetzung der sogenannten „Ostzone" schleichend aber spürbar5 wegen des angestrebten Diktaturprinzips nach sowjetischem Vorbild.

Sowohl die Sanktionen und Vorgehensweisen der Nationalsozialisten6 als auch die zersetzenden Maßnahmen des SED-Staates gegen die Zeugen Jehovas waren letztlich der politisierte Ausdruck einer offensichtlichen Konfrontation im Weltanschauungsdenken, die aus Sicht der jeweils diktatorischen Regime deren staatliche Grundfesten zu erschüttern drohte. Das biblisch geprägte Menschenbild orientierte die Zeugen Jehovas darauf, keiner individuellen Selbstanmaßung im irdischen Dasein zu erliegen oder gar für ihre Anhänger eine Aufgabe darin zu sehen, mit Einsatz aller Kräfte vielerorts auf eine Verbesserung der Welt hinzuwirken. Gemäß dem biblischen Satz - Mein Reich ist nicht von dieser Welt - erblickten die Zeugen Jehovas im Weltgeschehen den sich vollziehenden Kampf zwischen Gott und dem Teufel. In der Abwehr des teuflischen Reiches sah die von Charles Taze Russell nach 1874 beförderte christliche Endzeitgemeinde zunehmend ihre Aufgabe darin, gerade in Abkehr von der alten Welt und „den sie tragenden Mächten (Politik, Kapital und Kirche)"7 den sich als elitär im Sinne von Auserwähltsein verstehende Zeugen Jehovas in dieser Welt auf das bevorstehende und sich ankündigende Reich Gottes8 vorzubereiten. Hierzu berechneten die führenden Köpfe9 der WTG unermüdlich den Zeitpunkt des Beginns der sogenannten apokalyptischen Endschlacht von Harmagedon, dem Weltende und dem Beginn der paradiesischen Zustände. Diese Endschlacht beinhaltet aber in der Konsequenz auch, die Erde von allem Bösen zu reinigen. Das menschlich Böse wiederum verbanden die Zeugen Jehovas mit all dem, was jenseits der Religionsgemeinschaft der Auserwählten die menschliche Existenz an sich ausmachte - eben auch das Streben nach Weltverbesserung durch demokratisch legitimierte Regierungsformen und die damit einhergehende politische Verantwortung. Zum Selbstverständnis der Zeugen Jehovas gehörte es insofern von Anfang an, nicht politisch zu sein. In Diktaturen führte eine solche nonkonforme Haltung dazu, durch Verweigerung Handlungsräume für die Umsetzung des eigenen Glaubens zu schaffen. Weniger kam es den Zeugen Jehovas darauf an, inwieweit das politische System gesellschaftsgestaltend wirkte. Vielmehr stand die Frage zur Disposition, einzelne Glieder dieser Gesellschaft, die ja das Böse verkörpere, im Sinne der WTG für die paradiesischen Zustände zu retten. Hiervon ausgehend entwickelten sie in diktatorischen Systemen, wie Garbe hervorhebt, Verweigerungsmethoden, die große Ähnlichkeiten zu dem von politischen Regimegegnern geführten Widerstandskampf aufzeigen, allerdings mit dem einschränkenden Vermerk, selbst doch keine „Widerstandskämpfer" gewesen zu sein, denn ihr Einsatz zielte [gerade] nicht auf die Veränderung der politischen Ordnung [...] so G..10

Die Auffassung, standhaft als Religionsgemeinschaft den Diktaturen nahezu geschlossen widerstanden zu haben, wird seit wenigen Jahren nicht nur von Vertretern der WTG öffentlich vertreten.11 Dabei wird der Widerstandsbegriff in der jüngeren Literatur aus dem vergleichenden Kontext einer doppelten Diktaturerfahrung reflektiert. Fricke hebt in diesem Zusammenhang darauf ab, das Hervorgehen von Opposition und Widerstand „aus den inneren Widersprüchen des Systems" zu erklären, da sich mit dem Wandel in der Politik auch deren Formen und Zielsetzungen wandelten. Für die Verweigerungshaltung der Zeugen Jehovas blieb jedoch sowohl in der NS-Diktatur als auch in derjenigen des Proletariats der politische Aspekt obsolet. Verweigerung koppelte die WTG an das offensichtliche Verhalten der Herrschenden gegenüber ihrer eigenen christlichen Weltanschauung. Sehr deutlich kommt diese Strategie, die von Zeugen Jehovas auch als „theokratische Kriegslist"12 bezeichnet wird, in den jeweiligen Anfangsphasen der nationalsozialistischen und der realsozialistischen Herrschaft zum Ausdruck (heutige Kontroverse um den 1933 verfassten Brief der WTG an den „sehr verehrten Herrn Reichskanzler" Adolf Hitler und die inhaltlich-politischen Dimensionen in der Petition zum Verbot der Zeugen Jehovas aus dem Jahre 195013). Der jeweiligen Warnung folgt die Drohung - für entstehende Diktaturen geradezu eine nicht zu übergehende Herausforderung. Die unbequemen Aspekte, wie die Verweigerung des Hitlergrußes oder die Aufforderung der WTG an ihre Anhänger, sich nicht an staatlichen Wahlen zu beteiligen, mussten fast zwangsläufig dem politischen Diktat der Macht weichen. Denn, so die doppelte Diktaturerfahrung, der gesellschaftlichen Gleichschaltung folgte eine Paralysierung des Denkens.

Über die Diktaturen hinaus, folgt man B., kam es im Laufe der letzten Jahrzehnte zur Herausbildung mehrerer „Fronten" durch die sich die Zeugen Jehovas verfolgt und in der Wahrnehmung ihres Missionierungsauftrages bis heute auch bedroht sehen: 1. die Front der christlichen Großkirchen, 2. die Kritikergruppe der Apostaten bzw. Aussteiger, 3. die bereits nicht mehr existierende Front des DDR-Staates und der SED-Führungspartei mit ihrem Schild und Schwert, dem MfS. Zusammen mit den Großkirchen habe das jeweils diktatorische Staatssystem (also auch der NS-Staat) gemeinsame Sache hinsichtlich der sogenannten Sektenbekämpfung gemacht. Und von hier aus, so B. weiter, führt ein direkter Weg zur vierten Front. Diese wird von dem Heidelberger Theologieprofessor in einigen liberalen westlichen Verfassungsstaaten gesehen. Schließlich: Die fünfte Front bilden Medien ganz unterschiedlicher Provenienz. Dabei handele es sich um Medien, denen bewusst oder unbewusst falsche Informationsverbreitung über die Zeugen Jehovas bescheinigt werden könne. B., so der eindringliche Hinweis, besitze über solche Vorgänge „einen ganzen Leitz-Ordner."14

Den wohl aktuellsten Ausdruck einer aus der Sicht des Autors mit vehementen Vorurteilen belasteten Diskriminierung des Religiösen bilde in der Konsequenz die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zu „Sogenannten Sekten und Psychogruppen" deren Bericht mehrheitlich auf „unklare Formulierungen" und „unbewiesene Behauptungen" schließen lasse. In den gegenwärtigen Optionen der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland - auch zu den Zeugen Jehovas - meint B. „Verstöße gegen elementare Grundrechte" erkennen zu können und mahnt an, nicht zuletzt zur Klärung des Körperschaftsstatus der Religionsgemeinschaft Zeugen Jehovas die UN-Menschenrechtskommission anzurufen.15

In der Tat verhängten auch liberale Verfassungsstaaten wie die USA und Großbritannien Sanktionsmaßnahmen gegen die WTG.16

Hochrangige Vertreter des NS-Staates hingegen, die das Dilemma und die Erfolglosigkeit, Zeugen Jehovas physisch zu vernichten, etwa ein Jahr vor Kriegsende offenbar einsahen, drängten zwar nicht darauf, die im Reich ausgeprägte Gleichschaltung zu unterminieren. Das im Dritten Reich erlassene Verbot wurde jedoch partiell modifiziert. Dem Reichsführer SS schwebte seinerzeit vor, bestimmte Charakterzüge der Bibelforscher für die Zwecke des Nationalsozialismus nutzbar zu machen. Die Ausführungen bezogen sich nicht auf die WTG als solche, sondern - aus der Sicht Himmlers - auf geeignete „überzeugte idealistische Bibelforscher"17

Taktische Manöver im Verhältnis der Herrschenden zu den als öffentlich wirksame Organisation verbotenen Zeugen Jehovas in der DDR finden sich ebenso im Verlaufe der 40-jährigen Geschichte des SED-Staates. Allerdings bewegten sich die Überlegungen der kommunistischen Führer innerhalb der SEDKirchenabteilung und des MfS-Schattenkabinetts bei weitem jenseits von einer bloßen Nutzbarmachung überzeugter Bibelforscher für den sich als atheistisch verstehenden Staat einschließlich seiner über den Atheismus hinausgehenden materialistischen Weltanschauungsdoktrin.

Revolutionsführer Lenin äußerte sich bereits Jahre vor Beginn des kommunistischen Experimentes in der gesellschaftlichen Praxis zum Stellenwert von Ideologien: [...] so kann die Frage nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht [...]18 Aller Religion als Opium fürs Volk (Karl Marx) wurde unmittelbar nach Gründung der DDR aus kulturpolitischer Perspektive der Kampf angesagt. Es war dies ein an allen Fronten auszutragender Kampf, eben ein Kirchenkampf, der sich auch gegen die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas richtete. Im Gegensatz zu den oben genannten Abwägungen eines Heinrich Himmler von der Nutzbarmachung einzelner Bibelforscher ging es den SED-Parteiideologen darum, innerhalb der konfessionellen und kleineren religiösen Gemeinschaften internen Zwiespalt zu initiieren. Positivistisch wurde zwar rein äußerlich an der verfassungsmäßig garantierten Religionsfreiheit festgehalten, jedoch der strafrechtlich relevante Regelvorwurf der Spionage herangezogen, um mit jeglichen Formen religiösen Denkens nicht zuletzt auch in der politischen Perspektive des Kalten Krieges abzurechnen.

Als nach dem 17. Juni 1953 in der DDR die Ulbricht-Regierung durch die Moskauer Machthaber zu einer neuen Kirchenpolitik genötigt wurde, hieß das keineswegs, die bereits erlassenen Verbotsmaßnahmen gegen die Zeugen Jehovas aufzuheben. Eine spürbare Veränderung innerhalb der SED-Kirchenpolitik zeichnete sich lediglich ab im Verhältnis der SED-Staats- und Regierungspartei zu den großen konfessionellen Kirchen, wenn auch hier grundsätzlich von einer „dialektisch angelegten Strategie der Eliminierung der Kirchen" insgesamt und in Langzeitperspektive gesprochen werden kann.19

Das Verbot einer einst in der Sowjetischen Besatzungszone zugelassenen Religionsgemeinschaft basierte wesentlich - neben dem Spionagevorwurf - auf einer unkonventionellen Haltung der WTG, für die allein ein im Gegensatz zu den anderen Kirchen und Religionsgemeinschaften eigens ausgelegtes Bibelverständnis Richtschnur des Handelns der Gläubigen war - jenseits dieser Welt, die man des Teufels glaubte. Der totale Anspruch der WTG mit ihrem Sitz in Brooklyn, N. Y. (USA), der auf das von dort verkündete, und zwar auf das allein als wahrhaftig anerkannte, religiöse Bibelverständnis des einzelnen abzielt20, stand - im Gegensatz zu den in der Tat nicht einflusslosen Großkirchen in der späteren DDR - dem von der SED-Führungspartei erhobenen absoluten Wahrheitsanspruch in der Option Lenins diametral entgegen. Es galt, die Ideologie der Großkirchen, von der Basis bis zum Führungszentrum zu differenzieren.21 Eine solche Strategie musste bei den Zeugen Jehovas von Anfang an fehlschlagen. Eine wie auch immer geartete Nutzbarmachung der Zeugen Jehovas für die gesellschaftspolitischen Ziele der Diktatur in Anlehnung an Überlegungen der SS im Dritten Reich war und blieb im SED-Staat obsolet, wenn auch später in der Tat so mancher Bibelforscher durch seine vermeintliche „Oppositionsätigkeit" gegen die Führung der WTG glaubhaft auf eine Wiederzulassung der Zeugen Jehovas in der DDR auf ursprünglich biblischer Grundlage hoffte.22

Das Verbot der unbequemen Religionsgemeinschaft in der DDR blieb bis zu deren Untergang bestehen. Allerdings veränderte sich im Laufe der Jahrzehnte der staatliche und auch geheimdienstliche Umgang mit Jehovas Zeugen - trotz des offiziellen Verbots. Zahlreiche Aktivitäten der einzelnen Gläubigen blieben den staatlichen Organen bei Weitem nicht unbekannt. Die Zeugen Jehovas mussten schließlich das erdulden, was der Staatssicherheitsdienst (MfS) „Zersetzung feindlich negativer Elemente" nannte. Und auch hier gelang das Kunststück, durch eine perfektionierte Strategie einzelne Differenzierungs- und Auflösungserscheinungen innerhalb der Gläubigen zu bewirken. Gemessen am Gesamtaufwand des über die staatlichen Grenzen hinaus operierenden DDR-Geheimdienstes und dessen operativem Zusammenwirken (OZW) mit den Bruderdiensten23 gegen die Zeugen Jehovas ein erbärmlicher Erfolg. Dieser sollte auf der Tragik und dem Leid zahlreicher Menschen gewaltsam ausgebaut werden, nicht zuletzt durch deren Isolierung aus der sozialistischen Menschengemeinschaft und durch die oft jahrelange, nicht selten sogar wiederholte Inhaftierung in DDR-Zuchthäusern.

Das MfS konnte bei der Durchsetzung der auf politische Anordnung der DDRFührung erlassenen Verbotsmaßnahmen gegen die Zeugen Jehovas auf ein in seiner Wirkung zunächst kaum wahrnehmbares Aufbegehren zurückgreifen, das sich aus der Religionsgemeinschaft mit wachsendem Gewicht und bald auch selbst unüberhörbar vernehmen ließ. Es handelte sich um Kritiker des eigenen Glaubens, um „ausgewiesene Insider" oder schlicht, so B., um „Apostaten" deren Gefährlichkeit für die WTG einerseits und deren Nützlichkeit für die Zersetzungsziele des MfS andererseits kaum zu unterschätzen war.

1. Kapitel

„Diese Brut wird aus Deutschland ausgerottet werden"

(Adolf Hitler, 1934)

Für Jehova sterben? Ein Familienschicksal

Ende der zwanziger Jahre war die Weimarer Republik von Krisen geschüttelt. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland erreichte unabsehbare Dimensionen und der einzelne selbst sah sich den Wirren einer undurchschaubaren Zeit ausgesetzt, die zunehmend von unversöhnlichen politischen Kontroversen bestimmt war. Einer, der auch für alle Gescheiterten und Hilflosen Glück und Wohlstand versprach, war Adolf Hitler. Mit seiner Partei, den Nationalsozialisten, versprach der „Führer" gerade allen am Existenzminimum Gestrandeten in Deutschland eine lichtere Zukunft. Diese jedoch wurde auch von den politischen Kräften propagiert, die sich als die eigentlichen Vertreter der arbeitenden Menschen betrachteten, den Kommunisten und Sozialdemokraten.

Günther Pape war gerade sechs Jahre alt, als in Deutschland die Hitler-Diktatur begann. Sein Vater, erinnerte er sich später24, gehörte dem „Reichsbanner" einem sozialdemokratischen Verband, an. Vertrauen habe dieser kaum mehr in den Reichsbanner und schon gar nicht in die Verheißungen des Diktators gehabt. Verlockend erschien den bislang auch christliche Bräuche (z. B. Taufe der Kinder) pflegenden Eltern des jungen Pape das „Goldene Zeitalter" der Ernsten Bibelforscher - eine Schrift, die nicht nur das noch immer herrschende Elend von Hunger und Arbeitslosigkeit in Deutschland anprangerte. Die Zeugen Jehovas versprachen das baldige Paradies auf Erden und ewige Erlösung für ihre Gläubigen - ein Trost, so Günther Pape, an den sich schließlich auch die eigenen Eltern klammerten. Fortan setzten sie alle Kraft dafür ein, die christliche Botschaft, die aus Brooklyn, N. Y. sich inzwischen rasch in deutschen Gebieten ausgebreitet hatte25, im Umkreis des Harzstädtchens Thale mit allem Nachdruck zu verbreiten. Es galt, noch mehr Menschen aus der satanischen Welt mit „geistiger Speise" wie es bei den Zeugen Jehovas bis heute heißt, dem Bösen zu entreißen und diese Auserwählten auf das alsbald erwartete goldene Zeitalter vorzubereiten. Dazu gehörte auch, folgt man den Erinnerungen Papes26, dass man eigenen Angehörigen die letzte Ehre am Grabe verweigerte. Als Mutters Vater starb, gingen meine Eltern nicht einmal zur Beerdigung. Ein evangelischer Geistlicher amtierte ja, und das war ein „Diener des Teufels" Wie konnten Zeugen Jehovas, „wahre Christen" zu solch einer Beerdigung gehen - selbst des eigenen Vaters! „Er schläft ja nur kurze Zeit im Schoße der Erde" sagte meine Mutter, „dann werden wir ihn im Königreich Gottes auferstanden wiedersehen." Geschwister wurden einander fremd.

Dieter Pape, ein Jahr später geboren als Günther (1928, getauft am 21. Juli 1929, Günther Pape getauft am 6. November 1927 – beide in der evangelischen Kirche St. Andreas in Thale), hat nach Kriegsende (o. D., wahrscheinlich nach der Haftentlassung Ende der 50er Jahre) in einem Bericht über seinen Lebensweg darauf verwiesen, dass seine Kindheit von Anfang an durch die Lebensumstände der Zeugen Jehovas bestimmt war.27 Während Dieter die ersten Schwierigkeiten mit diesem Glauben erst später, nämlich als Schuljunge während der Nazizeit erlebte, verspürte offenbar Günther Pape noch vor Beginn seiner Schulzeit einen tiefen Bruch im bisherigen Familienleben. Wir Kinder lernten zu Jehova hin zu beten. Wir empfanden es daran, daß der Weihnachtsbaum aus unserer Wohnung verschwand und der Osterhase nicht mehr kam. Weitere Schwierigkeiten taten sich nunmehr auf in den Beziehungen zu den eigenen Verwandten, die sich von den Papes zurückzogen. Meine Eltern seien zu fanatisch, meinten sie. Dennoch - die Zeugen Jehovas verstanden es, Begeisterung - auch bei den Papes und ihren Söhnen Günther und Dieter - hervorzurufen. Fortan wurde in der Familie nicht nur das „Goldene Zeitalter" gelesen, sondern auch der „Wachtturm". Wir Kinder bekamen die bunten Broschüren, und allein der bunten Bilder wegen wurden wir begeistert. Die Eltern waren nun eingespannt in das sogenannte Predigtsystem der Zeugen. Sie verteilten Literatur, besuchten Versammlungen und begannen in der Organisation aufzugehen. Sie glaubten, die „Wahrheit" gefunden zu haben und setzten sich mit allem, was sie besaßen, dafür ein.

Das von Günther Pape erwähnte „fanatische" Verhalten seiner Eltern sollte wenige Jahre nach Hitlers Machtergreifung in einem Verfahren zum Sorgerecht von der Jugendfürsorge mit tragischer Folge herausgestellt werden.28

Inzwischen hatte der NS-Staat die Organisation der Religionsgemeinschaft im gesamten Reich verboten, nachdem bereits einige Jahre zuvor regionale Verbotsmaßnahmen u. a. in Bayern griffen und durchgesetzt wurden.29

Bei uns zu Hause war ein Bücherlager eingerichtet, an dem mein Großvater nach Verhaftung meiner Eltern drei Wochen zu verbrennen hatte. Unmengen von WTG-Literatur wurden nach dem dortigen Verbot aus der Tschechoslowakei und der Schweiz nach Deutschland eingeschmuggelt. Auch die Familie Pape folgte dem aus Brooklyn angewiesenen Konfrontationskurs der WachtturmFührer mit den Nationalsozialisten. Diese forderten mit ungeheuerem Propagandaaufwand und zahlreichen Telegrammen die Aufhebung des Verbots unter Androhung der Vernichtung Hitlers durch Jehova. Hitler antwortete mit einer umfassenden Verhaftungswelle gegen sämtliche bekannte Zeugen Jehovas im Reich, die, von NS-Gerichten abgeurteilt, zum Teil in den Konzentrationslagern verschwanden.30

Dieses Schicksal ereilte auch die Eltern von Dieter und Günther Pape, die wegen illegaler Tätigkeit für die Zeugen Jehovas mehrmals verhaftet und verurteilt wurden. Schließlich entschied das Quedlinburger Jugendamt, der Familie Pape das Sorgerecht für ihre Kinder zu entziehen. Ich stand vor dem Richter, so Günther Pape, der mich fragte, warum ich nicht „Heil Hitler" grüßte. Erstaunt kam meine Antwort: „Wissen Sie denn nicht, was in der Apostelgeschichte 4, Vers 12 steht?"

Die für Jehovas Paradies aktiven gläubigen Papes wurden verurteilt und inhaftiert mit anschließender Schutzhaft in einem Konzentrationslager. Zu einer Zeugin hatte Mutter gesagt: „Jehova wird für meine Kinder sorgen" - und wir kamen ins Armenhaus. An die Zustände im Armenhaus erinnerte sich Günther Pape sehr genau. Außerhalb der Stadt Thale gelegen, beherbergte es alte Leute, verkommene, am Leben gescheiterte Menschen, Kinder aus asozialen Verhältnissen. Homosexuelle befanden sich darunter. In solcher Umgebung sollten wir nun leben! Für Günther waren das nach eigenem Empfinden die furchtbarsten Kindheitsjahre. Aber auch die Demütigungen innerhalb des Schulalltages (Sprechchor der Schüler zum Außenseiter Günther Pape: „Pape sag doch mal: Heil Hitler!" zeigten bei dem bekennenden Zeugen Jehovas erhebliche Nachwirkungen. Dazu zählten auch die alltäglich auf das Zeremoniell folgenden Schläge eines Lehrers, Sturmführer der SA, da Pape den Nötigungen seiner Mitschüler nicht nachzugeben vermochte.

Auch Dieter Pape hebt rückblickend deutlich die tiefe Gläubigkeit hervor, die er als kleiner Junge von den Eltern anerzogen bekam. Ich glaubte damals [...] natürlich nicht in dem Sinne, wie ein Erwachsener gläubig ist, sondern ich handelte aus Gehorsam meinen Eltern gegenüber. Für die Schulzeit beschreibt auch er den Hitlergruß als ein Schlüsselerlebnis, um das sich alles gedreht habe. Dieter erging es wie seinem Bruder. Für meine Weigerung, diesen mitzumachen, mußte ich Ohrfeigen hinnehmen.

Unter nationalsozialistischer Erziehung trat der Glaube an das Heil durch Jehova bei beiden Brüdern allmählich in den Hintergrund. Über die Ursachen meines Schicksals, so Dieter Pape, konnte ich mir damals noch keine Vorstellungen machen. Nach Beendigung der Schule kam er schließlich zum RAD (Reichsarbeitsdienst) und nach kurzer militärischer Ausbildung mit 16 Jahren an die Oderfront. Dieter fügte sich nach eigenem Bekunden in alles, ohne auch nur ansatzweise mit dem Geschick zu hadern. Man war ja entsprechend beeinflußt, man mußte eben - eine Einschätzung des damals alles in allem noch gläubigen jungen Mannes, nachdem er sich bereit erklärt hatte, gegen die Zeugen Jehovas in der DDR zu spionieren.

Für Günther Pape brachte der Tag seiner Schulentlassung eine entscheidende Wende, nämlich den Beginn einer kaufmännischen Ausbildung in Quedlinburg bzw. Thale. Glücklich, so schien es, war die Zeit der Lehre für den Zeugen Jehovas, der weltoffen die Schönheit der Natur in den Wäldern des Harzes für sich entdeckte. Ganz glückversunken stand ich da auf dem Brocken und sog das Bild der Täler, Berge, Dörfer und Städte unter mir in mich hinein. Konnte es in dieser Welt irgendwo Krieg geben?

Nach dem RAD wurde jene Abteilung, in der auch Günther seinen Dienst für den Führer versah, im März 1945 der Wehrmacht überstellt - [...] und ich machte mir kaum Gedanken, als ich der Einberufung zum RAD [zuvor] Folge leistete. Der Wille zum Überleben war stärker als der Glaube an das kommende Paradies Jehovas: Wo ist Gott? Nur noch selten denke ich an ihn. [...] Ein russischer Panzer steht keine vierzig Meter vor mir. Meine Panzerfaust ist gerichtet. Ich schieße sie nicht ab. Noch nicht. Du tötest, Günther, du tötest! Aber ich will doch leben [...] Ich hatte abgedrückt - getroffen - getötet. Ich lebe, aber mit welcher Schuld! Mit diesem Erlebnis, das dem Gewissen keine Ruhe lassen sollte, gelangte Günther Pape in englische Kriegsgefangenschaft. Wie sein Bruder hatte auch er vom Schicksal seiner Eltern bislang nichts erfahren. Noch immer kein Lebenszeichen von ihnen. Doch die Hoffnung haben wir nicht aufgegeben. Es kommen immer noch ehemalige Häftlinge, obwohl es schon Juli ist. Da klopft es, eine Frau steht in der Tür. Wir kennen sie nicht. Kurzes Haar, fremde Kleidung. Mit Tränen in den Augen kommt sie auf uns zu: es ist unsere Mutter. Während sie schon kurze Zeit später wieder voll und ganz in den Anliegen der Zeugen Jehovas aufgeht, alte Wachtturmliteratur vervielfältigt und eifrig Versammlungen organisiert, erhält die Familie im September 1945 von einem weiteren ehemaligen Häftling die Nachricht vom Tod des Vaters. Dieser sei bei einem Bombenangriff auf das KZ ums Leben gekommen, hieß es. Vater gehört zu den einhundertvierundvierzigtausend Auserwählten und ist jetzt bei Christus im Himmel, erinnert sich Günther Pape an die tröstenden Worte der Mutter, der man allerdings kaum Schmerz anmerkte. Er gehört jetzt zur Regierung der Neuen Welt und darauf können wir stolz sein - eigentlich harte Worte, die für die Pape-Brüder keinen Anlass zu irgendwelchen Zweifeln boten, jedenfalls noch nicht. Mutter verlangte, sich nunmehr ohne Abstriche würdig zu erweisen, eine Forderung, der Günther und Dieter Pape auch mit aller Kraft zu folgen bereit waren.

Kapitel 2

Spurensuche

Missionarische Tätigkeit im Harz (1945 - 1950)

Noch lange nach Kriegsende spürte Günther Pape einschneidende Gewissensbisse, war doch allgemein bekannt, dass Zeugen Jehovas für ihren Glauben standhaft in den Tod gingen.32 Viele von ihnen hatten unter den Hinrichtungskommandos der SS ihr Leben gelassen. Dennoch suchte Günther nach Rechtfertigung für sein Handeln über Jehova hinaus. Viele widerstanden Hitler und seinen Schergen, ja leisteten Widerstand für ihren Glauben, oder etwa nicht? Dafür gingen sie in den Tod - ein Akt des Widerstandes gegen Hitler? Vielmehr war es doch so, dass die „treu Ergebenen" in dem, was geschah, die vorausgesagte Prüfung der Ergebenheit gegenüber Gottes „heiliger Organisation" [sahen]. Die „Verfolgung" machte sie nicht mutlos, im Gegenteil, sie spornte sie zu emsiger Tätigkeit an, denn „sie waren ja in göttlicher Hut" Die für die Zeugen Jehovas wohl typische Emotionalisierung, so Günther Pape, bestand nicht in der konsequenten Umsetzung der „Gehorsamkeit" nur für Kinder. Gehorsam war für uns alle obligatorisch als treue „Diener des Herrn" Standhaft sein gegen Hitler und dieser Ausgeburt des Bösen widerstehen war also gleichbedeutend mit dem zu leistenden Gehorsam gegenüber den [...] göttlichen Geboten der Wachtturm-Führung und eine Verweigerungshaltung gegenüber den „satanischen Machthabern". Später, Jahre später, wird Günther Pape vor den Begriff der göttlichen Gebote das Wörtchen „vermeintliche" einfügen, nachdem er schon sehr lange mit diesen Geboten, die die WTG als „Sprachrohr Gottes" ihren Gläubigen nahebrachte, gebrochen hatte.

Doch zunächst, im Sommer 1945, blieb es bei den Gewissensbissen und dem Augenscheinlichen. Die Kinder- und Jugendgruppe in Thale bestand aus 28 Mädchen und Jungen. Alle 12 Jungen wurden in der Zeit von 1933 bis 1945 militärdienstpflichtig, jedoch hat keiner den Militärdienst verweigert. Ähnliche Verhältnisse konnte Günther Pape nach Kriegsende auch in den Nachbarversammlungen der Zeugen Jehovas in Blankenburg, Quedlinburg, Aschersleben oder Halberstadt erleben. Auch in den Versammlungen, so sein späterer Rückblick, die er nach der Flucht aus der DDR in Westdeutschland kennenlernte, z. B. in Konstanz, Singen, Schwenningen, Lörrach, Freiburg oder Balingen waren seine Erfahrungen dieselben.

Marie Pape organisierte das Leben nunmehr ohne den Vater neu in der Erwartung des nahenden Königreiches Jehovas - und auch ihre Söhne Günther und Dieter wurden in das Missionswerk einbezogen.

Wie zaghaft klingelte ich an der ersten Tür, und wie stolz kehrte ich von meiner ersten Predigtreise zurück. Die meisten Zuhörer bewunderten meinen Mut, Hoffnung in die Herzen der Verzagten zu legen. Der Erfolg meiner Predigt beruhigte auch mich. Gott hatte mir doch sicher vergeben, dachte Günther Pape, wäre es sonst möglich, solchen Trost zu bringen? Obwohl bereits für die „Neue-Welt-Gesellschaft"33 unterwegs, war Günther noch immer nicht getauft (Taufe am 6. Juni 1946).

Sein Bruder Dieter wurde von herannahenden sowjetischen Truppen entdeckt und kurze Zeit später mit vielen anderen Jungen seines Alters nach Hause geschickt, was in den Wirren der damaligen Zeit keine Selbstverständlichkeit bedeutete.34 Auch Dieter Pape quälte das Gewissen. Von Nazismus, Krieg und Politik sprach man in meiner jetzigen Umgebung - den Zeugen Jehovas - nur mit Abscheu und voller Haß. Ich schämte mich manchmal, über mein eigenes Leben zu sprechen, denn ich war ja gewissermaßen auch mit dabei gewesen, resümierte er später - selbst in der Hitlerjugend (HJ), wenn auch ohne Funktion. Die Glaubensgefährten verziehen dem jungen Dieter - ja, die Zeugen waren edle Menschen, so schien mir: Menschen mit Grundsätzen, denen sie u. U. bis zum Tode treu bleiben. Genau solche menschlichen Verhaltensmuster beeindruckten Dieter Pape sehr. Ich war jung und voll Verlangen nach Idealen fürs persönliche Leben. Jehovas Z. boten sie in manchen. Deren Appell an die menschlichen Gefühle und Empfindungen war gewaltig. Was bot dagegen die „Welt"!

Einerseits das Böse der satanischen Welt, andererseits die Verheißungen der Zeugen Jehovas. Seine gefühlsmäßige Situation in der damaligen Zeit brachte Dieter Pape auf den Punkt: Und ich suchte nach Sinn und Inhalt für mein Leben angesichts meiner, unserer weltanschaulichen Leere, die ich empfand und angesichts meines gesellschaftlichen Ungebundenseins, ich war gesellschaftlich gewissermaßen ohne Halt.

Der unermüdliche Eifer seiner Mutter, Jehovas Zeugnis kundzutun und der Ruhm in der Familie, wegen der Standhaftigkeit des Vaters, der für seinen Glauben in den Tod gegangen war, spornten den jungen Dieter geradezu an, Großes zu vollbringen: über den Pionier- und Sonderpionierdienst zur Bibelschule Gilead in den USA, danach ins Ausland als Prediger - einer solchen von den Zeugen Jehovas popularisierten Verlockung vermochte der 17-jährige kaum zu widerstehen, gestand er später dem DDR-Staatssicherheitsdienst. Dafür nahm er auch den Abbruch seiner Lehre als Revierförster in Kauf und widmete sich mit Mutters Unterstützung und Zutun voll und ganz den Belangen der WTG. Ich ging dann ganz in den Aufgaben der Zeugen Jehovas auf35 - zunächst bis zum Jahre 1948. Es war das Jahr der Eheschließung sowohl für Dieter als auch für Günther Pape.

Letzterer begegnete nach Kriegsende Christa Grashof36 wieder, die er von Kindesbeinen an kannte. Doch eine Eheschließung kam aus wichtigeren Erwägungen wohl kaum in Betracht. Die Weltgesellschaft stand kurz vor ihrem Ende und von unserer Tätigkeit des Predigens hing das Leben aller anderen Menschen ab, erinnerte sich Günther Pape an den sich anbahnenden Zwiespalt. Unser Auftrag war es, allen Menschen den Weg zu zeigen, der zur Rettung vor dieser Vernichtung durch Gottes „Feldmarschall und Scharfrichter" Jesus Christus, der in der Schlacht von Harmagedon die Hinrichtungskräfte leitet, führt. Nur der Anschluß an die Zeugen Jehovas bedeutet letztlich Überleben. Und gemeinsam mit Christa kam er zu der Überlegung: Noch ein paar Jahre, dann würden wir in der „Neuen Welt" dem Paradies leben. Diese kurze Zeit konnten wir mit der Heirat noch warten.37 Doch trotz aller Zweifel, die das junge Paar bedrängte, fand am 1.März1948 die Hochzeit statt - allerdings ohne großartige Feier, da diese angesichts der wenigen noch verbleibenden Jahre der wohl existierenden Weltgesellschaft vor Harmagedon als nicht „endzeitgemäß" angesehen worden wäre. Die Konsequenz für Günther Pape hinsichtlich seiner missionarischen Aktivitäten war, dass er aus dem Sonderpionierdienst ausscheiden musste. Damals war die Ehe für Sonderpioniere nicht erwünscht. Und erneut plagte die Eheleute das Gewissen: Irgendwie fühlten wir uns schuldig vor Gott, weil wir unsere Interessen vor die Interessen des Königreiches Gottes gestellt hatten. So wurde es uns von den Brüdern im Zweigbüro Magdeburg der Wachtturm-Gesellschaft auch vorgehalten.

Dieter Pape gab nach der Eheschließung seine einstigen großen Perspektiven im Dienste der WTG wieder auf. Er wurde in Thale Hilfsgruppendiener und Schuldiener, später dann von 1950 bis 1952 Gruppendiener. Zweifel und innere Zerrissenheit, das Gegenteil von Ruhe und Ausgeglichenheit, quälten fortan den jungen Familienvater. Ich konnte nicht in allen täglichen Dingen Gott fühlen und sehen.

Anders hingegen und offenbar auch über die familiäre Idylle hinausgehend sein Bruder Günther, der sich in seinen öffentlichen Vorträgen mit den evangelischen und katholischen Pfarrern wortgewaltig anlegte. Das Kirchenblatt nannte uns „falsche Propheten" und warnte vor uns. In öffentlichen Diskussionen, zu denen Günther Pape Zeugen Jehovas einlud und wo er Vertreter der beiden Konfessionen zum Disput herausforderte, machte sich der Missionar am Fuße von Hexentanzplatz und Roßtrappe sowie zwischen Regenstein und herzoglichem Schloss sehr schnell einen Namen - was schon bald den Verantwortlichen der sowjetischen Militärkommandantur immer wieder unangenehm auffiel.

Inzwischen waren die Zeugen Jehovas als Religionsgemeinschaft offiziell auch in der sowjetisch besetzten Zone wieder zugelassen, ihre Predigten und missionarische Tätigkeit wurden allerdings mehr noch als Religionsausübung eher toleriert. Schwer tat man sich jedoch in den behördlichen Entscheidungsgremien auf deutscher Seite mit der Zulassung von Drucklizenzen.38

Sowjetische Religionsoffiziere in Blankenburg verlangten sogar Redemanuskripte von Günther Pape. Dieser blieb standhaft, denn wir hatten Religionsfreiheit, warum dann eine Zensur meiner Predigten? Jede Woche stritt ich mich stundenlang mit Leutnant Magnitzki oder seinem Vorgesetzten. Spitzel der Russen besuchten Papes Vorträge, und man hielt ihm vor, er habe gesagt, die einzige Hoffnung der Menschheit sei nicht die UNO39, sondern das Königreich Gottes. Dies, so der Religionsoffizier, sei nicht mehr Religion, sondern Politik. Es entbrannte ein Streit darüber, was unter Politik zu verstehen sei, und in der „großen Politik" spitzte sich die politische Lage in der Zone zu. Von der russischen Kommandantur erhielt ich die erste Strafe von dreihundert Reichsmark. Der Kampf um unsere Religionsfreiheit begann. Dies bedeutete auch, dass den Zeugen Jehovas kaum noch Versammlungsräume zur Verfügung gestellt wurden. Unverhofft wurde auch Günther Pape in der eigenen Wohnung von Leutnant Magnitzki und seinen deutschen Polizeigehilfen überrascht, nach Verhören in eine Zelle gesperrt, jedoch am nächsten Tag wieder freigelassen. Doch bald gab es erneut Schwierigkeiten mit den Behörden. Wir richteten einen „kirchlichen Nachrichtendienst" ein. Dessen Tätigkeit - späterer Ausdruck für eine vermeintliche Spionage - beschreibt Günther Pape w. f.: Adressen von Landräten, Bürgermeistern, Parteifunktionären und sonstigen wichtigen Personen wurden von uns gesammelt. Skizzen unseres Missionsgebietes, in denen Straßen, Häuser, Betriebe, öffentliche Gebäude und anderes mehr eingezeichnet waren, angefertigt.

In den Jahren unmittelbar vor dem Verbot der Religionsgemeinschaft wandte sich Dieter Pape wieder einer weltlichen Tätigkeit zu. Er nahm eine Beschäftigung bei der Holzfirma Männicke in Neinstedt als Arbeiter auf und ging ab Sommer 1949 für kurze Zeit in die Baufirma Greifenreich in Thale. Im August desselben Jahres stellte ihn das Eisen- und Hüttenwerk in Thale als Walzwerker ein.

Seinen Glauben an das unmittelbar bevorstehende Ende der satanischen Regierungen - auch jener der gerade neu gebildeten DDR - und an die bevorstehende Endzeitschlacht von Harmagedon hatte sich Dieter Pape bewahrt. Als Gruppendiener ging er weiterhin dem Verkündigungsdienst nach und predigte den Menschen die frohe Botschaft vom baldigen Ende dieser Welt und der Errettung des einzelnen, so er sich von Jehovas Zeugen bekehren ließe.

3. Kapitel

Lebenswege:

Zwischen Staatsgründung und Mauerbau

(1950–1960) 3.1.

Günther Pape – Flucht und Neuorientierung:

Nach dem Zeugen-Jehovas-Verbot in der DDR Es bestand wohl bereits eine gewisse Vorahnung von dem, was nun kommen sollte. Hinsichtlich der Erlangung von Drucklizenzen erinnerte sich Günther Pape an ein Gespräch mit dem zuständigen sowjetischen Religionsoffizier in Blankenburg. Pape verteidigte als Zeuge Jehovas unter Bezugnahme auf alle biblisch ableitbaren Möglichkeiten das aus der Religionsfreiheit herrührende Recht, auch religiöse Gedanken frei und ohne jegliche Kontrolle in religiösen Publikationen drucken zu dürfen. Der Offizier legte ihm während des kontroversen Gespräches einen „Wachtturm" vor, lizenziert über die US-amerikanische Militärverwaltung. Warum, fragte der sowjetische Offizier eindringlich, wollen Sie uns Ihre Schriften nicht vorlegen, wenn doch alles so unpolitisch ist? Gegen eine US-amerikanische Kontrolle haben Sie ja wohl nichts einzuwenden? In der Tat. Günther Pape versuchte den augenscheinlichen Beleg der amerikanischen Kontrolle einfach zu ignorieren. Er beharrte auf seinen Glaubensgrundsätzen – und der Einwurf des Russen erschien ihm wahrlich als Eingebung des Satans, um ihn, Günther, zu verwirren.40

Noch vor dem Verbot der Religionsgemeinschaft bescheinigte der Rat des Landkreises Quedlinburg der Mutter von Günther und Dieter Pape unter Verweis auf die vorliegende OdF-Ausweisnummer deren Status als Verfolgte des Naziregimes „aus politischen Gründen", wie es hieß. Die Ausstellung einer solchen Bescheinigung zu diesem Zeitpunkt war allerdings in der Tat eher ungewöhnlich. Denn schon im Vorfeld der staatlichen Verbotsmaßnahmen forderte gerade die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), mit den einstmals mitinhaftierten Zeugen Jehovas unmissverständlich abzurechnen. Der Status eines Opfers des Faschismus sollte nämlich aus Sicht der VVN einerseits nur noch für aktive politische Kämpfer gegen das Naziregime gelten, andererseits machte die VVN die mit dem OdF-Status verbundenen Vergünstigungen davon abhängig, inwieweit der oder die Betreffende sich aktiv am „antifaschistisch-demokratischen" Aufbau beteiligte. Verweigerten doch Zeugen Jehovas eine solche politisch motivierte (!) Aktivität den Sowjets und dem DDR-Staat.41

Walter Ulbricht hob bereits 1948 die Verschärfung des – auch ideologisch geführten – Klassenkampfes hervor42; ein Kampf, der aus atheistischer Sicht unmittelbar auch als Kirchenkampf geführt wurde. Ganze Ortsgruppen der VVN beteiligten sich besonders rege an der Denunziation von Zeugen Jehovas, und drängten auf die Aberkennung von deren Verfolgtenstatus. Die Gründe lagen auf der Hand: Endzeitstimmung, Verbreitung von Kriegshetze – die bevorstehende Endschlacht von Harmagedon –, und dies in der Hochphase des Kalten Krieges, Demotivierung von Mitbürgern beim Aufbau der neuen Staatsund Gesellschaftsordnung, Verächtlichmachung der Führungskräfte in der SBZ / DDR – das waren nur einige vordergründige Indizien, auf deren Grundlage nicht nur die VVN, sondern auch der Partei-, Staats- und Sicherheitsapparat der entstehenden ostdeutschen Teilrepublik (DDR) zum Vernichtungsschlag gegen die „Agenten des Imperialismus" und „Kriegstreiber" ausholte.

Hausdurchsuchungen waren mitunter bereits vor dem offiziellen Verbot die Regel, auch in der Wohnung Günther Papes in Blankenburg. Verhöre wechselten zwischen dem Kreispolizeiamt in Blankenburg, sowjetischen Dienststellen und Befragungen noch in der Privatwohnung. Schon einmal wurde er, Günther, in einer Zelle über Nacht festgehalten. Sollte er nun seine endgültige Inhaftierung abwarten und im Vertrauen auf Jehova das sich anschließende Martyrium ertragen? Für derlei Überlegungen war es vielleicht schon zu spät – oder etwa nicht?

Um 2 Uhr nachts eröffnete mir ein Offizier […], ich könne jetzt nach Hause gehen, noch liege kein Haftbefehl vor. Er legte mir nahe, Blankenburg sofort zu verlassen. Günther zögerte nicht lange und radelte nach kurzer Benachrichtigung seiner Frau nach Hötensleben zu seiner Mutter. Diese war schon nach Schöningen zu bekannten Zeugen Jehovas geflüchtet. Im Westen angekommen, kehrte Günther Pape nochmals in den Harz zurück und flüchtete dann mit seiner Ehefrau und der damals eineinhalbjährigen Tochter Richtung Westen, wo sie Aufnahme im Flüchtlingslager Uelzen fanden. Von dort ging es über das Lager Altschweier Richtung Konstanz. Unweit von Singen, in dem kleinen Ort Storzeln erhielten die Papes eine Wohnung. Unsere Tätigkeit als Zeugen Jehovas konnte neu beginnen, zunächst in Storzeln und später nach erneutem Umzug in Waldshut am Hochrhein.

Neue Wahrheiten waren es, die Bruder Knorr, nach dem Erinnern Günther Papes für den Nürnberger Kongress der Zeugen Jehovas 1953 zu verkünden hatte. Die Neue-Welt-Gesellschaft wurde bereits als verwirklicht angesehen. Mit diesem Faktum konnte Günther Pape in Nürnberg in der Menge unter dem jubelnden Beifall seiner Mitgläubigen nicht so recht fertig werden. Hier, erinnerte er sich später, kamen erste Zweifel auf, die sich sogar bei seiner Tätigkeit verstärkten, denn er musste im Auftrag der WTG danach eine Bibliothek für die Waldshuter Versammlung der ZJ aufbauen. Hierbei fiel mir die ältere Literatur der Gesellschaft in die Hände. Sie zog mich an und ich las. Falsche Zeitberechnungen, völlig haltlose, heute längst aufgegebene Bibeldeutungen, unzeitgemäß gewordene Wahrheiten fesselten meine Aufmerksamkeit. Da soll ich als Zeuge Jehovas glauben, daß Jehova selbst die Bibel auslegt? Widersprüche in Lehre und Bibelauslegung fielen mir auf. Ich stellte ein ständiges Ummodeln der Wachtturmlehren fest, ein fortwährendes Anpassen an die sich verändernden Verhältnisse.

Rückblickend erkannte Günther Pape sein erwachendes Verantwortungsbewußtsein vor Gott während der Jahre des Zweifelns und offenkundigen Hinterfragens verschiedener Inhalte der Wachtturmlehre. Darüber hinaus hatte das Mißtrauen gegenüber dem Wachtturm in mir Wurzel gefaßt.43 Die Entscheidung, weiterhin die Lehren der WTG als, wie nunmehr angenommen, zweifelhaftes „Sprachrohr Gottes" zu predigen, konnte Günther Pape kaum mehr verantworten. Mit dem Erscheinen des Wachtturm vom 1. Juni 1952 „Ist Gott für die Weltbedrängnis verantwortlich?" habe, so Günther Pape, die politische Wachtturmoffensive begonnen. Was man hier gegen die Führer des Kommunismus praktizierte, konnte man später auch gegen nichtkommunistische Regierungen anwenden, und es wird auch angewendet. […] Das verstieß gegen alle bisherigen Grundsätze der politischen Neutralität.

Zu den genannten Zweifeln und dem nicht aufhören wollendem Hinterfragen kamen Zwistigkeiten innerhalb der Gemeinschaft der Gläubigen, Neid und Denunziation sowie vielfach bekanntes menschliches Versagen, über das auch später andere ehemalige Zeugen Jehovas nach längerer Zurückhaltung sprechen sollten.44

Angesichts der zunehmenden inneren Abkehr Günther Papes von den Lehren der WTG wäre es verständlich gewesen, dem bereits im Denken Abtrünnigen bei offenbaren praktischen Verfehlungen und dem Ablegen zweifelhafter oder gar falscher Zeugnisse die weitere Predigttätigkeit für die Zeugen Jehovas per Gemeinschaftsentzug zu untersagen. Der Bruch seitens der WTG erfolgte jedoch erst 1957, nach vorangegangenen Kontroversen innerhalb der Waldshuter Zeugen Jehovas insbesondere wegen Günther Pape. Einen Vorgang, in dessen Folge ihm bereits die Gemeinschaft entzogen werden sollte (es handelte sich nicht um religiöse Lehrstreitigkeiten!), schilderte Pape in einem Schreiben an Pater Haensli w. f.: […] Max Rübesam behauptete im Juli 1956, ich hätte ihn auf dem Nachhauseweg überfallen und zusammengeschlagen. Er meldete den Vorgang sogar der Polizei und zog dann aber die Meldung wieder zurück. Die Tatsache stellte sich dann heraus. Er war mit dem Moped angetrunken auf dem Nachhauseweg gegen einen Baum gefahren und in den Graben gestürzt, hatte davon Beulen und Abschürfungen bekommen und das Moped war beschädigt. Aus welchen Gründen auch immer, vermag ich nicht zu sagen, wahrscheinlich weil er trunken war und das bei den Zeugen sehr schwer wog, hat er dann diese Geschichte erfunden.45

Den Versammlungen in Waldshut blieb Pape schon seit 1956 fern und – von Mitgläubigen auf seine mangelnden Felddienstberichte (d. h. aktive Tätigkeit für die WTG) angesprochen – habe er sich so manche Ausrede einfallen lassen, berichtete er an Haensli.

Der Mangel an Felddienstberichten resultierte aber womöglich noch aus einer weiteren Tätigkeit, der Günther Pape zum damaligen Zeitpunkt nachging. Es handelte sich um ein im August 1956 in Oberlauchringen eröffnetes Informationsbüro, ordnungsgemäß angemeldet beim dortigen Bürgermeisteramt. Geschäftsführer des Büros war seinerzeit der Kaufmann Willi Hauser, auf dessen Geschäftstüchtigkeit und Kenntnisse Günther Pape annahm, sich verlassen zu können. Pape hoffte auch, im Rahmen einer gegründeten „Aktionsgemeinschaft" im Sinne der vielerorts bekundeten Zielstellung einer deutschen Wiedervereinigung tatkräftig wirken zu können und plante die Herausgabe einer Zeitschrift: „Wiedervereinigung". Eine Reihe von Briefen erreichte bekannte Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft in der Bundesrepublik, deren Begeisterung sich für das Vorhaben „Deutsche Einheit", so Günther Pape, sehr in Grenzen hielt. Auch wurde sehr schnell deutlich, dass die genannte Zeitschrift eher unerwünscht sei.46 Eine Zahlungsunfähigkeit des Informationsbüros – sowohl offene Rechnungen für Sachartikel als auch ausstehende Gehälter für Mitarbeiter – führten schließlich zur Anklageerhebung gegen Günther Pape wegen wirtschaftlicher Schädigung diverser Firmen und wegen Betruges. Als Zeuge der Anklage trat u. a. auch Willi Hauser auf. Per Mitteilung des Amtsgerichts wurde Günther Pape ohne Begründung die Übernahme der Kosten eines Anwaltes verweigert. Das Urteil: 9 Monate Haft wegen Betruges, zur Bewährung für drei Jahre ausgesetzt. Günther Pape nahm das Urteil an, ein schwerer Fehler, ohne Rechtsbeistand das Verfahren angehört zu haben, schrieb Pape später an Haensli.47 Weiter heißt es in dem „Antwortbogen" an den Jesuiten-Pater: Es kam später jedoch zu einem erneuten Verfahren, denn Willi Hauser verklagte Günther Pape vor dem Arbeitsgericht auf noch ausstehende vermeintliche Gehaltszahlungen in Höhe von DM 1.200,00, ein Ende der fünfziger Jahre beträchtlicher Betrag.

Die einst gegen Günther Pape ergangene Entscheidung des Amtsgerichtes, zu der auch Hauser selbst mit beitrug, sollte sich nicht noch einmal wiederholen: Günther Pape wurde vor dem Arbeitsgericht von einem Anwalt vertreten. Hausers Forderungen wurden vom Gericht nach Vorlage von Beweisen meines Rechtsanwaltes, auch aus den Akten des Gerichts Waldshut abgelehnt, so Pape. Dieses habe nunmehr den ehemaligen Geschäftsführer als den Urheber des vom Amtsgericht bewerkstelligten Fiaskos erkannt. Hierzu müßten Sie ein Schreiben meines Anwaltes haben, erinnerte er Haensli in derselben Mitteilung.

Die geschilderten Vorgänge (wiederum keine ausgewiesenen religiösen Lehrstreitigkeiten!) sollten 1957 dazu führen, den bereits unliebsamen Zeugen Jehovas Günther Pape aus der Gemeinschaft auszuschließen. Bis Sommer 1958 arbeitete der Abtrünnige vorübergehend in der Stuhl- und Tischfabrik Klingenau AG (Materiallager), später als Angestellter und Vertreter in verschiedenen Beschäftigungsverhältnissen. Die Zeugen Jehovas verlor Günther Pape nach der Zeit des Gemeinschaftsentzuges jedoch nicht aus den Augen, auch kehrte er nicht – wie sein Bruder Dieter in der DDR – Gott den Rücken.

Günther Pape fand den Weg in die katholische Kirche, die ihn in seinen Ambitionen, schriftstellerisch über die Zeugen Jehovas und die WTG zu informieren, Unterstützung zusagte. Ansprechpartner wurde Pater Haensli, der Pape von einigen „Patres des Kollegs St. Blasien"48 wärmstens empfohlen wurde.

3.2. Dieter Pape: Zweifel und Abkehr

Inhaftiert im „Roten Ochsen" (1952–1956)

Während sein Bruder Günther den Hinweis eines im Polizeidienst Verantwortlichen ernst nahm und nach Westdeutschland flüchtete, trotz Gottvertrauen, wie es auch andere Zeugen Jehovas vorzogen, statt am Orte des Geschehens erneut standhaft auszuharren, ging Dieter Pape in die Konspiration, um seine missionarische Tätigkeit gemäß der verfassungsmäßig garantierten Religionsfreiheit fortzusetzen. Nie hatte er Zweifel an der unpolitischen Korrektheit seines Handelns. Dennoch – er stellte sich vor wie es sei, dem SSD (= MfS) in die Hände zu fallen, kursierten doch nicht nur unter Zeugen Jehovas zahlreiche Geschichten über Mißhandlungen, Stehzellen, Zellen mit kaltem Wasser, grelle Scheinwerferbestrahlungen während der Vernehmungen, so auch in der Haftanstalt „Roter Ochse" am Kirchtor in Halle (Saale).49 Dort, schrieb er später, soll ein Bruder des Bibelhauses in Magdeburg sogar grausam mit Messern zu Tode gebracht worden sein. Man wollte irgendwie noch sein blutiges, zerfetztes Hemd herausgebracht haben.

Den Vorwurf der Spionage erklärte sich Dieter Pape relativ einfach aus dem atheistischen Selbstverständnis des DDR-Staates, der natürlich nicht als Christenverfolger habe dastehen wollen. So konstruierte der Staat kurzerhand den Spionagevorwurf, um einen gesetzlichen Vorwand gegen die Zeugen zu haben. Namentlich die Resolution aus dem Jahre 195050 mit Vernichtungsdrohungen an die Regierung habe wohl die DDR-Regierung politisch gewertet. Und in der Tat: Ich empfand einen gewissen politisch herausfordernden Zug in den Lehren der Zeugen, daran war nichts zu ändern.

Das MfS hatte bereits im sogenannten Gruppenvorgang „Gartenbau" unter der Registratur 175/51 u. a. den ZJ Dieter Pape in der MfS-Kreisdienststelle Quedlinburg erfasst. Durch das eigenmächtige Handeln eines dienstbeflissenen VP-Oberwachtmeisters kam der Gruppenvorgang bereits im Sommer des Jahres 1951 zu einem unerwartet jähen Ende, denn der Polizist ließ kurzerhand nach einer zufällig gemachten Beobachtung des Dieter Pape und anderer Zeugen Jehovas diese verhaften und in das VPKA Quedlinburg überführen. Es gelang den Staatsvertretern auch, als belastende Beweismittel inzwischen verbotene Literatur in der Wohnung Dieter Papes in Thale zu beschlagnahmen. MfS-Chef Weikert waren diese Beweise womöglich zu mager, denn er entließ alle Verhafteten bereits wenige Tage später. Jedoch versäumte er es nicht, den verpflichteten GM „Richard"51 dem MfS laufend Bericht erstatten zu lassen über die illegal sich versammelnde Gruppe der Zeugen Jehovas in Thale.

Nach längerer Beobachtung, in der auch Fahrten nach Westberlin aktenkundig wurden, um von dort „Hetzmaterial" gegen die DDR illegal abzuholen und in der DDR zu verbreiten – so ein Bericht vom Juli 1952 – waren offenbar aussichtsreiche Grundlagen für ein Ermittlungsverfahren durch das MfS gegeben. Mit der schlagartigen Verhaftung der Zeugen Jehovas wurde die Gruppe liquidiert und der Vorgang ‚Gartenbau' konnte eingestellt werden.52

In den späteren Darlegungen seines zukünftigen Lebens sprach Dieter Pape von einer großen Wende. Ich wurde plötzlich nach meiner Rückkehr vom Urlaub eines Abends im Werk verhaftet […], die Verhaftung kam überraschend.

Nach den Unterlagen des MfS zur „Strafsache" gegen Dieter Pape zeigte sich der Verhaftete (Haftbeschluss vom 28. Juni 1952) tatsächlich völlig überrascht. Den Vorwurf, aus der Westberliner Zentrale der Zeugen Jehovas Anordnungen geholt zu haben, wies er als völlig haltlos zurück. Er beteuerte: „Ich war der Meinung, daß mit der Verbreitung der Literatur", die er auch zugab, „lediglich die Lehre Gottes verbreitet wird." Außerdem diente sein Besuch vornehmlich seiner Mutter, gab er beschwörend zu Protokoll.53 Das MfS glaubte wohl kaum Papes Ausführungen. Bei der Hausdurchsuchung, die bereits am 25. Juni 1952 stattfand, konnte das MfS zahlreiche religiöse Literatur sicherstellen. Als belastend für Dieter Pape sollte sich weiter erweisen, innerhalb seiner Versammlung den anwesenden Zeugen Jehovas Bibelstunden in englischer Sprache gegeben haben. Für das MfS lag der Geruch von Spionage förmlich in der Luft, und die Verhörtaktik sollte sich – wenn auch aus der Luft gegriffen – danach orientieren. Es galt, den Spionen das beschlagnahmte Beweismaterial selbst vorzuhalten. Dieter Pape zeigte sich beeindruckt, als die Vernehmer im „Roten Ochsen" ihm einen völlig neuen Wachtturm vorlegten, den er, wie er bekennen musste, bis dahin selbst noch nicht gelesen hatte. Dies, so schätzte Pape ein, war eine offene Abrechnung mit dem Kommunismus als politi schem und wirtschaftlichem System. Seine und die von der WTG bislang gezeigten Vorstellungen von politischer Neutralität sah der Zeuge Jehovas plötzlich über den Haufen geworfen. Ich bin nicht Zeuge J. geworden, so Dieter Pape wenige Jahre später, um einen politischen Kampf zu führen und hier würde ich dazu gezwungen. Allerdings sah er einen Zusammenhang zur ihm unterstellten Spionage nicht. Dennoch: Die Grenzen in dieser Sache waren nun völlig verwischt […] So kam der Stein des Zweifels, der kritischen Prüfung aller meiner Vorstellungen ins Rollen, der das Gebäude meines Glaubens völlig zertrümmerte.

Bezeichnend ist die Ähnlichkeit bzw. Parallelität des Weges, der die Brüder Günther und Dieter zur Abkehr von den bis dahin aufs Schärfste verteidigten Lehren und Vorstellungen der ZJ gebracht hat; nämlich das Erkennen von Widersprüchen in den inhaltlichen Verlautbarungen des bisher maßgeblichen – wie sie nun meinten – blinden hingebungsvollen Glaubens. Auffällig dabei ist das offensichtliche Schlüsseldokument, der unpolitische Wachtturm aus dem Jahre 1952 „Ist Gott für die Weltbedrängnis verantwortlich?", den beide Brüder für ihre Abkehr von den ZJ unabhängig voneinander benennen. Günther Pape aus textexegetischer Sicht innerhalb der Predigttätigkeit für die Zeugen Jehovas und Dieter Pape unter MfS-Regie in der Untersuchungshaft ebenfalls unter Zuhilfenahme eines authentischen Textes. Orientierte sich der eine an möglichen neuen Glaubenssätzen, wurde dem anderen ein völlig verändertes Credo vorgegeben – nämlich die Abkehr vom Glauben schlechthin54, verbunden mit der Hilflosigkeit der eigenen Existenz in den Fängen des Staatssicherheitsdienstes und der Aussicht darauf, aus politischen Gründen (Spionage) verurteilt zu werden. Hier verwischte der DDR-Geheimdienst bewusst und manipulativ die Grenzen zwischen Politik und Religion. Eine solche Hilflosigkeit empfand auch Dieter Pape in der Untersuchungshaft und fragte sich immer wieder nach Jehovas Eingreifen bzw. dessen Wissen über die vor sich gehenden Dinge. Ihm kam der Gedanke, erinnerte er sich später, daß doch nirgends Gottes Überwaltung ist, nicht mal hierin, denn die „Feinde" wußten alles. So kamen da entscheidende Zweifel auf.55

Das Ermittlungsergebnis des MfS war auf solcherart Grundlage nur folgerichtig: Tätigkeit für die US-amerikanische Spionageorganisation und Boykotthetze sowie Kriegspropaganda gegen die DDR. Da ein Spion erwartungsgemäß auch Aufträge erhält, hielt das MfS Dieter Pape vor, dass er „auftragsgemäß" in Thale eine illegale Spionagegruppe aufgebaut habe …56

Der für den 1. Strafsenat am Bezirksgericht in Halle zuständige Bezirksrichter Bachert ordnete Fesselung an für die Vorladung von Dieter Pape und den Mitangeklagten aus der Haftanstalt „Roter Ochse", die Hauptverhandlung wurde auf den 8. Oktober 1952 festgelegt.

Erstaunen regte sich im Verhandlungssaal, als die öffentliche Anhörung Dieter Papes stattfand.57 Dieser verwies für alle im Saal Anwesenden hörbar auf das Selbstverständnis der Regierungen und politischen Systeme gegenüber seiner eigenen Organisation. Dies stehe, so Pape, natürlich im Widerspruch zur Wachtturmlehre, wonach alsbald die Vernichtung eben aller Staaten und politischen Systeme zu erwarten sei, darunter auch der DDR. Dies führe zur politischen Inaktivität, wozu die Zeugen Jehovas aufforderten. Pape wertete einen solchen Grundtenor der Lehren der WTG als „staatsgefährlichen Zug" – allgemein betrachtet und zutreffend auf jedwede Regierungsform. Von einem solchen nihilistischen Verständnis, so Pape, führe auch der Weg unmittelbar in das Dilemma, als Kriegstreiber verantwortlich gemacht zu werden. Er greift hier nicht mehr nur argumentativ auf die Bibel zurück, sondern auf ein Verständnis dessen, was vom herrschenden politischen System in der DDR als „staatsfeindliche Hetze" bezeichnet wird (wer nicht für uns ist, der ist gegen uns). Dieter Pape glaubte in den Konstellationen der politischen Blöcke nach Kriegsende ein weltliches Konfrontationsverhältnis zu sehen und zugleich unter Vorgabe der WTG theokratisch begründete Konfrontation zwischen dem totalen Anspruch der WTG als einzig wahrer Gotteslehre und den konfrontativen Konsequenzen im weltlichen Geschehen – dazu zählt auch die vermeintliche Kriegshetze. Im Denken von Dieter Pape war bereits die Annahme präsent, dass die WTG – entgegen aller Beteuerungen zur politischen Neutralität – gerade mit solchen Handlungsanweisungen die politischen Systeme gegeneinander aufwiegele und dabei den Versuch unternehme, im theokratischen Sinne Einfluss auf die Menschen zu gewinnen, also deren völlige Abstinenz von weltlichen Dingen nach und nach zu erlangen. Dies sei dann auch ein wahrlich erfolgreicher Schritt auf dem Wege der Königreichherrschaft Jehovas. Er sehe darin, dass die Lehren der WTG in religiöser Verbrämung daherkommen, den Ursprung aller damit verbundenen und gegebenen missbräuchlichen Zwecke – Zwecke, die im Laufe der letzten einhundert Jahre der Geschichte der WTG in der Tat gewechselt hätten.58 Er, Dieter Pape, habe in der MfS-Untersuchungshaft einen ideologischen Zusammenbruch erlebt, wie ich es nicht schildern kann.

Nach der Beweisaufnahme am 8. Oktober 1952 im Bezirksgericht Halle, Hansering 13 äußerte sich Dieter Pape abschließend zu seiner Verteidigung und der von der Staatsanwaltschaft beantragten Haftstrafe von acht Jahren Zuchthaus: Ich habe nie den Gedanken gehabt, Spionage oder Sabotage zu treiben, auch keine Boykotthetze oder Kriegspropaganda getrieben. Ich erkenne den Antrag nicht an. […] Ich bin glücklich, dass ich heute meinem Gott Jehova hier die Treue beweisen darf. Der psychische Zusammenbruch hatte offenbar auch seinen Zenit erreicht: Dieter Pape rief in seiner offenkundigen Hilflosigkeit erneut seinen Gott Jehova an, wo er sich doch gerade Stunden zuvor anschickte, sich von ihm – auch öffentlich – abzuwenden. Die innere Zerrissenheit, ähnlich wie bei seinem Bruder Günther, zeigte bei Dieter Pape spürbare Wirkung.59

Innerhalb der Haftanstalt diskutierte er zunehmend im Sinne seiner neu gewonnenen Einsichten – neben den MfS-Vernehmern insbesondere mit anderen gleichzeitig inhaftierten Zeugen Jehovas. Auf den streitbaren Haftinsassen wurde – eigentlich folgerichtig – der DDR-Geheimdienst auf eine Weise aufmerksam, die in späteren Jahren und Jahrzehnten die Zersetzungsstrategie des MfS gegenüber Zeugen Jehovas in der DDR bestimmen sollte.

Das MfS hatte natürlich seit der Untersuchungshaft im „Roten Ochsen" die Weichen radikal gestellt, um Dieter Pape einerseits von seinen Glaubensbrüdern zu isolieren (Protokolle nach dem vom MfS ausgearbeiteten Vernehmungsplan), andererseits jedoch, um auf Grund seiner veränderten Sicht auf die Religion der Zeugen Jehovas, die – so Pape während der Gerichtsverhandlung – von der WTG zweckentfremdet gebraucht werde, den nunmehr Zweifelnden unter den inhaftierten Mitgläubigen in den Jahren des Strafvollzuges gewähren zu lassen. Das MfS brauchte sich nicht zu bemühen, denn Dieter Pape handelte selbst, nämlich im Zellen-Gespräch mit verurteilten Zeugen Jehovas, die von ihm erkannten und so bewerteten Unstimmigkeiten und Widersprüche, ja den Missbrauch der Religion in den Lehren der WTG (vor allem in den Veröffentlichungen des „Wachtturm") demonstrativ und direkt zu debattieren. Dieter Pape machte sogar nach vierjähriger Haftzeit 1956 eine Eingabe an die Abteilung Strafvollzug, um – so der Grundtenor – die eigentlich Fehlgeleiteten der Religionsgemeinschaft umzuerziehen; ein Grundgedanke des sich entwickelnden sozialistischen Strafvollzuges.

Dieter Pape kann für sich in Anspruch nehmen, als Inhaftierter, als noch geltender Staatsfeind und als bekennender Bürger des DDR-Staates zumindest in diesem partiellen Umfeld Pionierleistungen erbracht zu haben. Pape ging es nicht darum, Zeugen Jehovas durch repressive Maßnahmen in der Gesellschaft zu isolieren, denn hinter ihnen stehe, meinte er in dem Papier, keine reale Macht, wie z. B. die Konterrevolution und andere Feinden unseres Staates, sondern eine Utopie60, die es zu überwinden gelte. Auch diesen fehlgeleiteten Menschen solle eine Perspektive in dieser Welt, und nicht – nach der Vernichtung durch Harmagedon – in einer nebulösen paradiesischen Welt gegeben werden. Die Staatsorgane hätten für den Glaubenshintergrund der Zeugen Jehovas und daraus resultierende Konsequenzen kaum Verständnis, auch er wurde einst in der Haftanstalt Waldheim als scheinheiliger Agent abgetan. Nicht Repression, sondern Integration – Dieter Pape brachte detaillierte Ausführungen zur erzieherischen Einflussnahme auf die Zeugen Jehovas zu Papier.

Die Dimensionen einer so verstandenen Zersetzung, die schließlich auch Legendenbildung, Desinformation und das Ausnutzen menschlicher Schwächen beinhalteten, um die Menschen als „Feindsubjekte" zu zerstören, blieben in den wohl ehrlichen und überzeugten Darlegungen Dieter Papes offenbar außen vor. Opportunistisch waren diese Ambitionen kaum, eher offenherzig und erschreckend naiv – ein Grundzug in so manchen Verhaltensweisen späterer Spitzel des MfS, die nicht zuletzt vorgaben, anderen Menschen per sönlich nie geschadet zu haben: Zersetzung als persönlichkeitsbildende Komponente.61

Das MfS sah in Dieter Pape zunehmend einen geeigneten und, wenn man so will, auch gutgläubigen und bereitwilligen Partner (Anwerbung für das MfS „auf der Basis der Überzeugung") zur Umsetzung weiterer perspektivischer Aufgaben bezüglich des Verbotes der Religionsgemeinschaft in der DDR. In einem Auskunftsbericht des MfS Ltn. Seltmann aus dem Jahre 1960 heißt es zum Werbungsvorgang: Den Anlaß gab der GI selbst, da er in der StVA Luckau, wo er damals wegen Tätigkeit für die „Zeugen Jehovas" einsaß, verschiedentlich Vorschläge machte, wie er sich es vorstellt, gegen die „Zeugen Jehovas" zu arbeiten um diese von der Irrlehre abzuziehen. […] Zur bisherigen Trefftätigkeit führte Seltmann weiter aus: Der GI nimmt diese Aufgabe sehr ernst und ist mit Herz und Seele bei dieser Arbeit. Man braucht ihn nicht zu stoßen um weiter zu kommen, sondern er macht selbst immer und immer wieder neue Vorschläge. Er ist unermüdlich auf der Suche nach neuen Möglichkeiten […]62 für das, was vom MfS „Zersetzung" genannt wurde. In einem „Führungsbericht" vom 25. Juni 1956 bescheinigte Oberkommissar Hentschke (Leiter der StVA Luckau) Dieter Pape, dass die Anstaltsleitung mit ihm wegen seiner Leistungen zufrieden sei. Auch habe er sich während seiner bisherigen Haftzeit von den Zeugen Jehovas abgewandt und negative Einstellungen zur Gesellschaftsentwicklung in der DDR seien nicht mehr zu verzeichnen. Hentschke regte dazu an, „eine bedingte Strafaussetzung gemäß § 346 der StPO" in Erwägung zu ziehen.63 Wie den MfS-Akten zu Dieter Pape zu entnehmen ist, steht diese nicht zwingend in einem Zusammenhang mit der Bereitschaft, mit dem MfS zusammenzuarbeiten. Wohl aber bekundete Pape seine Bereitschaft, nach seiner Haftentlassung am Aufbau des Sozialismus mitzuwirken und im erzieherischen Sinne gemeinsam mit den Staatsorganen auf Zeugen Jehovas einzuwirken – ohne ausdrückliche Benennung des MfS als Untersuchungs- und Ermittlungsorgan; in dessen Tätigkeit sah er ja bislang auch repressive Züge, die auf den Inhaftierten wirken und die, wie er zunächst glaubte, auch irgendwie würden außen vor bleiben können.

Der „Vorschlag zur Werbung" datiert vom 27. Juli 1956. Zwei Tage zuvor habe ein klärendes Gespräch stattgefunden, so der MfS Offizier Kowal, in dem der Kandidat sich bereit erklärt habe, mit dem MfS zusammenzuarbeiten. Für das MfS schien damit bestätigt zu sein, dass die Verpflichtung zur Zusammenarbeit zwischen Dieter Pape und dem MfS durch die Haftzeit und die MfS„Aufklärungsarbeit" zustande kam. Nunmehr forderte auch Hauptmann Kowal wie der Anstaltsleiter von Luckau, Pape bis Ende August 1956 aus dem Zuchthaus zu entlassen64. Auf Dieter Pape, IM „Wilhelm", warteten bereits viele Aufgaben.

3.2.1. Interviewprotokoll – Teil 1

„Zersetzung konnte nur gelingen, wenn sie auf fruchtbaren Boden fällt."

(Dieter Pape* im September 2000)

A. G.:

Herr Pape, Sie gerieten schon bald nach Gründung der DDR mit den Gesetzen in Konflikt. Als aktiver Zeuge Jehovas gingen Sie zu den Menschen, um – wie es wohl hieß – die frohe Botschaft zu verkünden. War das denn strafbar?

Dieter Pape:

Die Nachkriegssituation ließ tatsächlich die missionarische Tätigkeit der ZJ überall in Deutschland wieder aufleben. Hitler gelang es nicht, die Glaubensgemeinschaft – besser würde er heute sagen: die Sekte als solche zu zerstören, obwohl zahlreiche gutgläubige ZJ für Jehova, wie sie meinten, in die nationalsozialistischen Gefängnisse und Konzentrationslager gingen und Abb. 6 dies nicht selten mit dem Leben bezahlten. Auch seine Eltern wurden von der Gestapo verhaftet. Sein Vater überlebte 1945 die Bombardierung einer Außenstelle des KZ Sachsenhausen (Klinker-Werke) durch die Amerikaner nicht, wohin er als ZJ zur Arbeit zwangsverpflichtet wurde, und Mutter kam nach Kriegsende aus dem KZ Ravensbrück wieder heim. Er war damals als etwa 20-jähriger Bengel bestrebt, überall Jehovas Verheißungen zu preisen. Was die Verheißungen allerdings waren, wurde von der Watch-Tower-Society, also der Wachtturmgesellschaft in Brooklyn festgelegt. Schriftgut gelangte mit Zensur der Amerikaner in die damalige SBZ, worin die in Brooklyn abgestimmten Verheißungen des Sklaven Jehovas – der leitenden Körperschaft, eine Art Führungsgremium, innerer Machtzirkel der ZJ – publiziert wurden. Sie waren es jedoch, die das Feld zu bestellen hatten. Sie sehen, auch die Sprache der ZJ ist – wie auch bei anderen Sekten, etwa Moons, für Außenstehende recht verschwommen und kaum durchschaubar.

A. G.:

Die frohe Botschaft also eine gezielte Beförderung durch operative US-Militärs?

Dieter Pape:

Das ist zunächst ein Fakt, den Sie in den zeitgenössischen Wachtturmausgaben schwarz auf weiß nachlesen können. Für ihn selbst gab es damals keinen Zweifel an den vermeintlich positiven Missionsbestrebungen der WTG. Im Gegenteil: was von Brooklyn bzw. dem deutschen Zweig in Magdeburg kam, war für jeden ZJ bindend, es war zu verinnerlichen, war Gesetz. Er konnte sich nicht vorstellen, auch nur im Ansatz strafbar gehandelt zu haben.

A. G.:

Verboten wurden die ZJ 1950. Das blieb Ihnen ja nicht verborgen.

Dieter Pape:

Das ist richtig. Auch er missionierte illegal weiter – und wurde 1952 verhaftet. Er kam nach Halle in die MfS-Untersuchungshaftanstalt „Roter Ochse". Dort konfrontierte man ihn mit unseren eigenen „Wachttürmen" und sonstigem Material immer unter der Maßgabe, ob denn das Verhalten der ZJ tatsächlich so unpolitisch und neutral sei, wie es zum Beispiel von Erich Frost – einem führenden ZJ – lautstark verkündet wurde. In der Haft in Halle kamen nach und nach Zweifel, nicht am Glauben selbst, aber an dessen Umsetzung und politischer Verwässerung durch die WTG. Er hatte nach etlichen Wochen den Vernehmern nichts mehr zu entgegnen: Jawohl, die ZJ waren alles andere als neutral und unpolitisch. Er begriff, dass auf Grund einer Irrlehre zahlreiche Menschen in ein persönlich kaum zu verwindendes Unglück gestürzt wurden. Frühere Zweifel wurden auch hier wieder bewusst.

A. G.:

Welche früheren Zweifel? Waren Sie nicht aktiver ZJ?

Dieter Pape:

Die Situation war so. Im Jahre 1942 erschien in den USA das von den ZJ publizierte Buch „Die neue Welt", worin der Endsieg Hitlers vorausgesagt wird. Nach Kriegsende erschien das Werk in Deutschland. Er beschloss nach Lektüre, die Fehlaussage der ZJ-Leitung in Brooklyn seinerzeit zu hinterfragen und ging mit seinen Fragen zu Erich Frost. Es war ja offensichtlich, dass der „Nordkönig" – Adolf Hitler – nicht gesiegt hatte, sondern vernichtet war. Frost ließ ihn spüren, wie unbedeutend, ja falsch seine Überlegungen und Zweifel waren. Wie konnte er wagen, auch nur im Ansatz die – wenn auch irrigen – Behauptungen der leitenden Körperschaft zu hinterfragen oder diese gar fragend zu interpretieren. Wie und was überhaupt zu interpretieren war, obliegt – so Frost damals – nur dem Sklaven Jehovas, und Kritik am Sklaven ist Kritik an Jehova. Er war entsetzt, sich eine Kritik an Jehova angemaßt zu haben. Nach erfolgter Zurücknahme seiner Überlegungen und der Erbietung größter Ehrfurcht vor der leitenden Körperschaft der WTG war er froh, das Gespräch mit Erich Frost beendet zu haben

A. G.:

Zu Ihrer Untersuchungshaft im „Roten Ochsen". Was wurde Ihnen konkret vorgeworfen? Waren Sie zusammen mit weiteren ZJ inhaftiert?

Dieter Pape:

Man versuchte ihm von Anfang an zu erklären, dass er nicht aus religiösen Gründen festgenommen wurde. Natürlich befand er sich im „Roten Ochsen" in Einzelhaft, erst später in Torgau, Waldheim und Luckau war er mit anderen ZJ in einer Zelle eingesperrt. Dem MfS missfiel die politische Ausrichtung, die von den Herausgebern des „Wachtturm" aktiv in der SBZ / DDR gegen die dortigen Machthaber wortstark umgesetzt wurde. Auch das ist den zeitgenössischen Texten von damals eindeutig zu entnehmen. Das war keine religiöse Verkündigung mehr, sondern – aus Sicht der DDR-Oberen – einfach Hetze gegen den Staat. Es war schmerzvoll, die Dinge so zu sehen. Aber wiederum Fakten: Sie gingen zu den Leuten in die Häuser und Wohnungen mit dem „Wachtturm" in der Hand, versuchten sie zu bekehren, von der feindlichen Teufelswelt abzukoppeln. Die DDR war Teufelswerk, jede soziale Betätigung in diesem Staat galt als vom Teufel gelenkt. Und da war noch die Endzeitlehre: Kampf im Harmagedon, wo alles Teuflische von Jehova vernichtet wird. Sie glaubten, Harmagedon stehe unmittelbar bevor. Nimmt es da wunder, wenn die Kommunisten diese Lehren entsprechend weltlich interpretierten, gerade zur Zeit des Kalten Krieges? Es war dies im übrigen eben nicht nur eine Frage der Interpretation. Die Lehre der WTG richtete sich eindeutig gegen jede Art weltlicher Harmonie, die ZJ verstehen sich als Theokraten, nicht aber als Demokraten. In ihrer Lehre wechselten oft genug die Dogmen. Man kann so feststellen, dass in der Nachkriegszeit das Dogma Rutherfords den ursprünglichen Bestrebungen Russels völlig entgegenstand. Kein ZJ wagte, falls er es bemerkte, dies zu hinterfragen. Ihm drohte der Ausschluss in die Welt des Teufels und damit Vernichtung in Harmagedon. Er hoffe auf Verständnis für diesen „Exkurs" – als Nicht-ZJ stehe man den beschriebenen eigentlichen Dingen eher ahnungslos gegenüber.

A. G.:

So ahnungslos nun wieder auch nicht. Was Sie beschreiben, findet sich in den Stasi-Sachakten zu den ZJ und heißt „Zersetzung".

Dieter Pape:

Sicher. Die Gründe habe ich versucht zu erläutern. Allerdings konnte die „Zersetzung", wie Sie sagen, nur gelingen, wenn sie auf fruchtbaren Boden fällt. Ohne eine konträre Haltung zu den Lehren der ZJ wäre dies undenkbar oder besser kaum in dieser jetzt offenbaren Form gelungen …

A. G.:

… einer Form, an der Sie – zurückhaltend formuliert – nicht ganz unbeteiligt waren.

Dieter Pape:

Das ist eine Frage, vor der wohl auch andere ZJ nach ihrer Haftentlassung standen. Soviel ich heute weiß, wurde mit vielen ZJ über die Lehren der WTG diskutiert, das taten bereits die Sowjets.

A. G.:

Mit Ihnen sprachen die Russen?

Dieter Pape:

Nicht mit mir, aber mit Paul Großmann, leitender ZJ aus Magdeburg. Gemeinsam mit ihm und anderen ZJ war ich in Waldheim in einer Zelle. Großmann galt seit 1949 als spurlos verschwunden. Er berichtete von seiner Verhaftung durch den NKWD. Ich sagte ihm ohne weitere Rücksichtnahme auf seine leitende Funktion im Apparat der ZJ, dass doch eigentlich die Vorwürfe des MfS zumindest nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. Großmann meinte, auch wenn sie – also die Russen und das MfS – Recht hätten, würden wir doch den Brüdern in Brooklyn nicht in den Rücken fallen.

A. G.:

Nochmals zu den konkreten Vorwürfen. Missionierung an der Haustür und politisch unterstellte Ausrichtung – darauf hob die Anklage ab?

Dieter Pape:

Hier müssen Sie wiederum das Umfeld sehen. Was heißt, Religiosität vorzugeben aber aktiv politisch zu wirken? Es waren dies die vielen kleinen Bausteine, die zusammenkamen – und den Weg in die USA fanden, dem Nachkriegshauptfeind der Russen und deutschen Kommunisten. Wir erhielten Aufträge von leitenden ZJ aus Magdeburg, Straßenverzeichnisse und Skizzen der Orte und Städte anzufertigen. Darin sollten jedoch nicht nur mögliche Ansprechpartner für eine Missionierung erfasst werden, sondern auch Auskünfte registriert und festgehalten sein über die Wohnraumbelegung der Besatzungsoffiziere, über deren Wohnungswechsel, Angaben über staatli che Behördenmitarbeiter, Polizei und politischer Verwaltungsdienst usw. Sicher – ein Normalbürger, sage ich mal, weiß vielleicht auch, dass in Haus X in Straße Z der VP-Kripobeamte Schulze wohnt. Eine gezielte Erfassung solcher Dinge erhält jedoch aus geheimdienstlicher Sicht womöglich einen anderen Charakter. Die Erfassung von militärischen Transportwegen, Brücken usw. bezeichnet man auch als strategische Aufklärung. Freilich – in Haft mussten hierüber Nachweise seitens des MfS erbracht werden. Das ist eine zweite Sache. Die Reaktionen des Staates auf eine solche potentielle Sprengkraft erschienen mir, und nicht nur mir – noch während der Haftzeit nachvollziehbar.

A. G.:

Sie blieben also nicht „standhaft – trotz Verfolgung"?

Dieter Pape:

Eine Anspielung auf ein jüngstes ZJ-Video, das sich mit dem 3. Reich befasst. Aber auch für diese Zeit ist eine solche Pauschalerklärung unzutreffend und undifferenziert – eher eine ZJ-Verklärung, manche sprechen auch von erneuten Geschichtslügen.

Um auf seine Haftzeit zurückzukommen. Noch in der Zelle verkündete er im Beisein von Großmann und anderen, dass – wenn er die achtjährige Haftzeit überlebe – ich gegen die ZJ etwas unternehmen würde, die Haft nicht umsonst gewesen sei. Es folgten verschiedene Wortgefechte in der Zelle über die Wachtturmlehren. In Luckau wurde er von MfS-Leuten gefragt, seine Ambitionen gegen die ZJ in den Dienst des MfS zu stellen. Er hatte nichts einzuwenden und hoffte eher noch, mit einer entsprechenden Überzeugungsarbeit gegen die verfälschte ursprüngliche Lehre der Ernsten Bibelforscher, also Russels, einen Beitrag zur Legalisierung der ZJ in der DDR leisten zu können. Schließlich hat jeder von den ZJ politisch Angegriffene ein Recht – (Kirchen, Parteien, Staaten, Regierungen) – auf politische Reaktion bzw. Abwehr. Die Entlassung kam dann 1956.

A. G.:

Eine Art Tauschgeschäft? Stasi-IM gegen vorzeitige Entlassung?

Dieter Pape:

Das stimmt so nicht. 1956 wurde seine Haftzeit von acht Jahre auf fünf Jahre zunächst herabgesetzt und in Freiheit kam er infolge der erlassenen Amnestie durch Wilhelm Pieck.

3.2.2. Interviewprotokoll

„Er prophezeite, einmal in der DDR-Politik eine große Rolle zu erhalten."

(Heinz Seifert über Dieter Pape, im September 2002)

A. G.:

Herr Seifert, auch Sie waren Anfang der 50er Jahre nach dem Verbot der Zeugen Jehovas in der DDR in verschiedenen Haftanstalten inhaftiert, darunter auch in Torgau und in Waldheim. Einer Ihrer ehemaligen Glaubensbrüder, Dieter Pape, befand sich mit Ihnen auf dem Transport von Torgau nach Waldheim. Wurden Zeugen Jehovas in der Haft separat untergebracht, also getrennt von anderen Mitinhaftierten, die nicht zur Religionsgemeinschaft gehörten?

Heinz Seifert:

Das ist richtig. Es war wohl Anfang 1954, etwa im April, als über 50 Brüder aus der Haftanstalt Torgau zum Transport nach Waldheim gelangten. Meines Erachtens war darunter auch Dieter Pape. Dieser jedoch hatte sich bereits im Prozess mit sehr gehässigen Worten öffentlich von uns losgesagt. Pape war zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden, und in Torgau war er von uns getrennt, also mit anderen Häftlingen zusammen.

A. G.:

Acht Jahre Zuchthaus war doch sicher vergleichsweise sehr hoch?

Heinz Seifert:

Nun, das Gericht wertete die Äußerungen Papes, seinen plötzlichen Gesinnungswandel als besonders schlaue Tarnung, die ihn als geschickten „Spion" des amerikanischen Geheimdienstes erkennen ließen. Jedenfalls dachte man wohl so seitens der Justiz, auf Papes Entgegnungen zu den Zeugen Jehovas nahm das Gericht, so schien es, keinerlei Rücksicht, im Gegenteil.

A. G.:

Sie erwähnten die Trennung Papes von seinen Glaubensbrüdern in Torgau. Dies änderte sich dann in Waldheim?

Heinz Seifert:

Überhaupt hatte er wohl Probleme damit, dass seine vor Gericht getätigten Äußerungen für den Strafvollzug keinerlei Bedeutung haben sollten. Er erhielt sogar zwei Jahre mehr als sein Hilfsgruppendiener, das wurmte ihn sehr, und darüber war er auch wütend. Und in Waldheim steckte man ihn gemäß seiner Verhaftungsursache – Tätigkeit als Zeuge Jehovas – zu uns in die Etage der Zeugen Jehovas in den Hauptzellenbau, genannt „Bremen". Dort musste er mit damals wenigstens vier anderen Brüdern einige Wochen oder sogar Monate zusammen sein, was für ihn eine Qual bedeutete und für uns eine unangenehme Last.

A. G.

Hatten Sie das Gefühl, bereits mit einem Stasi-Spitzel zusammen eingesperrt zu sein?

Heinz Seifert:

Wie gesagt, man musste vorsichtig sein, Pape war eine Last vor allem hinsichtlich gemachterÄußerungen in der Zelle. Sogar die Wachtmeister haben uns Zeugen Jehovas vor Dieter Pape gewarnt. Er muss wohl schon unmittelbar nach seiner Verhaftung 1952 die Ideologie des Staates angenommen haben.

A. G.:

Gab es dafür Anzeichen?

Heinz Seifert:

Natürlich, und nicht wenige. Unentwegt versuchte er, mit uns Gespräche über die marxistische Weltanschauung zu führen. Sein Verhalten, so war der Eindruck, schien von innerer Spannung geprägt zu sein, ja – er war mitunter recht jähzornig und unbeherrscht.

A. G.:

Unbeherrscht?

Heinz Seifert:

Ja, nur um ein Beispiel zu nennen: Wir Gefangenen durften keine Mütze aufsetzen. Dieter Pape setzte natürlich die Mütze auf – einfach so aus Trotz. Er wollte nicht zu den Zeugen Jehovas gehören und provozierte laufend das Personal. Wohl auch, um Bestrafungen gegenüber uns Zeugen Jehovas zu erreichen.

A. G.:

Hatte ein solches Verhalten Auswirkungen auf den Arbeitsprozess allgemein? Es ist ja anzunehmen, dass Dieter Pape gemeinsam mit Jehovas Zeugen im Strafvollzug beschäftigt wurde?

Heinz Seifert:

Ich erinnere mich noch sehr gut an die Zeit, es mag Herbst 1954 gewesen sein, als er mit mir, mit Ernst Seliger und noch anderen Brüdern in einer gemeinsamen Zelle war. Es gab drei Schichten im sogenannten „FellschneideKommando": eine „Z.J.-Schicht", eine „X-Schicht" (das waren die vom 17. Juni 1953 Verurteilten) und eine allgemeine Schicht aus politischen und anderen Häftlingen. Dieter Pape war von der Verwaltung zur „Z.J.-Schicht" eingeteilt worden und deshalb mit uns zusammen. Die Aufgabe war, Haare von Kaninchenabfällen und manchmal von Kaninchenschwänzen, was besonders unangenehm war wegen des Gestankes, zu schneiden. Als „Schreiber" hatte ich die Ergebnisse jedes einzelnen aufzuschreiben gemäß der Reihenfolge ihrer Ergebnisse, d. h. vom Gewicht ihrer geschnittenen Haare. Die Ergebnisse der Arbeit sollten laut vorgelesen werden sowie die erreichte Prozentzahl ob über oder unter 100 %. Das entsprach dem kommunistischen Prinzip und man wollte auch die drei Schichten gegeneinander ausspielen. Dieter Pape behauptete immerzu, Zeugen Jehovas seien arbeitsscheu und würden lieber predigen als arbeiten. Er versuchte immer, Spitzenleistungen zu erreichen und das mit größter Anstrengung. Er wollte der Erste sein! Aber wir Zeugen Jehovas sind keinesfalls arbeitsscheue Elemente, und er rutschte ab auf Platz 10, gab dann gänzlich auf und fiel in der Leistung völlig ab. Wir hatten eben auch, besonders unter den jungen Brüdern, fleißige und geschickte Hände, die weit mehr als Pape schnitten.

A. G.:

Kontroversen also zwischen Jehovas Zeugen und Dieter Pape sowohl im Arbeitsprozess als auch nach Einschluss in der Zelle?

Heinz Seifert:

In der Zelle trommelte er oftmals vor Wut gegen die Tür und zog sich die Mütze über den Kopf, wenn Ernst Seliger die Besprechung über Abtrünnige und Gegner der Wahrheit in der Zelle leitete. Pape kündigte an, er werde nach seiner Haftentlassung alles unternehmen, um die Menschen vor Jehovas Zeugen zu warnen und sie vom Glauben abzubringen. Er prophezeite, einmal in der DDR-Politik eine große Rolle zu erhalten, damit ihm die Umsetzung dieser Zielstellung auch gelingt.

A. G.:

Hatten Sie den Eindruck, Dieter Pape habe sich schon von sich aus innig mit dieser Zielstellung identifiziert, schon hier während der Haftzeit?

Heinz Seifert:

Zumindest bestellte er sich in der Zelle marxistische Literatur und brachte auch gegenüber den Wachtmeistern die Bitte vor, eine Sondererlaubnis zum Schreiben zu erhalten. Es ist zu vermuten, dass dies schah, um dem Staatssicherheitsdienst seine Dienste anzubieten.

A. G.:

Ein solcher offensichtlicher – wohl auch recht ungewöhnlicher Zustand wurde tatsächlich in Waldheim beibehalten?

Heinz Seifert:

Nicht sehr lange, etwa vier Wochen. Dann wurde Pape verlegt zu anderen politischen Häftlingen, und im Arbeitskommando waren wir befreit. Jehova hatte unsere Gebete erhört

3.3. Kontaktaufnahme in geheimer Mission: Dieter Pape als Judas unter den Zeugen Jehovas (1957–1960)

Nach seiner Haftentlassung bemühte sich Dieter Pape mit unerwartet hoher Einsatzbereitschaft, wie das MfS schon nach kurzer Zeit lobend hervorhob, sein selbst gestecktes Ziel zu erreichen: der WTG und deren Irrglauben alles nur Erdenkliche entgegenzusetzen. Er selbst bildete förmlich den fruchtbaren Boden, den der DDR-Geheimdienst sich anschickte zu bestellen; seine innere Abkehr vom Glauben per se, vom Glauben an Jehova, bot hierfür eine erfolgversprechende Grundlage. Dieter Pape war ein Abtrünniger – wohl aber, wie sein Bruder auch: Insider – ein Faktum, das dem MfS sehr von Nutzen war.

Günther Pape vollzog seine Abkehr von den Zeugen Jehovas, nicht aber vom Glauben an Gott und an die „richtige" Religion jenseits der Obhut eines Geheimdienstorgans oder gar des MfS. Im Gespann mit Dieter war er darüber hinaus nicht nur ein weiterer Teil des, um bei der bildlichen Analogie zu bleiben, fruchtbaren Bodens. Wie sich zeigen sollte, wurde Günther Pape überaus aktiv innerhalb der vom Katholizismus geprägten Aufklärungs- und Abwehrarbeit gegenüber den Zeugen Jehovas, die sich seit den 60er Jahren bundesweit und international gegen Sekten etablierte, also auch gegen die Zeugen Jehovas. In dem von Günther Pape später geleiteten katholischen „Informationsbüro für Weltanschauungsfragen" liefen zahlreiche Fäden insbesondere in Sachen Aufklärung über die Zeugen Jehovas zusammen. Ausgesprochene Anerkennung durch katholische Würdenträger lässt auf die immense Bedeutung der Aufklärungs- und Beistandsarbeit Papes schließen, die er auch nach 1989 fortsetzte (vgl. weiter unten Kapitel 5).

Nach der Haftentlassung Dieter Papes als IM „Wilhelm" galt es jedoch, den fruchtbaren Boden aufzubereiten. Dies sollte in wesentlichen Punkten wie folgt passieren: a) Zersetzungsstrategie des MfS unter den Zeugen Jehovas über IM „Wilhelm" – dabei konnte der Inoffizielle Mitarbeiter des MfS Dieter Pape die Gesamtstrategie des MfS kaum mehr verinnerlichen. Das war vom Geheimdienst auch so gewollt, b) die Zurückweisung sämtlicher Inhalte der Religion der WTG, der Zeugen Jehovas als Irrlehre zum Schaden des Menschen, des einzelnen; markante Wegzeichen der so überlegten „Bestellung des fruchtbaren Bodens" setzte also Dieter Pape selbst und erreichte damit, dass entscheidende Auswirkungen der unter a) formulierten Gesamtstrategie tatsächlich durch ihn als Insider zunehmend erzielt wurden und schließlich c) Instrumentalisierung von Fremdaktivitäten in gewünschter Perspektive, wo es galt, insbesondere das Zusammenwirken der beiden abtrünnigen Brüder im gesamtdeutschen Rahmen für das MfS nutzbar zu machen.

Es ist bezeichnend, dass selbst die zeitliche Abfolge der genannten Schwerpunkte von a bis c in genau dieser Form im Archivbestand des MfS rekonstru iert werden kann. Das MfS begann unmittelbar nach Papes Entlassung aus der Haftanstalt per Legende sein künftiges Wirkungsfeld zu sondieren: Eingliederung in die Reihen der Zeugen Jehovas und deren Ausspähung. Dazu sollte der IM vorgeben und eingestehen, während der Haft falsches Zeugnis abgelegt zu haben. Operative Zielstellung sollte die Wiederaufnahme Papes als Zeuge Jehovas sein, um zersetzend innerhalb der ZJ wirken zu können. Die Mittel dazu waren bewusst gewählt: Lüge, Heuchelei, Desinformation über menschliche Schwächen sowie Vertrauensmissbrauch – ein Minimum an Maßnahmen aus dem Arsenal der MfS-Zersetzungsstrategie, dem sich Dieter Pape in solchen Dimensionen kaum noch zu entziehen vermochte. Im Gegenteil: Ausarbeitung von Flugblättern, die führende Funktionäre der „ZJ" kompromittieren, formuliert als derzeitige Aufgabe des IM, die von Dieter Pape nach Auskunftsbericht von Ltn. Seltmann vorbildlich erfüllt werde.65

Der erste familiäre Kontakt wurde mit der Mutter hergestellt, die wohl von der Haftentlassung des Sohnes über Zeugen Jehovas erfahren hatte.66 Im Mai 1957 reiste Dieter Pape im Auftrag des MfS zu seiner Mutter, wobei es ihm gelang, das Vertrauensverhältnis wieder herzustellen. Dabei wurde ihm der Weg zu seiner Rehabilitierung [gemeint: als Zeuge Jehovas, Anm. A. G.] vonseiten seiner Mutter und der Zentrale aufgezeigt […].67 Wie aus den MfSAkten hervorgeht, habe Marie Pape selbst den Wunsch geäußert, dass ihr Sohn zum bevorstehenden Kongress der Zeugen Jehovas nach West-Berlin kommen sollte.68

Dort wurde Dieter Pape von ehemals Inhaftierten der Haftanstalt Luckau erkannt und den Organisatoren des Kongresses als mutmaßlicher Stasi-Spitzel gemeldet. Gemeinsam mit MfS-Mitarbeitern überlegte Dieter Pape die weitere Strategie des Vorgehens. Dabei nutzte er vor allem auch das Ansehen seiner Mutter bei den Zeugen Jehovas, auf deren positiven Einfluss er sich bei den Glaubensbrüdern immer wieder berief. Ohne Gott, soll er in WestBerlin glaubhaft geheuchelt haben, würde einem etwas fehlen. Er sei zu der Einsicht gekommen, daß es kein Leben ist ohne Gott. Um den angeblichen Sinneswandel verglichen mit seiner Agitation in der Haftanstalt glaubhaft zu untermauern, sollte der IM verschiedene frühere Behauptungen gegen die „ZJ" zurücknehmen.69

Es ist davon auszugehen, dass es für den IM zunehmend fraglich wurde, ob die anvisierte Zielstellung, gegen die ZJ wirksam zu arbeiten, durch die Verhaltensweisen, die das MfS vorgegeben und die er ohne Abstriche durchgeführt hatte, zu erreichen sein würde. Nie bestehe die Möglichkeit, so sein Fazit nach dem Juli-Einsatz in West-Berlin, geeignete Personen in leitende Stellung [bei den Zeugen Jehovas] zu bringen, um diese zu zersetzen. Eine Zersetzung könne nur dann Erfolg haben, wenn eine Gegenorganisation errichtet würde, notierte Leutnant Noack Papes Äußerungen nach einem Treffen im November 1957 in Quedlinburg. Von unbekannter Seite wurde handschriftlich zu genau dieser Formulierung vermerkt: Das soll er uns überlassen70 – ein MfS-Wunsch, der sich so nicht erfüllen sollte. Es zeigte sich sehr bald, dass nicht der Geheimdienst als Organ, sondern Dieter Pape als Person, natürlich als IM des MfS, das weitere Vorgehen der entsprechenden „Linie", wie es hieß, nicht nur koordinieren, sondern grundlegend bestimmen sollte. „Zur Frage der Zeugen Jehovas" arbeitete Dieter Pape im November 1957 einen maßgeblichen Perspektivplan aus, der die weitere Vorgehensweise des MfS koordinieren sollte. Insofern ist auch der Einfluss, den Dieter Pape auszuüben imstande war, keinesfalls zu bagatellisieren. Er wurde zum Dreh- und Angelpunkt innerhalb der MfS-Strategie gegen die Zeugen Jehovas.70 Das Papier gliedert sich in drei Teile. Zunächst analysierte Dieter Pape ausführlich wesentliche Elemente der Lehre der WTG und das Selbstverständnis der Zeugen Jehovas. Ihm war klar, dass das MfS auch in strategischer Hinsicht hier zu eklatanten Fehleinschätzungen gekommen war. Eine bestand in der Annahme, innerhalb der Zeugen Jehovas „fortschrittlich" wirken zu können, also die Zersetzung der Zeugen Jehovas durch instabile Verhältnisse zu erreichen. Dies, so Pape, sei illusionär und nach den Grundlehren der WTG, die eben keine Religionsgemeinschaft wie eine andere ist, an sich unmöglich. Ihr Verhalten sei gegen jede Form von Regierung gerichtet. Kein ZJ habe auch nur ein bisschen Verständnis für einen „guten Sozialismus", ebenso wenig allerdings für andere Staatsformen. Zeugen Jehovas haben mit der „alten Welt" – quer durch die Systeme – gebrochen. „Das Absurde" sei, so Pape, dass die WTG gerade von den Regierungen dieser „alten Welt" erwarte, durch Tolerierung des Wirkens von Zeugen Jehovas ihrem eigenen Untergang nicht nur tatenlos zuzusehen, sondern diesen sogar noch zu befördern, indem sie von den Herrschenden zynisch fordern, den Weltuntergang mit der Predigt von Harmagedon überall ungestraft verbreiten zu lassen. Dies, so Pape, sei das tatsächliche Verständnis der Zeugen Jehovas von der in Anspruch zu nehmenden Religionsfreiheit. Diese Freiheit soll von Regierungen gewährt werden, gegen deren Berechtigungsexistenz die WTG weltweit zu Felde zieht. Ein Zeuge Jehovas also, der diese Dinge nicht vertritt und nur den Ansatz von „Fortschrittlichkeit" erkennen lässt, habe sich nach dem Verständnis der WTG selbst als Abgesandter dieser Welt, nämlich des Teufels, entlarvt.

In einem zweiten Teil führte Dieter Pape konkret seinen eigenen Entwicklungsweg aus und kam zu dem ernüchternden Ergebnis, dass er als Person in den Reihen der Zeugen Jehovas kaum mehr Vertrauen erwecken könne. Zumindest gelte er als „pro-kommunistisch", schrieb er hierzu abschließend.

Die „Perspektive" für ein weiteres Vorgehen gegen die Zeugen Jehovas basiere, so Pape, auf ideologischen Grundlagen, wie beispielsweise auch die Kirchen ideologisch gegen die Sekte argumentieren. Er selbst habe sich in der Haft dazu entschlossen und keinen Hehl daraus gemacht, worüber zahlreiche mitinhaftierte Zeugen Jehovas berichten könnten. Ein ideologisches Vorgehen aber auf welchen Grundlagen? Nicht auf denen des Materialismus oder der atheistischen Philosophie, so Pape, sondern unter bestimmten christlichen biblischen Gesichtspunkten, des Humanismus und der Demokratie, des Sozialismus und des Kommunismus, soweit sie der Sache dienlich sind. Allgemeinmenschliche Ambitionen bewegen den IM – wohl zunächst sehr zur Verwunderung seiner MfS-Führungsoffiziere. Man müsste ein Komitee vorerst bilden, führte Pape weiter aus, vielleicht wird später daraus eine größere Organisation, unter privatem Namen, meinem meinetwegen, das offen von genannten Positionen aus die ZJ bekämpft, unter Vermeidung der Tagespresse, aber mit einem Organ, dass sich ständig im dargelegten Sinne mit den ZJ befasst. Nachfolgende Ausführungen lesen sich wie eine Vorwegnahme dessen, was wenige Jahre später tatsächlich das weitere Vorgehen des MfS gegen die Zeugen Jehovas in der DDR bestimmen sollte.

Die Instrumentalisierung des Denkens (hier des MfS bezüglich Pape) und des Handelns (hier von Pape bezüglich der „Staatsorgane", des MfS) war bereits kurz nach der Haftentlassung Dieter Papes unablässig weiter fortgeschritten und auch gegenseitig bedingt: Dieter Pape musste ebenso wenig zersetzt werden wie sein Bruder Günther in der Bundesrepublik. Beide waren sich noch am Ende der 50er Jahre in ihrem Vorhaben einig, gegen die Organisation der Religionsgemeinschaft Zeugen Jehovas offensiv vorzugehen, wofür schließlich alle legalen (und auch konspirativen) Mittel zu nutzen seien. Der entscheidende Punkt war jedoch, dass die Nutzung eben jener Mittel durch die Brüder individuell erfolgte.

IM „Wilhelm" hatte bereits in Luckau Vorschläge zu Papier gebracht, die nach der Einschätzung des stellv. Abteilungsleiters Hauptmann Kowal für alle Strafanstalten Gültigkeit haben könnte[n].71 Nur wenige Monate später stellte Dieter Pape seinen „Perspektivplan" zum Vorgehen gegen die Zeugen Jehovas vor – ein Plan, den das MfS begierig als Drehbuch aufgriff. Die Umsetzung des Vorhabens selbst nahm schließlich noch einige Jahre in Anspruch.

Günther Pape befasste sich bereits seit geraumer Zeit mit Ausarbeitungen gegen die Lehre der WTG. Nach der Haftentlassung seines Bruders bat er diesen nach erfolgter Kontaktaufnahme (Mai 1957) noch im Herbst jenes Jahres, sich mit ihm zu verständigen.72 Der IM sagte zu, den Auftrag dafür und damit verbundene Vorgaben erhielt er unmissverständlich vom MfS.73 Seine bereits zu Papier gebrachten Vorschläge zur Gründung einer legalen Oppositionsgruppe gegen die Zeugen Jehovas in der DDR sollten von ihm selbst untermauert und ausgebaut werden. Der IM ließ nicht lange warten, bereits im Dezember 1957 folgten detaillierte Vorschläge.74

Zur Kontaktaufnahme mit seinem Bruder Günther, zu der Dieter Pape in die Bundesrepublik reisen durfte, wurde ihm vom MfS ein ganzer Aufgabenkatalog überreicht.75 Die Besuche bei seiner Mutter und seinem Bruder fasste das MfS „streng vertraulich" am 26. März 1958 schließlich als „Auftrag Nr. 2" für IM „Wilhelm" zusammen.

Unmittelbar nach seiner Rückkehr berichtete „Wilhelm" auftragsgemäß gegenüber dem MfS über den Erfolg seiner Mission. Er habe Günther vorgeschlagen, ein gemeinsames Werk gegen die Zeugen Jehovas zu verfassen und zu publizieren, Günther im Westen und er selbst im Osten. Über die Manuskripte werde man sich in den nächsten Wochen und Monaten verständigen. Auch habe sein Bruder inzwischen Verbindungen zur katholischen Kirche, die ihm Unterstützung zugesagt habe.76

Den noch vorliegenden handschriftlichen Briefen jener Zeit von Dieter Pape an seinen Bruder Günther ist zu entnehmen, wie Dieter in den Gesprächen mit seiner Mutter Grundlehren der WTG diskutierte und darüber ausführlich berichtete.77

Im April 1958 schlug Dieter Pape vor als Titel für das gemeinsam geplante Werk: „Machtgelüste blossgestellt" und räumte zugleich ein: „Vielleicht ist der Titel nicht ganz treffend. Aber das kann ich ja noch ändern." Pape gehe es um die „politisch neutrale" Entwicklung der WTG (unter Russell) hin „zu einem neuen politischen Faktor." Im Laufe der nachfolgenden Zeit, wo es immer wieder zu Ausarbeitungen und gemeinsamen Korrekturen kam78 zeigte sich, so Günther Pape, dass er das Buch mit seinem Bruder nicht habe verfassen können. Er habe festgestellt, dass in so manchen Punkten unterschiedliche Herangehensweisen bestünden. Das Buchprojekt scheiterte, und Günther Pape veröffentlichte wenige Jahre später seine eigenen Ausarbeitungen (vgl. Kapitel 5).

Kapitel 4

IM „Wilhelm": Die Feuertaufe

Spionageeinsatz in Polen (1960)

4.1. Identitätswechsel:

Aus Dieter Pape wird der Bundesbürger Erich Mager

1960 kam es in Polen zu einer Reihe von Veränderungen in der Organisation der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas.79 Ein in Russisch abgefasster Bericht, der im Rahmen der operativen Arbeit des MfS übersetzt wurde, informierte im Sommer 1960 nicht nur über Verhaftungen von Zeugen Jehovas in Polen, sondern auch über dort aufgekommene Spannungen und Kontroversen zwischen einzelnen Zeugen sowie Gruppenbildung unter den ZJ selbst. Grundlegend zeigten die international agierenden Geheimdienste der Sowjetunion, Polens und der DDR Interesse an einer sogenannten Gruppe der „Unzufriedenen" in Polen, Zeugen Jehovas, die auch Kritik übten an der Leitungsstruktur und in Berichten aus Polen an die Brooklyner Zentrale in den USA. Auf Grund der Lage der Dinge, so der KGB-Bericht, könne selbst das bereits bekannte Material der Gruppe der „Unzufriedenen" durch die Organe nicht ausgewertet werden, da eine Dekonspiration der Verbindung befürchtet wird. Dies deutet darauf hin, dass die WTG vom sowjetischen oder / und polnischen Geheimdienst unterwandert war und dass über wichtige Unterlagen zumindest Informationen vorlagen.

Von den „unzufriedenen" Beschwerdeführern gingen Briefe direkt nach Brooklyn, um nach Einschätzung der Lage von einem Schlichter die strittigen Probleme lösen zu lassen. Harald Abt, Zeuge Jehovas in Polen, habe sogar Knorr gegenüber die Notwendigkeit [begründet], einen Vertreter des Zentrums zu schicken, ohne vorher den Leiter der Organisation in Polen in Kenntnis zu setzen. Das MfS unterbreitete den Vorschlag, in dieser Angelegenheit in der Form zu helfen, daß nach Polen ein GM mit Decknamen „Wilhelm" geschickt wird, der in der Rolle eines Emissärs aus Wiesbaden auftreten wird.80 Nur einem traute man in der DDR die Erfüllung dieser brisanten und nicht ungefährlichen Mission zu, dem ehemaligen Zeugen Jehovas Dieter Pape.

Nicht zuletzt waren es der Ehrgeiz und die übergroße Einsatzbereitschaft Papes, die ihn bereits drei Jahre nach der Haftentlassung in das Blickfeld der international operierenden Geheimdienstorgane rücken ließen. Der in Warschau für das MfS aus dem Russischen übersetzte Informationsbericht sah konkret eine Zusammenarbeit des polnischen Geheimdienstes mit dem vom MfS Beauftragten vor. Mit dem Polen-Einsatz stellte Dieter Pape im Sinne seiner zu erwartenden MfS-Karriere auch die Weichen dafür, dass er auf internationalem Parkett – so auch im Rahmen von Einsätzen in Moskau81 – bestehen und vor allem seiner Zielstellung, die er schon vielfach mit Vorschlägen und ganzen Ausarbeitungen zu Papier gebracht hatte, unbeirrt nachgehen konnte. Selbst für seinen Auftrag in Polen entwickelte Dieter Pape eigene Schwerpunkte. Diese gingen über den operativen Auftrag der Dienste bei weitem hinaus, also Aufträge, die speziell das MfS interessieren, so Pape.82

Im „Auftrag" des MfS sollte Dieter Pape am 17. August 1960 mit einer anderen Identität nach Polen fahren. Sie selbst, heißt es auftragsgemäß, reisen als westdeutscher Bürger unter folgenden Angaben:

M a g e r , Erich

geb. 1.9.1927 in Frankfurt/M.

Staatsangeh.: deutsch

Beruf: Mechaniker

Ständiger Wohnsitz: Wiesbaden-Dotzheim, Am Kohleck, Greifstr. 16

Sie sind seit dem 16.5.57 in Wiesbaden wohnhaft und nahmen am Weltkongreß der „Zeugen Jehovas" 1958 in den USA teil. In die Volksrepublik Polen kamen Sie unter Vortäuschung einer Geschäftsreise.83

Tatsächlich gelangte Dieter Pape alias Erich Mager überraschend ohne große Komplikationen in die Dienstabteilung der Zeugen Jehovas in Polen unter der Leitung von Harald Abt.84 Die Legenden, die von den Geheimdiensten zuvor festgelegt und auch praxiswirksam koordiniert worden waren, verfehlten ihre Wirkung nicht. Die Tochter selbst führte schließlich Dieter Pape zum geheimen Versteck im polnischen Untergrund.85 Zwischen Pape und Abt begann ein offenes Gespräch über den theokratischen Auftrag des vermeintlichen Schlichters; offenbar völlig im Vertrauen darauf, bei Erich Mager handele es sich um den angefragten Abgesandten aus der Zentrale in Wiesbaden. Harald Abt habe keinerlei Ausweis oder Legitimation verlangt, stellte Pape in seinem Auswertungsbericht fest. Die Informationen, die der IM des MfS erhielt, waren so erdrückend und das gesehene Material in der Wohnung der Abts dermaßen umfassend, dass – so Pape – sofort gehandelt werden musste. Diese Meinung wurde bestätigt durch eine Mitteilung Abts über einen in Kürze vorgesehenen Umzug der Abteilung aus Sicherheitsgründen und deshalb, weil das Giebelzimmer im Winter zu kalt ist, es ist nicht zum Aushalten. Pape erkannte sofort die Wichtigkeit der im Abt-Büro vorhandenen Unterlagen: Er besaß also ideales Material. Er besaß ein ganzes Übersetzungsbüro. Durch seine Hände ging alles, was aus dem Ausland von der Gesellschaft kam. Diese Materialien mußten abgefangen werden, war mein Entschluß.86 Und diesen unmissverständlichen Entschluss legte Dieter Pape den Genossen in Polen vor, die an seinem vierten Aufenthaltstag eigens hierzu eine Beratung abhielten, um zu entscheiden. Es wurde beschlossen, am nächsten Tag die Dienstabteilung auszuheben.87 Über den Erfolg der koordinierten Geheimdienstoperation notierte der IM eine Übersetzung des Dolmetschers eines polnischen Geheimdienstlers: Es war ein guter Fang gewesen. Abt sei jetzt schon ein toter Mann unter seinen Funktionären. Das andere wird der falsche Wachtturm erledigen.88

In völlig anderem Zusammenhang bewertet heute der frühere Leiter des Westberliner Ostbüros der Zeugen Jehovas, Willi P., den Einsatz Dieter Papes in Polen. Die Ereignisse dort, so P., blieben trotz der spektakulären Dimension in der Auswirkung auf das Werk der ZJ in Polen eine unwesentliche Episode.89 Es sei auch allen schnell klar geworden, dass Abt Opfer einer Intrige des Geheimdienstes geworden war. Die in den MfS-Akten hierzu registrierten Meldungen und Berichte solle man nicht ernst nehmen, so die Sicht Willi P.s.90 Ausführlich fasste er zum Pape-Einsatz zusammen: Generell wäre anzumerken, daß die Methode, über einen Abgesandten Meinungsverschiedenheiten klären zu wollen, nicht die Verfahrensweise der ZJ ist. Für sie bildet die Bibel die Grundlage für Entscheidungen, nicht die Meinungsäußerungen von potentiellen Gesprächspartnern. Insofern wäre von den verantwortlichen Männern eine schriftliche Regelung auf Grundlage der Bibel zu erwarten gewesen. Die vom polnischen Geheimdienst beobachteten Meinungsverschiedenheiten waren nicht so schwerwiegend wie von ihm angenommen wurde. Dieter Pape reiste in Zusammenarbeit beider Geheimdienste nach Polen und wurde dort vom polnischen Geheimdienst zu Harald Abt dirigiert. Von einer Anforderung der in Polen verantwortlichen ZJ – einen Schlichter betreffend – war nichts bekannt. Harald Abt wurde sich im übrigen schnell über Papes Rolle klar. Der MfS-Spitzel hatte deshalb keinen Erfolg. Über Spitzel beim polnischen Geheimdienst in diesem Zusammenhang ist nichts bekannt, soweit Willi P..

Auf der Grundlage von MfS-Akten zu vorhandenen Berichten vom Wirken des „Ostbüros" der Zeugen Jehovas ist die Unwissenheit des langjährigen Leiters des Büros kaum nachvollziehbar. Dem widerspricht allerdings auch ein Hinweis aus Polen, wonach Harald Abt unmittelbar nach der Geheimdienstoperation einen umfassenden Bericht hierüber an die Zentrale nach Wiesbaden geschickt habe (vgl. nachfolgendes Interview). Nach Auskunft von Willi P. sei jedoch die Bezeichnung „Ostbüro der ZJ" durch das MfS leicht irreführend. Im Gegensatz zum MfS hatte das Berliner Zweigbüro keine Aufgaben des Ausspähens, sondern der geistlichen Betreuung der örtlichen Gemeinden und der Versorgung von Glaubensangehörigen mit biblischer Studienliteratur. Von West-Berlin aus, später von Wiesbaden, wurden die osteuropäischen Zeugen Jehovas, die ja regional verboten waren, in dieser Weise unterstützt.91

Bei den Zeugen Jehovas in Polen waren allerdings Spitzel des polnischen Geheimdienstes – zunächst nicht namentlich – sehr wohl bekannt. Folgt man den hierzu gegebenen Auskünften von Zeugen Jehovas in Polen dürfte dies dem Leiter des Ostbüros wohl im Rahmen der für das Ostbüro ausgeführten Aufgaben letztlich verborgen geblieben sein.92

4.2. Interviewprotokoll

„Ein solcher Vermittler wurde denn auch im Sommer 1960 erwartet"

(Romuald Stawski über Dieter Pape, im März 2002)

A. G.:

Herr Stawski, Sie erlebten über Jahrzehnte die Verfolgung Ihrer Religionsgemeinschaft in Polen, waren selbst oftmals verhaftet und standen als „Agent der Amerikaner" vor polnischen Gerichten, von denen Sie zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Der polnische Geheimdienst aktivierte in der Zeit des Kalten Krieges sein Vorgehen, insbesondere in den 50er Jahren, um die Zeugen Jehovas im Staat zu zersetzen. Die Strategie der „Zersetzung" spielte auch beim ostdeutschen Geheimdienst MfS die entscheidende Rolle im Kampf gegen die in Brooklyn (USA) ansässige und international agierende Wachtturmgesellschaft, hier allerdings erst seit den beginnenden 60er Jahren. Nach dem Verbot der Zeugen Jehovas in der DDR (1950) drängten die Geheimen zunächst auf eine recht schnelle Zerschlagung der Gemeinschaft. Sehen Sie, Herr Stawski, hierzu Parallelen, die das Vorgehen der geheimen Dienste in der DDR und in Polen zugleich auch als „Kirchenkampf" charakterisieren?

R. Stawski:

Zunächst sei festgehalten, dass das Vorgehen des polnischen Geheimdienstes zeitlich zusammenfällt mit dem Verbot der Zeugen Jehovas in der DDR. Tatsächlich sind parallele Aktionen sehr augenscheinlich; in der strukturellen Ausrichtung des geheimdienstlichen Vorgehens lassen sich jedoch in Polen geradezu umgekehrte Prioritäten ableiten. Sehen Sie, in Polen besteht leider bis heute keine Möglichkeit – im Unterschied zum wiedervereinigten Deutschland –, geheimdienstliche Unterlagen einzusehen, geschweige denn zu erforschen. Um so wichtiger sind im gegenwärtigen Selbstverständnis des Verhältnisses von Staat und Kirchen sowie anderen Religionsgemeinschaften, darunter die Zeugen Jehovas, die Erinnerungen von Zeitzeugen, also das subjektive und zugegeben individuelle Gedächtnis, das im Kontext der Vergangenheitsbezüge und des Erinnerns zum Sprechen gebracht werden sollte. Und wie Sie wissen: Zeitzeugen leben nicht unendlich lange auf dieser Welt.

A. G.:

Dies ist vor allem der Grund, warum ich zu Ihnen nach Polen gekommen bin. Es ist wichtig, ja – sehr wichtig, in Deutschland auf geheimdienstliche Akten in Fragen der Vergangenheitsreplik zurückgreifen zu können, aber es ist auch ein gewissermaßen fragmentarisches Unterfangen, bedenkt man den heutigen Zustand und die Verlässlichkeit des geheimen Materials. Aber ich glaube, das ist ein Thema für sich

R. Stawski:

Um auf den von Ihnen gebrauchten Begriff des „Kirchenkampfes" zurückzukommen. Hier in Polen liegen die Dinge wohl so einfach nicht. Gerade das Einvernehmen des Staates mit der Katholischen Kirche ermöglichte und beförderte wesentlich das Vorgehen des Staatssicherheitsdienstes gegen die Zeugen Jehovas. In Deutschland verliefen die Fronten eher anders, hier der SED-Staat, dort die Kirchen und Religionsgemeinschaften. In Polen unterstützten die Vertreter des römischen Klerus vehement die geplante Zerschlagung unserer Gemeinschaft.

A. G.:

Und von Anfang an galt es, wie in der DDR, mittels der Methode der Abschreckung zu wirken? Gemeint sind die bereits von Stalin praktizierten Schauprozesse. Was die Zeugen Jehovas betrifft sind für die DDR-Justiz solcherart Schauprozesse nach stalinschem Vorbild aktenkundig …

R. Stawski:

Für Polen allerdings – ich bitte die Unterbrechung zu entschuldigen – trifft aber auch dieses Charakteristikum der geheimdienstlichen Zerschlagungsund Zersetzungsstrategie nicht zu. Sehen Sie, die Schauprozesse in der DDR waren gewissermaßen auch Geheimprozesse – nichts blieb hierbei dem Zufall überlassen. Anders in Polen. Die Vertreter der Justiz erinnerten sich noch sehr wohl an die Zeit vor 1945 und die damit einhergehenden politischen Gerichtsverfahren. Überdies galten Geheimprozesse als Spionageprozesse. Ein solches Stigma lehnte die polnische Justiz ab – und erreichte geradezu das Gegenteil. In den öffentlichen Prozessen gegen die Zeugen Jehovas bot sich für uns auch ein Forum, um das gegen uns praktizierte Vorgehen als politische Justiz für jedermann nachvollziehbar zu entlarven. Ich kann mich noch gut an ein Vier-Augen-Gespräch mit einem Richter erinnern, der mir sinngemäß sagte: „Natürlich gibt es in Polen die Glaubensfreiheit, aber ich muss so urteilen." Die Justizvertreter befanden sich selbst in einem Gewissenskonflikt.

A. G.:

Was die Rolle des polnischen Klerus betrifft, woher rührt Ihre Gewissheit einer Zusammenarbeit zwischen katholischer Kirche und polnischem Staat?

R. Stawski:

Bereits 1949 informierten Radiosender in Spanien und Italien, also in katholischen Staaten, über Verhaftungen von Zeugen Jehovas in Polen. Das Verbot wurde aber erst ein Jahr später, wie in der DDR, 1950 ausgesprochen und erst danach setzten die Verhaftungswellen ein. Zunächst ging man gegen die Leitungsebene vor, später verfolgte man verstärkt einzelne Mitglieder.

A. G.:

Und Erfolge? Konnte der polnische Geheimdienst die vermeintlichen „Spione Amerikas zerschlagen"?

R. Stawski:

Hier verhielt es sich ähnlich wie in der DDR. Es wurde im Untergrund weitergearbeitet. Bereits langfristig hatten wir unsere Druckereien „unterirdisch", wie wir damals sagten, eingerichtet, und der Sicherheitsdienst tappte nahezu im Dunkeln. Es war jedoch absehbar, dass der Landesdiener Wilhelm Scheider als führender Kopf der Zeugen Jehovas Abb. 8 in Polen Gefahr lief, recht schnell verhaftet zu werden. Scheider war den Geheimdienstlern bekannt, und es war eine Frage der Zeit. Zumal gab es auch Befürchtungen, was die Zuverlässigkeit eines Mitgläubigen in seinem unmittelbaren Umfeld betrifft.

A. G.:

Sie meinen, es gab gewisse Kontroversen zwischen den Brüdern selbst? Aus diversen MfS-Berichten leiten heutige Autoren sogar Rivalitäten innerhalb der Zeugen Jehovas in Polen ab – Rivalitäten, die den Ausgangspunkt für einen späteren anscheinend auch verheerenden Eklat bilden sollten.

R. Stawski:

Mangelnde Zuverlässigkeit und Kontroversen oder gar Rivalitäten, wie Sie sagen, sind nicht dasselbe. Man muss hier zwei Dinge klar voneinander unterscheiden. Einmal die Gespräche zwischen Scheider und anderen Mitgläubigen über den Status eines Zeugen Jehovas. Hier muss man sehen, dass es in den 50er Jahren zu einem großen Zulauf vieler Menschen in die Religionsgemeinschaft kam. Nach dem braunen Terror folgte die rote Diktatur – da gab es sehr viel Orientierungslosigkeit. In unseren Gemeindeversammlungen fanden die Menschen wieder Halt und einen Lebenssinn. Doch sollte man jeden Begeisterten gleichsam schon als Verkündiger zählen? Über diese Frage gab es mitunter tatsächlich Meinungsverschiedenheiten, und die Zahl der Verkündiger in Polen schnellte in die Höhe, obwohl die Realitäten, d. h. die Kenntnisse der Menschen in Sachen Bibelfestigkeit, doch noch anders aussahen. Es gab dabei auch viel Euphorie.

A. G.:

Die Unzufriedenheit über das offizielle zahlenmäßige Anwachsen der Verkündiger, das tatsächlich eher keines war, konnte man also verspüren. War es das, was der Staatssicherheitsdienst (MfS) in den Akten als „Gruppe der Unzufriedenen" in Polen konstatierte?

R. Stawski:

Das kann ich nicht sagen. Auch nicht, ob hier von einer „Gruppe" gesprochen werden sollte. Es war die Situation so, wie ich sie Ihnen dargelegt habe. Später wurde die hohe und auch unrealistische Zahl der Verkündiger übrigens wieder zurückgenommen. Doch bevor es dazu kam, sollte ein Vermittler aus Wiesbaden vor Ort, also in Polen über den genannten Status befinden. Ein solcher Vermittler wurde schließlich im Sommer 1960 erwartet. Anders war es um die Zuverlässigkeit bestellt. Es mehrten sich Verdachtsmomente, resultierend aus dem Verhalten eines Bruders, die zumindest eine informelle Nähe zu den Umtrieben des Sicherheitsdienstes nahe legen konnten. Entscheidende Beweise fehlten jedoch. Für den Fall seiner Verhaftung hatte Wilhelm Scheider ein 3-Personen-Komitee gebildet, zu dem der in Verdacht geratene Bruder Alexander R., ein zu jener Zeit noch inhaftierter Bruder Marian B. und ich gehörten. Alexander, der hier Oleg genannt wurde, unterhielt seinerzeit auch die korrespondierende Verbindung zum Ostbüro der Zeugen Jehovas in West-Berlin. Wichtig erscheint mir noch darauf hinzuweisen, dass ein weiterer Bruder, Erich H. in Katowice ebenfalls schwach geworden und vom Sicherheitsdienst erpresst worden war. Erich H., der fließend deutsch sprach, ging später in die Bundesrepublik. Auch Oleg gelangte nach seiner Enttarnung als Spitzel und Verräter nach Westdeutschland. Bald danach verstarb er.

A. G.:

Spielte Oleg als Inoffizieller Mitarbeiter des polnischen Geheimdienstes tatsächlich eine so große Rolle?

R. Stawski:

Ich denke ja. Ohne das Wissen um diese Hintergründe ist meines Erachtens das Vorgehen von Erich Mager (Dieter Pape) kaum nachvollziehbar. Nicht so sehr das Auftauchen des Stasi-Mitarbeiters Dieter Pape, der als Wiesbadener Abgesandter Erich Mager hierher nach Polen kam, brachte den Sicherheitsdiensten das Gewünschte, sondern – um es mal so zu formulieren – der Judas in den eigenen Reihen.

A. G.:

Warum nahm „Erich Mager" zielgerichtet Kontakt auf zu Harald Abt in Polen? Wer war Herr Abt?

R. Stawski:

Harald Abt galt allen als große Vertrauensperson, er war Archivarbeiter und Übersetzer sowie Leiter der Dienstabteilung „Königreichsdienst". Also, wenn Sie so wollen, zuständig für Übersetzungsarbeiten und Organisatorisches. Über ihn sollte Mager die unterirdischen Verbindungen der Religionsgemeinschaft wohl auch herausfinden. Alles war darauf ausgerichtet, durch Propaganda im „Gegenwachtturm" die Zeugen Jehovas in Polen bloßzustellen und anzuprangern. Verhaftungen sollten dann selbstverständlich eine begleitende Folge sein.

A. G.:

Was war der „Gegenwachtturm" – ein Medium gegen die Zeugen Jehovas, ähnlich der „Christlichen Verantwortung" (CV) später in der DDR?

R. Stawski:

Nein, mit CV ist der „Gegenwachtturm" in Polen nicht gleichzusetzen. Die Schrift gab sich als offizielles Organ der Zeugen Jehovas und nannte sich tatsächlich „Wachtturm", wir nannten sie „Gegenwachtturm", da das Geschriebene nur allzu leicht als Machwerk Außenstehender erkannt werden konnte. Dieser „Wachtturm" erschien in Aufmachung und Format genau wie derjenige aus Brooklyn oder Wiesbaden, allein auf der Rückseite wurde als Herausgeber ein „Komitee der Zwölfer" ausgewiesen. Die meisten Menschen wussten genau, dass dieser „Wachtturm" eben ein Scheinprodukt des Staates und des Geheimdienstes war – eigentlich eben ein „Gegenwachtturm". Zudem fiel es regelrecht auf, dass diese Schrift per Post in die Häuser gelangte, auf offiziellem Postwege! Und das in Zeiten des Verbotes und der Untergrundtätigkeit der ZJ.

A. G.:

Und der „Gegenwachtturm" berichtete nach der Abreise von Mager über die Zeugen Jehovas tatsächlich unter Berufung auf beschlagnahmtes Material in der Wohnung der Familie Abt. Harald Abt selbst kam nach den Verhaftungen auf freien Fuß.

R. Stawski:

Das ist richtig. Aber die Wirkung und Resonanz der Veröffentlichungen waren so durchschlagend nicht. Auch informierte ich damals umgehend Willi P., den Leiter des Ostbüros, über die Hausdurchsuchungen, die Verhaftungen und das Auftauchen und Verschwinden von Erich Mager hier in Polen. Die Absicht der Geheimdienste, die Gemeinschaft zu spalten oder gar zu zerschlagen, konnte auch durch den Einsatz von Mager nicht realisiert werden. Auch gelang es nicht, Harald Abt von der Gemeinschaft zu isolieren. Harald Abt verfasste damals einen Bericht, den ich nach Wiesbaden schickte. Darüber wurde seinerzeit niemand in Kenntnis gesetzt.

Kapitel 5

„Ich war Zeuge Jehovas" (1961)

Günther Papes Welterfolg als Sachbuchautor –

instrumentalisiert und ausgenutzt vom MfS?

5.1. Doppelter Publikationserfolg der Brüder Pape oder: operative „Bearbeitung" Günther Papes durch HIM „Wilhelm"

Das einst mit seinem Bruder Dieter geplante Buch „Die Wahrheit über Jehovas Zeugen" wurde bis zur Jahreswende 1959/60 noch immer nicht gedruckt – es ist auch, entgegen allen Annahmen93 – nie erschienen. Nach den Unterlagen des MfS kamen allerdings die organisatorischen Vorbereitungen zum Zwecke der Veröffentlichung zu einem erfolgreichen Abschluss, von einer vermeintlichen inhaltlichen Übereinstimmung in den Manuskriptausarbeitungen der Brüder einmal ganz abgesehen.94 Es dürfte kaum bekannt sein, dass der Verfasser der Publikation Dieter Pape – der bereits 1958 seinem Bruder verschiedene Manuskriptseiten zur Einsicht geschickt hatte, darunter auch die einleitenden Teile: Inhaltsverzeichnis und Vorwort – nicht mit seinem Klarnamen unterzeichnet hatte. Unter dem Vorwort ist „D. Marion" zu lesen (Schreibmaschine), darüber hinaus sollte mit dieser Bezeichnung auch das Nachwort vom Autor anonymisiert werden.95 Eine Einigung zum Modus der Veröffentlichung erzielten die Brüder ebenso wenig; Günther Pape verfolgte bereits ziel gerichtet die Publikation seines Manuskriptes: Ich war Zeuge Jehovas. Das Buch erschien 1961 in der Weltbild-Verlagsgruppe Augsburg. Dem Andenken meines Vaters, so Günther Pape, der mit vierzig Jahren nach achtjähriger KZ-Haft als Zeuge Jehovas sein Leben ließ, und meiner Mutter, die bis 1971 als Predigerin der Zeugen Jehovas arbeitete und fast neun Jahre KZ-Haft als Zeugin erduldete, möchte ich dieses Buch widmen.96

Im abschließenden Teil seiner autobiographischen Beschreibung erläuterte der Autor seine vollzogene Hinwendung zur katholischen Kirche. Ich legte es darauf an, Bekanntschaft mit katholischen Geistlichen zu machen. […] Ich fand in katholischen Priestern aufgeschlossene, hilfsbereite, wirklich gütige Menschen, die ihren Beruf ernst nehmen. Sie glauben aufrichtig an die Heilige Schrift und suchen ihre Glaubensüberzeugung an Hand der Bibel zu beweisen.

Eine solche von Pape wenige Jahre nach seiner Abkehr von den Zeugen Jehovas notierte Einschätzung widersprach in der Tat allem, was er bisher predigte zur katholischen Kirche als „Hure Babylon", wie es in den Schriften der WTG steht und wie er es selbst von Kind an verinnerlicht hatte. Die intensive Beschäftigung mit theologischen Fragen in den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten, führte Günther Pape schließlich zu der Auffassung, daß der Glaube der Zeugen Jehovas der Bibel widerspricht.

Die bereits seit Ende der 50er Jahre bestehende Freundschaft mit dem Jesuitenpater Prof. Dr. Haensli wurde von beiden intensiviert. Einige Jahre später war es auch Haensli, der auf Grund des umfassenden Meinungsaustausches mit Günther Pape zu der Vermutung kam, sein Bruder Dieter sei womöglich nicht mehr Herr seiner eigenen Handlungen. Der Hintergrund für eine solche Annahme des Jesuitenpaters war keineswegs banal. Günther Pape entkam in OstBerlin 1961 nur knapp einem Entführungs- und Erpressungsversuch des Staatssicherheitsdienstes. Wie schon mehrmals zuvor habe er sich in Ost-Berlin mit seinem Bruder und mit Vertretern des Staatssekretariates für Kultur treffen wollen, um über eine vorgesehene Veröffentlichung in der DDR zu verhandeln. Im Hotel „Adlon" angekommen wartete er allerdings diesmal vergeblich auf seine Gesprächspartner. Als es an der Tür klopfte und Günther Pape in deren Erwartung und in der des Bruders öffnete, ergriffen ihn Unbekannte und verschleppten den gerade eingereisten Gast aus Westdeutschland durch die Straßen Berlins an einen unbekannten Ort. In einem Zimmer wurde Günther Pape verhört, als Agent des BND tituliert und schließlich unter Druck gesetzt, für das MfS zu arbeiten. Günther Pape ließ sich kaum beeindrucken und erklärte den Geheimdienstlern Mielkes, dass in der Bundesrepublik maßgebliche Leute über seine Fahrt und den Aufenthalt in Ost-Berlin informiert seien. Auf sein Verlangen, mit Kulturvertretern der DDR und mit seinem Bruder sprechen zu wollen, reagierten die MfS-Mitarbeiter nicht. Unter Androhung der eigenen Liquidierung durch das MfS – auch in der vermeintlich sicheren Bundesrepublik – schickten die Entführer Günther Pape schließlich wieder zurück.97 Dort informierte der Gescholtene schließlich den Jesuiten-Pater Haensli, der von seiner Dienststelle, dem Berchmannskolleg der Jesuiten in Pullach aus, sofort Vertreter des BND im selben Ort aufsuchte. Als Begleitpapier zu einem Brief schickte Haensli eine zusammengefasste Auskunft des BND zum Entführungsfall und zu den ausgesprochenen Morddrohungen des MfS gegenüber Günther Pape. Nun wissen Sie, schrieb seinerzeit Haensli, was Sie von den Drohungen dieser traurigen Brüder in P. [gemeint: Pankow, Anm. A. G.] zu halten haben. Der BND ließ Pape über Haensli mitteilen, besser vorerst nicht in die DDR zu reisen. Die Drohungen des MfS schätzten die Geheimdienstler in Pullach als „nachgewiesenen Bluff" ein, dessen Bedeutung keinesfalls real sei und nur der Einschüchterung diene.98 Sehr verärgert zeigte sich jedoch Pater Haensli über Dieter Pape. Hatte dieser womöglich seinen Bruder ins offene Messer laufen lassen? Ich überlege mir, teilte Haensli in demselben Brief an Günther Pape mit, ob Sie mir nicht die Adresse Ihres Bruders geben sollten, damit ich einen geharnischten Protest an die Adresse jener Lumpen richten soll, die zweifellos Ihren Bruder auch unter unheimlichen Druck gesetzt haben. Aber vielleicht kann ein Schreckschuß an die Pankower Bande doch erreichen, dass man das gestohlene Geld Ihnen wieder zurückgibt. […]99 Niemand ahnte wohl zu jener Zeit, dass Dieter Pape als IM schon längst im Auftrag des MfS tätig war. Im Gegenteil, auch Haensli spekulierte über eine missbrauchte Gutmütigkeit und darüber, dass das MfS auf beide Brüder in irgendeiner Form würde Einfluss ausüben können. Es entzog sich seiner Kenntnis, dass der vermutete Einfluss von Dieter Pape selbst ausging, um unter Zuhilfenahme des „Schild und Schwert der Partei" die falschen Lehren der WTG, wie Dieter und Günther Pape es immer wieder im Austausch ihrer Manuskripte heraushoben, bloßzustellen und die Menschen hierüber aufzuklären.

Für die nächsten Jahre sollte es zwischen den Brüdern zunächst kaum noch zu direkten Gesprächen kommen. Dieter hatte das von seinem Bruder veröffentlichte Buch „Ich war Zeuge Jehovas" für eine DDR-Ausgabe völlig umgearbeitet und mit seinem Klarnamen herausgeben lassen. Letztlich führte auch diese Eigeninitiative Dieter Papes zu Verstimmungen mit Günther, der eine solche Form der Auseinandersetzung mit der WTG, wie er sagte, schon immer abgelehnt habe.100

Zwischen 1961 und 1963 tauschten sich die Brüder mit ihrer Mutter über die Buchpublikation (West) aus. In den vorhandenen Briefen, die vom Autor eingesehen werden konnten101, widerspiegeln sich mitunter heftige Kontroversen zwischen Marie Pape, die ihr Leben noch nahezu ein Jahrzehnt bis zu ihrem Tode (1971) voll und ganz für die Religionsgemeinschaft einsetzte, und den beiden Brüdern im Westen und im Osten.

In der DDR plante das MfS eine weitere Verbreitung des Buches insbesondere in den Strafvollzugsanstalten. Die umgearbeitete Version „Ich war Zeuge Jehovas" von Dieter Pape gehörte zu einem umfassenden Bündel von Aktionen des MfS gegen die international operierenden Zeugen Jehovas zu Beginn der 60er Jahre.

Zunächst legte der Geheimdienst einen Verteilerschlüssel fest, um das Buch in den Haftanstalten den dort einsitzenden Zeugen Jehovas zur Pflichtlektüre zu verordnen. Oberst Schröder, Leiter der HA V des MfS, forderte weiter, von jedem Zeugen Jehovas hierüber eine schriftliche Einschätzung anfertigen zu lassen.102 In 16 Haftanstalten gelangten so 60 Bücher von Dieter Pape sowohl in den dortigen Bibliotheksfundus als auch in die Zellen der Zeugen Jehovas und auf die Tische der MfS-Sachbearbeiter und Offiziere – mitunter für alle Beteiligten eine recht mühsame Lektüre.103 Eine ganze Anzahl von schriftlichen Darlegungen und Meinungsbekundungen zu dem Buch befinden sich im Nachlas des MfS. Die Äußerungen sind breit gefächert, und das MfS griff damals bereitwillig auf „verwertbares Material", wie es hieß zurück – Material, um weiter zu zersetzen. Namen und nähere Angaben über jene Gefangenen, die aus MfS-Sicht „interessante Berichte" abgaben, sollten strategisch festgehalten werden. Zeugen Jehovas der hierfür in Frage kommenden Haftanstalten befanden sich auch, folgt man Ltn. Herbrich, in Halle in der StVA I.

Parallel zu dieser Aktion, durch die das MfS glaubte, erzieherisch auf die Zeugen Jehovas einwirken zu können, verschickte ein ehemaliger Zeuge Jehovas, Willi Müller104, zahlreiche „offene Briefe" an unterschiedliche Adressaten weltweit. Die Initiatoren der Briefe bezeichneten sich recht geheimnisvoll als „Eure furchtlosen Brüder in Deutschland" – beispielsweise im ersten und zweiten Brief unter dem Titel „Dokumente werfen ihre Schatten voraus" – der auch „Bruder Knorr", den Präsidenten der WTG in Brooklyn (USA) erreichte. Wesentlicher Inhalt der Briefe war die kompromittierende Darstellung der Lebenswege führender „Funktionäre der Wachtturmgesellschaft". Deshalb legte Oberst Schröder aus Berlin seinem Rundschreiben an die Bezirksverwaltungen des MfS gleich noch das Gründungsprotokoll und das Statut der Zeugen Jehovas aus der Nachkriegszeit bei. Schröder hebt darin namentlich Otto Daut [Dathe], Johannes Schindler, Erich Frost, Wilhelm Schumann, Erwin Schwafert, Ernst Seliger und Ernst Wauer hervor. Es galt, gegen die führenden Köpfe der WTG vorzugehen, insbesondere gegen Erich Frost, den früheren Leiter des Büros der WTG in Deutschland in Magdeburg.

Neben „offenen Briefen" kamen drittens noch Flugschriften zum Einsatz, die unter dem Titel: „Schau den Tatsachen ins Auge! Die Wachtturm-Gesellschaft im Scheinwerfer" massiv Verbreitung fanden.

Die als „Frost-Briefe" vom MfS so bezeichneten Texte über diverse Handlungen des anerkannten und auch angesehenen führenden Zeugen Jehovas aus der NS-Zeit tauchen inhaltlich auch in anderen Zusammenhängen auf. Sie haben allerdings einen erstaunlichen Hintergrund: Erich Frost sollte just auf der Grundlage dieser Vergangenheit zur Spitzeltätigkeit für das MfS in der Bundesrepublik bewegt werden. Dabei nutzte der Geheimdienst einen überaus wichtigen und bis zum Ende der DDR in seinen Ausmaßen kaum zu erahnenden Fundus, nämlich Originalakten aus den schriftlichen Hinterlassenschaften des Dritten Reiches. Ob es sich hier um Akten handelte, die dem MfS vom sowjetischen Geheimdienst KGB für relevante Zersetzungsstrategien zur Verfügung gestellt wurden, oder ob sich diese Unterlagen schon immer im Besitz des DDR-Geheimdienstes befanden, kann hier nicht gesagt werden. Für die Staatssicherheit in Ost-Berlin war solches Material bestens geeignet, um bei Androhung einer Veröffentlichung einen Erpressungsversuch in die Wege zu leiten. Dieser Versuch ist tatsächlich als Plan zur Werbung für eine Zusammenarbeit von Erich Frost mit dem MfS aktenkundig105. Doch der Plan schlug fehl, Frost lehnte eine Zusammenarbeit mit dem MfS ab.

Im Juni 1961 legte das MfS eine Liste mit Adressen an, die die Frost-Akte (d. h. Verhörprotokolle der Gestapo über Erich Frost) erhalten sollten. Damit sollte der bekannte Zeuge Jehovas öffentlich unglaubhaft gemacht werden. Hierfür besaß des MfS offenbar „gute Karten" mit authentischem Inhalt. Fehlte schließlich noch ein Medium, das als Multiplikator die kompromittierenden Inhalte verbreiten sollte. Das MfS dachte hierbei an das Nachrichtenmagazin „DER SPIEGEL", auch dessen Adresse stand auf dem Verteiler.

Noch im selben Jahr veröffentlichte „DER SPIEGEL" einen Beitrag unter der Überschrift „Väterchen Frost".106 Zum Befund der NS-Akten stellte Willi P. fest: Die in Protokollen der Gestapo scheinbar preisgegebenen Informationen über andere Glaubensbrüder waren Angaben, die die Gestapo durch ihre Ermittlungen festgestellt hatte und die von den Betroffenen selbst zugegeben worden waren oder mit ihnen abgesprochen waren. Sie betrafen in der Regel bereits durch die Gestapo verhaftete ZJ. P. kommt deshalb zu dem Fazit: Frost war kein Verräter im NS-Staat.107 Die dazu herangezogenen Interpretationen des ehemaligen Leiters des Ostbüros der Zeugen Jehovas in Deutschland überzeugen allerdings im Kontext der Verhörpraxis von Geheimdiensten kaum, unabhängig davon, dass jenseits der von Willi P. genannten „Regel" offenbar durch Frosts Aussagebereitschaft auch bis dahin nicht getätigte Verhaftungen möglich wurden. Jeder noch so kleine Baustein in den Verhörabläufen (auch schon Bekanntes gehört dazu – wenn auch nur als Bestätigung, Vergleich oder Hintergrundinformation) ist ein Baustein auf dem Weg zur Erreichung der Zielstellung. Für die Gestapo bestand diese u. a. darin, führende Funktionäre der Zeugen Jehovas im Dritten Reich verhaften zu können und Informationen über die Tätigkeit der WTG im Dritten Reich zu sammeln, darunter insbesondere auch personenbezogene Angaben über das (menschliche) Verhalten von Jehovas Zeugen. P.s Annahme, dass für den Fall der Verhaftung Frosts gerade ein solches Spektrum von unüberschaubaren Inhalten zuvor mit anderen Zeugen für den Fall ihrer Verhaftung abgesprochen sei, ist eher eine recht abenteuerliche Vermutung.

Internationale Reaktionen darauf und der Erfolg des Pape-Buches in der DDR108, bildeten den vorläufigen Höhepunkt im unermüdlichen Wirken Dieter Papes gegen die WTG. Doch schon wenige Jahre später zeichneten sich für „Wilhelm" neue Perspektiven ab.

5.2. Leiter des Katholischen Informationsbüros Glaubensgemeinschaften (1972–1993)

In den 60er Jahren intensivierte Günther Pape seine Studien zur katholischen Theologie. Sein Augenmerk richtete er dabei insbesondere auf textexegetische Analysen der Bibel.

In verschiedenen Pfarreien, darunter auch in der von Pfarrer Guido Biehl, hielt der ehemalige Zeuge Jehovas zwischen 1964 und 1968 zahlreiche Vorträge über Glaubensfragen und die Lehre der WTG.109 Schließlich wurde Pape durch Prälat Alfred Weitmann (Diözese Rottenburg) und Bischof Leiprecht sowie auf Fürsprache von Alfred Lange und Alfons Bacher von der Stefanusgemeinschaft angestellt. Seit Herbst 1968 war er damit beauftragt, Aufklärung und Information über Zeugen Jehovas vornehmlich in den Stefanus-Kreisen (katholische Erwachsenenbildung der Dekanate in Süddeutschland, in der Schweiz, in Österreich und Südtirol) zu bewirken.

Im Frühjahr 1970 erreichte Günther Pape eine Nachricht des Regensburger Bischofs Graber. Er bat den nicht unbekannten Referenten, ihn zu besuchen und über die Aktivitäten von Zeugen Jehovas in seiner Diözese zu berichten. Pape kam der Aufforderung nach; seine Berichterstattung beeindruckte offenbar den Bischof, der Kardinal Döpfner auf Günther Pape aufmerksam machte. Zu einem ersten Gespräch zwischen Pape und dem Kardinal kam es noch anlässlich des Katholikentages in Trier. Für Papes weitere Tätigkeit, über die Lehren der WTG auf Basis der katholischen Kirche aufzuklären, Schicksale von den Menschen, die zu begleiten und die zu betreuen, die sich von der WTG – wie Günther Pape – abgewandt hatten, sollte die Begegnung mit Döpfner grundlegend sein. Der Kardinal erkannte in Günther Pape den geeigneten Mann für eine Institutionalisierung der katholischen Bildungsarbeit in Sachen Sektenfragen / Zeugen Jehovas – ein Mann, der darüber hinaus auch noch Insider war. Nur zwei Jahre später kam es zur Gründung eines überdiözesanen „Katholischen Informationsbüros", das über einen Fonds der Bayerischen Bischofskonferenz finanziert wurde. Leiter des Büros war von Anfang an Günther Pape.

Alle Verantwortung lag allein bei mir, erinnerte er sich später. Ich erstattete lediglich einmal im Jahr schriftlich und persönlich Bericht über unsere Tätigkeit an den Kardinal, so auch später an Kardinal Ratzinger und Kardinal Wetter.110 Doch zunächst hatte der Buchautor Pape ein Projekt aus früherer Zeit realisiert, das etwa zehn Jahre zuvor gescheitert war: Die mit seinem Bruder Dieter vorgesehene Buchpublikation „Die Wahrheit über Jehovas Zeugen" (Ende der 50er Jahre), die nunmehr mit den damals nicht realisierbaren inhaltlichen Überlegungen von Günther Pape im Druck erschien. Während eines Aufenthaltes in Straubing bei Valentin Graf Ballestrem stellte Pape das gedruckte Buch den anwesenden Pressevertretern vor. Bis zu diesem Zeitpunkt kam es auch zwischen den beiden Brüdern erneut zu einem intensiveren Gedankenaustausch. Folgt man den Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes, soll es Günther Pape gewesen sein, der eine solche Kontakterweiterung seit Mitte der 60er Jahre angestrebt habe.111 Nach dem privaten Briefwechsel gehen jedoch die Anliegen von Dieter Pape aus. Er zeigte sich enttäuscht über das lange Schweigen seines Bruders und erleichtert, als dieser auf die bezüglich der Zeugen Jehovas vorgebrachten Inhalte endlich antwortete.112 Natürlich war auch Günther sehr an einem weiteren Austausch in Sachen Zeugen Jehovas interessiert. Seine Interessen, faßte Dieter Pape in dem erwähnten Bericht zusammen, richten sich speziell auf Materialien aller Art gegen die ZJ, Literaturquellen, Fachkritik und ausführliche Gedankenentwicklung meinerseits zu seinen Projekten und Konzeptionen. Sein Bruder sei auch grundsätzlich zu einem ersten Gespräch [bereit], dann dürfte wieder alles weiterlaufen, antwortete der HIM auf die Befürchtungen seines Bruders. Dessen Zurückhaltung, so Dieter Pape, sei verständlich unter Berücksichtigung der Umstände des letzten Zusammentreffens und der jetzigen Position und Aufgaben des P. im Interesse der Katholischen Kirche in Westdeutschland.113 Er kündigte an, die Bereitschaft seines Bruder testen zu wollen; Informationen aus seinem jetzigen Wirkungsbereich – der katholischen Kirche – zu übermitteln. Laut Bericht waren sich weder der HIM Dieter Pape noch das MfS über die konkrete religiöse und politische Einstellung Günther Papes im klaren. Diese, so der HIM, gelte es in Gesprächen aufzuklären und zu beeinflussen.

Bereits früher von „Wilhelm" in einem Treffbericht erwähnte Verbindungen seines Bruders mit dem Jesuiten Haensli, mit dem westdeutschen Spionagedienst, wurden von Dieter Pape nunmehr auf die Person seines Bruders selbst übertragen.114 Es müsse geklärt werden, so Pape, ob sein Bruder Günther direkt von geheimdienstlichen Stellen in Westdeutschland, möglicherweise vom Gehlen-Apparat gesteuert werde. Die Logik hierzu entnahm der HIM einer Bildpost-Reportage über Günther Pape (Juni 1963), deren Verfasser, Walter Hagen, wahrscheinlich der Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes und frühere Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes Dr. […] ist, der nachweislich unter dem Pseudonym Walter Hagen publizistisch in Erscheinung tritt.115 Spätere Hinweise über mögliche Resultate der zu erwartenden MfSRecherchen dazu konnten in den Hinterlassenschaften des Staatssicherheitsdienstes nicht aufgefunden werden.

Im Stil der Berichtabfassung deutet einiges darauf hin, dass HIM „Wilhelm" seine führende Insider-Position in Sachen Zersetzung der Zeugen Jehovas gleichsam aufwertete. Zu jener Zeit wurde der ehemalige Zeuge Jehovas, Willi Müller (IM „Rolf"), mit der Herausgabe der noch vor wenigen Jahren von Dieter Pape empfohlenen „Oppositionszeitschrift" vom MfS beauftragt und die Entwicklung weiterer MfS-Verbindungen zu ehemaligen Zeugen Jehovas war absehbar (vgl. nachfolgendes 6. Kapitel, insbesondere 6.3. zu Manfred Gebhard und das Interviewprotokoll).

Dieter Papes Vorhaben, seinen Bruder im Rahmen einer gemeinsamen Aufklärungsoffensive gegen die Zeugen Jehovas, wie er sie verstand, abzuschöpfen, schlug offenbar gründlich fehl. Das Tätigkeitsfeld des Leiters des Katholischen Informationsbüros Glaubensgemeinschaften (seit 1972: Büro Haisterkirch) wurde zunehmend international und auch für Günther Pape, wie er rückblickend einräumte unerwartet in hohem Maße öffentlich, was nicht zuletzt auf vielfältigen Gesprächen auf hoher Ebene und langjährigen, nicht selten bis heute dauernden Kontakten mit zahlreichen Persönlichkeiten in Politik und Kirche beruht.

Auch Kardinal Döpfner zeigte sich sehr angetan von den vielfältigen Aktivitäten Günther Papes. Wiederholt erreichten Pape Einladungen aus dem In- und Ausland, über Fragen der Sektentätigkeit zu referieren. Während der Pfingstkonferenz 1972, zu der der Beauftragte des Kardinals Döpfner, Prälat Dr. Michael Höck, alle Gäste begrüßte, kam es zu einer ökumenischen Begegnung katholischer, evangelischer und griechisch-orthodoxer Geistlicher, zu der Günther Pape als Leiter des Büros in Haisterkirch eingeladen hatte. Wenige Monate später nahm er für ca. fünf Wochen teil an einem Seminar der „Bewegung für eine bessere Welt" im Centro Pius XII. bei Pater Lombardi SJ, dem Berater der Päpste Pius XII., Johannes XXIII. und Paul VI.

Bis Mitte der 70er Jahre richtete sich das Interesse Günther Papes insbesondere auf das Gebiet kirchenhistorischer Studien, das er rückblickend auch als „mein Hobby" charakterisierte. Vor allem im Kloster Heilig-Kreuzthal (ehemalige Zisterzienserinnen-Abtei) wird Pape sogar denkmalpflegerisch tätig. Eine Abhandlung über die Geschichte des Klosters sowie ein historischer Beitrag in der entsprechenden Festschrift zählen zu den publizistischen Ergebnissen seiner ausgedehnten Studien. Es hilft mir, berichtete er über sein Hobby, Abstand vom einseitigen Jehovas-Zeugen-Engagement zu halten und nicht ein engstirniger Antizeuge zu werden, wie es leider viele meiner ehemaligen Mitbrüder zu werden scheinen.116

1975 reiste Günther Pape nach Venedig, um dort Vorträge über Zeugen Jehovas zu halten und darüber hinaus Betroffene zu betreuen, die sich von der WTG abgewandt hatten. Die Einladung hierzu erging vom Seelsorgamt der Erzdiözese und Patriarchen von Venedig, Kardinal Albino Luciani, dem späteren sogenannten 99-Tage-Papst Abb. 12 Johannes Paul I. Nach einem Empfang führte Pape mit dem Erzbischof lange Gespräche, schließlich sprach er auf dem Lido (Stadtteil von Venedig) vor 1.200 Menschen.

Exkurs

Zentraler Operativer Vorgang (ZOV) „Sumpf"

Die ersten zehn Jahre nach dem Verbot der Zeugen Jehovas in der DDR und bereits die Beweggründe, die dazu führten, werden heute in der Rückschau ehemaliger MfS-Offiziere als vom Kalten Krieg geprägt in die Erinnerung gehoben. Das ist wohl zu einem gewissen Grad auch richtig, erscheint jedoch als alleiniger Hintergrund, auf dem das MfS sein Dasein und seine Handlungsweise rechtfertigte und einordnete, zu mager auch gegenüber den Zeugen Jehovas. Die Tatsache des Kalten Krieges an sich ist kein ausreichender Grund für alles und für nichts.117 Gleichwohl wird heute eingeschätzt: Die Maßnahmen des MfS, die vor allem in den 50er Jahren durch wiederkehrende Verhaftungen von Funktionären und Kurieren geprägt waren, die dann oft zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden, haben sich jedoch als nicht geeignet erwiesen, die von religiösem Wahn und Fanatismus getriebenen Aktivitäten dieser Sekte zu unterbinden. Der Kalte Krieg erhielt seine Begleitmusik durch den „herrschenden Zeitgeist", über dessen Inhalt sehr wohl auch differenziert zu befinden ist.118

Anfang der 60er Jahre, so die früheren MfS-Offiziere weiter, wurde in der DDR begonnen, im Umgang mit den „Zeugen Jehovas" neue Gegenstrategien zu entwickeln. Die Aufklärung über diese Sekte und oppositionelle Gruppen einstiger Sektenanhänger wurden gefördert. Die letzten Verhaftungen von „Zeugen Jehovas" wegen ihrer Tätigkeit für die Sekte erfolgten Mitte der 60er Jahre. Anschließend wurden ausschließlich ordnungsrechtliche Maßnahmen angewandt119

Die „neuen Gegenstrategien" (vgl. das nachfolgende 6. Kapitel) wurden offenbar überschattet, nämlich von eingeleiteten MfS-Operationen selbst. Der „Zentrale Operative Vorgang" (ZOV) „Sumpf", der 1963 eingeleitet und bis zum Ende der DDR fortgeführt wurde, hatte zum Ziel, nicht nur einzelne Mitglieder zu inhaftieren, sondern durch eine gute operative Arbeit die Verbindung bis zu dem sogenannten Bezirksdiener aufzuklären.120 Das strategische Vorhaben, das von Anfang an das Vorgehen des MfS gegen die Zeugen Jehovas begleitete – Eindämmung und Verhaftung der Führungskräfte – blieb, entgegen heutigen Verlautbarungen von MfS-Offizieren, nach deren eigener hinterlassener Aktenlage als wichtigste Aufgabenstellung bestehen. Eher entwickelte sich eine Art verfeinerter Doppelstrategie: a) Fortführung repressiver Maßnahmen auf Grundlage und unter Ausnutzung der „Rechtsprechung" in der DDR121 und b) Fortführung von wirkungsvolleren Zersetzungsmaßnahmen, die darüber hinaus auch akzeptable Inhalte für die ohnehin immer wieder festgestellten „Aussteiger" aus der Religionsgemeinschaft beinhalten sollten.122

Der ZOV „Sumpf" zog schließlich die flächendeckende Überwachung führender Zeugen Jehovas im Republikmaßstab nach sich, die die „Aufklärung" nicht nur der Personen, sondern des gesamten religiös motivierten Lebens der Betreffenden und deren Verhalten zum Staat beinhaltete. Zunächst jedoch, im Dezember 1966, verurteilte das Bezirksgericht Halle (Saale) die letzten der insgesamt 15 Funktionäre der Zeugen Jehovas nach monatelanger Untersuchungshaft zu Strafen zwischen fünf und zehn Jahren Zuchthaus. Das MfS formulierte im Vorfeld bereits hierzu …, daß die Organisation „Zeugen Jehovas" versucht, mit raffinierten Mitteln und Methoden verstärkten Einfluß auf unsere Bevölkerung zu nehmen. Aus diesem Grunde ist eine systematische, zielstrebige Bearbeitung des illegalen Kopfes im Gebiet der DDR notwendig, der schnellstens aufzuklären und zentral zu liquidieren ist.123

Das unmittelbare Nachrücken von Zeugen Jehovas in die Leitungsebene ermöglichte durch die kontinuierliche Fortführung von Lehrgängen an „Königreichsdienstschulen") ließ diese letzte „Enthauptungsaktion" des MfS scheitern.124

Auch insofern bildete die MfS-Aktion Mitte der 60er Jahre einen Höhepunkt im Vorgehen des Geheimdienstes gegen die Religionsgemeinschaft, und zwar gegen deren Leitungsmitglieder, wie D. treffend herausstellte. Neu war allerdings, dass sich seit dem Mauerbau die Rahmenbedingungen verändert hatten.

Kapitel 6

„Christliche Verantwortung"

im geheimdienstlichen Auftrag (1965 –1989/90)

6.1. Aussteiger und Unzufriedene:

Ein weltweites Netzwerk der Zeugen-Jehovas-Opposition

Die seit Mitte der 60er Jahre institutionalisierte sogenannte Oppositionszeitschrift „Christliche Verantwortung" (i. f. CV) und der später entstandene Studienkreis CV stehen heute vielfach als Synonym für die vom DDR-Geheimdienst gegen die Zeugen Jehovas gesteuerte Zersetzungs- und Unterwanderungsstrategie – ein Vorgehen, das, wie nach dem Ende der DDR mehrfach herausgehoben, auch die entsprechenden Erfolge gebracht habe.125 Der Rahmen für das erfolgreiche Wirksamwerden der von Dieter Pape nach seiner Haftentlassung initiierten „Oppositionshaltung", die sich mit dem MfSZersetzungsziel gegen die Zeugen Jehovas in der DDR konform zeigte, ist dabei weitaus größer zu spannen als unter Replik auf CV allein.126 Es ist dies nicht nur ein zeitgenössischer Bezug, der bis heute in der Publizistik nachgewiesen werden kann127, sondern insbesondere auch ein historischer Extrakt, der das diffizile Verhältnis zwischen Jehovas Zeugen und ehemaligen Gläubigen, die der WTG folgten, auf den Punkt zu bringen scheint. Gemeint sind die seit Russells Tod fortgesetzten Streitigkeiten und Auseinandersetzungen innerhalb der Führungsebene der WTG in Brooklyn um den richtigen Glauben, aber nicht zuletzt auch hinsichtlich der personellen Leitungsstruktur der WTG selbst.128 Auf den einschneidenden Bruch nach Russell mit Beginn der Präsidentschaft des Juristen „Richter" Rutherford verweisen inzwischen mehrere Autoren.129 Aus den damit einhergehenden und sich fortsetzenden Modifizierungen in den Verlautbarungen führender Zeugen Jehovas in den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten speiste sich im wesentlichen auch das Selbstverständnis der nicht wenigen „Abtrünnigen", die den als richtig verstandenen Glauben oftmals auf Gruppenbasis und losgelöst von der WTG mit den anfänglichen Ambitionen Russells verbanden, an seine Verkündigungen anzuknüpfen versuchten und diese auch weiterführen wollten (Obrigkeitsverständnis130). Die Abspaltungen vollzogen sich im 20. Jahrhundert nicht nur in den USA oder in Deutschland, sondern im internationalen Kontext des Erstarkens der Bibelforscher (bzw. seit den 30er Jahren der Zeugen Jehovas) in zahlreichen Staaten.

Eine dieser Abspaltungsbewegungen in Deutschland ist mit dem Namen Paul Balzereit verbunden, der 1920 Leiter des Deutschen Zweiges und 1933 Präsident der Deutschen Wachtturm-Gesellschaft wurde. Er vertrat damals, so Hellmund, wie Rutherford die Politik der Anpassung und Kompromissbereitschaft. Das setzte er in der Wilmersdorfer Erklärung fort, die die Anwesenden billigten. Ins Ausland entkommen, organisierte er die illegale Arbeit von Prag aus. Er wurde im Mai 1935 verhaftet, dann noch im Gefängnis von Rutherford abgesetzt, weil diesem Balzereits Verhalten im Prozeß nicht gefiel.131 Wenig später sagte sich der bis dahin führende Repräsentant der WTG Balzereit von den Zeugen Jehovas los und unternahm nach Kriegsende, nachdem die WTG sich am 19. September 1945 ohne Balzereit neu konstituiert hatte, im Dezember 1945 den Versuch, Gleichgesinnte erneut zu sammeln. Unter seinem Vorsitz formierte sich die „Allgemeine Bibel-Lehrvereinigung" (ABL), die sich als Teil der in den USA entstandenen „Tagesanbruch-Bibelforscher-Vereinigung" im Anschluss an die Lehrstreitigkeiten von 1929 um das Erbe von Russell verstand. Noch im Frühjahr 1950, vor dem Verbot der Zeugen Jehovas in der DDR, schätzte die Polizeibehörde die ABL als „weit gefährlicher" ein als die „Agentenzentrale" der Zeugen Jehovas. Ja, sogar die Möglichkeit, dass vielleicht Zeugen Jehovas zur Balzereitgruppe stoßen könnten, wurde als potentielle Bedrohung bewertet.132 Wenige Jahre nach dem Verbot der ABL (1950) versuchte das MfS seit dem Ende der 50er Jahre, die oppositionelle Haltung der Gruppenmitglieder gegen die noch immer verbotene WTG auszunutzen. Unter der Bezeichnung „Vereinigung freistehender Christen" (VfC) wurden Balzereits Anhänger wieder zugelassen. Eine erneute Abspaltung innerhalb der VfC folgte wenige Zeit später aus religiösen Erwägungen. Es entstand der „Bund freier Christengemeinden" (BfC) mit seinem Publikationsorgan „Unser Glaube – Schrift zur Verbreitung biblischer Erkenntnisse" und nach 1980 „Weggefährte – Studienschrift freier Christen in der DDR". Ähnlich der später unter Vorgaben des MfS initiierten Oppositionszeitschrift „Christliche Verantwortung" betrachteten es auch VfC und BfC als ihre Zielstellung, die Zeugen Jehovas in der DDR zu betreuen, um sie von ihren „Irrlehren" zu befreien.133

Willy Müller – ehemaliger Zeuge Jehovas – übernahm auf vehementen Druck durch den Staatssicherheitsdienst während seiner Haftzeit schließlich die Aufgabe, Anfang der 60er Jahre unter dem bezeichnenden Titel „Schau den Tatsachen ins Auge!"134 Flugblätter gegen die Führung der WTG zu publizieren. Diese Aktionen mündeten schließlich in der Monatszeitschrift CV, nachdem sich 1965 die gleichnamige Studiengruppe konstituiert hatte. Herausgeber von CV, durchgehend Inoffizielle Mitarbeiter des MfS, waren neben Willy Müller seit 1970 der IM „Heini Turner" (alias IM „Wolfgang Daum", Klarname Karl-Heinz Sindorn) und seit 1979 bis zum Ende der DDR „Henry Werner" (Werner Struck135). Dieter Pape leitete das CV-Büro in Berlin.

Aus den Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes wird das Bemühen des MfS sehr deutlich, im Rahmen der CV-Arbeit mehr und mehr unzufriedene Zeugen Jehovas einzubinden. An der inhaltlichen Arbeit waren nicht ausschließlich Inoffizielle Mitarbeiter des MfS – ehemalige Zeugen Jehovas – beteiligt.136 Nach außen sollte die CV-Tätigkeit ausgeweitet und die Kooperation mit anderen Institutionen und Einzelpersonen bzw. der bereits angelaufene Informationsaustausch weiterentwickelt werden. Internationale Verbindungen zu sogenannten „Anti-WTG-Gruppen" koordinierten die CV-Büros Ende der 80er Jahre sowohl in der Bundesrepublik als auch in den USA, den Niederlanden, in Österreich, der Schweiz, Italien, Australien und in Polen, darüber hinaus mit den Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften. Auch Günther Pape unterhielt mit seinem Bruder in Ost-Berlin rege Kontakte und unterstützte den Studienkreis mit Informationsmaterial über die WTG. Allerdings nahm CV in Ost-Berlin für das Haisterkirchener Büro hierbei keine Sonderstellung ein. Unterstützung mit Informationsmaterial leistete Günther Pape weltweit und kooperierte mit zahlreichen ehemaligen Zeugen Jehovas bzw. Institutionen im Rahmen seiner Aufklärungsarbeit.137

Parallel zur CV-Arbeit begann Dieter Pape ein Studium an der HumboldtUniversität zu Berlin im Fachbereich Geschichte, das er bis 1970 mit guten Ergebnissen absolvierte. Damit baute das MfS für Dieter Pape eine wirksame Legende auf, die kaum seine hauptamtliche Anbindung an den Staatssicherheitsdienst vermuten ließ. Seinem Bruder Günther in der Bundesrepublik konnte er auf dessen wiederholte Nachfrage schließlich sogar die Diplom-Abschlusszeugnisse zur Kenntnis geben. Etwaigen Einreisehindernissen für seinen Bruder in die DDR glaubte Dieter Pape später sogar mit dem alleinigen Hinweis auf seine Tätigkeit als Historiker und Universitätsabsolvent im CV-Büro Berlin begegnen zu können.138

6.1.1. Interviewprotokoll – Teil 2

„Zersetzung konnte nur gelingen, wenn sie auf fruchtbaren Boden fällt."

(Dieter Pape* im September 2000)

A. G.:

In den Hinterlassenschaften des MfS sind Sie als HIM (Hauptamtlicher Inoffizieller Mitarbeiter) der sogenannten Linie ZJ erfasst. Wie setzten Sie Ihre MfS-Verpflichtung um? Dieter Pape:

Hier sollten zwei Dinge vordergründig gesehen werden: a) Durch die Gespräche verschiedener ZJ-Aussteiger im Dienste des MfS wurde eine Sensibilisierung der verknöcherten MfS-Sichtweise zum Religionsproblem erreicht. Aus „Christen oder Kommunisten" gelang so eine Formulierung „Christen im Kommunismus", das war kein unbedeutender Schritt! b) mit Informationen und direkter Polemik versuchten er und viele andere ZJKritiker in der DDR in Verbindung mit ZJ-Kritikern in zahlreichen weiteren Staaten der Welt, gegen die Wachtturmlehren vorzugehen, insbesondere gegen den Unsinn einer neu verbreiteten Endzeitrechnung und dem Weltenende durch die ZJ, das im Jahre 1975 von der leitenden Körperschaft in den USA festgelegt wurde. Wie man sieht, die Welt besteht noch immer.

A. G.:

Allerdings nicht mehr das kommunistische Staatensystem.

Dieter Pape:

Das ist ein Thema für sich. Der repressive Charakter war auch in bezug zu den ZJ nicht immer und unbedingt auch förderlich. Oft erhielt er selbst Kritik, die seine Arbeit betraf. Nicht über administrative Maßnahmen, sondern mit religiöser Überzeugung wollte er etwas erreichen – um es nochmals zu betonen – und das bis in höchste Kreise der ZJ. Als zum Beispiel ein führendes Mitglied der leitenden Körperschaft der ZJ in Brooklyn, Raymond Franz, sich von den Praktiken der ZJ abwandte und gegen sie auch öffentlich auftrat, war Franz für ihn ein Gesprächspartner, um nur ein Beispiel in dieser Form zu nennen. Natürlich trat er in Verbindung mit „Christliche Verantwortung" (i. f. CV) auf und damit auch inoffiziell für die DDR-Staatssicherheit.

A. G.:

Nach der „Zersetzung" folgte seit Ende der 50er Jahre die MfS-Aktion „Zentrum". Sie haben eben mit Ihren eigenen Worten die Dinge kurz angerissen. Gab es denn in der CV ausschließlich Mitarbeiter, die dem MfS verpflichtet waren?

Dieter Pape:

Sicher nicht ausschließlich. Es wirkten hier auch „normale" ZJ-Kritiker, wie etwa in anderen Ländern, zu denen CV Kontakt hatte, darunter auch in die Bundesrepublik oder in solche Staaten, wo die ZJ ebenso mit einem Verbot von Staats wegen belegt waren. Ein Verbot der ZJ gab es übrigens nicht nur in der DDR oder vom Kommunismus beeinflussten Staaten.

A. G.:

Das Verbot der ZJ wurde noch in den letzten Tagen der Existenz der DDR aufgehoben.

Hatte das Auswirkungen auf Ihre konspirative Arbeit?

Dieter Pape:

Das MfS bestand ja noch eine Zeit lang. Und die CV erschien bis in die 90er Jahre. Zu diesem Zeitpunkt gab es keinen Geheimdienstapparat MfS mehr. Informationen im o. g. Verständnis wurden so fortgeführt, also eine Auseinandersetzung mit der religiös-politischen Überzeugungslehre. So lange, bis „Christliche Verantwortung" nicht mehr finanziert werden konnte und ihr Erscheinen 1993 eingestellt werden musste. Inzwischen bekam er vom Landgericht Halle einen Rehabilitierungsbescheid für seine damalige Verurteilung als ZJ in der DDR

6.1.2. Interviewprotokoll

„Die Kritik an den ZJ ist nicht ursächlich bedingt oder

gar abhängig vom MfS"

(Reinhard Ignatzy* über CV, im September 2000)

A. G.:

Herr Ignatzy, Sie waren als Zeuge Jehovas nach Gründung der DDR im „Roten Ochsen" inhaftiert. Weshalb wurden Sie damals vom MfS verhaftet?

Reinhard Ignatzy:

Nach dem Verbot der ZJ im Jahre 1950 ging ich – wie viele andere ZJ auch – in die Illegalität. Wir versuchten natürlich weiterhin, unsere missionarischen Anliegen zu verwirklichen, den sogenannten Felddienst zu leisten …

A. G.:

… und dabei Unterlagen anzufertigen, die für westliche Geheimdienste nutzbar waren? Reinhard Ignatzy:

Wissen Sie, die Straßenverzeichnisse waren eher zum Schutz der ZJ selbst gedacht. Man musste immer damit rechnen, einem Verantwortlichen der Staatsmacht gegenüberzustehen. Außerdem erhielten wir auf diese Weise einen Überblick darüber, in welchen Gebieten die Missionstätigkeit bereits erfolgte, wo wir wiederholt hingehen konnten usw. Mit geheimdienstlichen Aktivitäten hatte das nun wirklich nichts zu tun.

A. G.:

So war allerdings der Vorwurf gegen die ZJ als Gemeinschaft auf- und ausgebaut worden.

Reinhard Ignatzy:

Das stimmt schon, wir hatten jedoch andere Intentionen.

A. G.:

Wie lange waren Sie im „Roten Ochsen"?

Reinhard Ignatzy:

1951 nur für kurze Zeit, einige Monate Untersuchungshaft, dann verlegt nach Torgau und anschließend nach Cottbus.

A. G.:

Wurden Sie mit anderen ZJ gemeinsam inhaftiert?

Reinhard Ignatzy:

Ich kam sofort in die Isolation, es war der B/D-Flügel der Haftanstalt beim MfS. Im Hafthaus A waren noch die Russen. Dort übrigens befand sich auch ein ZJ, wie ich später von ihm selbst erfuhr: Paul Großmann aus Magdeburg. Damals saß der Schlagstock noch ziemlich locker und Übergriffe waren zu dieser Zeit nicht selten – auch nicht im „Roten Ochsen".

A. G.:

Zu dieser Zeit? Haben Sie da Vergleichsmöglichkeiten?

Reinhard Ignatzy:

Ja, meine erneute Inhaftierung im Jahre 1965. Zunächst jedoch galt ich 1951 nach Art. 6 der DDR-Verfassung und der KD 38 als Boykotthetzer, als Neofaschist. Dafür erhielt ich sechs Jahre Zuchthaus. Ich wurde damals in einem öffentlichen Schauprozess zusammen mit meinem Vater verurteilt. Nach der Haftentlassung war ich weiter als ZJ tätig, war vorsichtiger – aber wohl auch immer unter Beobachtung des MfS gewesen.

A. G.:

Trat das MfS an Sie heran, um Sie für eine Mitarbeit zu werben?

Reinhard Ignatzy:

Nein. Später, nach der zweiten Verhaftung versuchten sie es – erfolglos.

A. G.:

Hatte das MfS hierfür begründete Anknüpfungspunkte? In der Regel gehen den Werbungen wohl durchdachte Überlegungen voraus.

Reinhard Ignatzy:

Es verhielt sich so: Nach dem Urteil verblieb ich von 1965 bis 1968 als Hausarbeiter im „Roten Ochsen". Ich saß mit anderen Inhaftierten in der sogenannten Turmzelle vom Hafthaus A, wir konnten fernsehen, hatten Literatur, lasen die wenn auch staatlich verordnete Zeitung, erhielten regelmäßig Besuch – kurz: die Zeitumstände bewirkten auch eine Veränderung der Zustände im „Roten Ochsen", wenn man den Vergleich zu früher zieht. Übrigens verhalf mir der Ihnen sicherlich bekannte Staatsanwalt Jürgens damals zu der erneuten mehrjährigen Haftstrafe.

A.G.:

Und weil Sie mit den Haftbedingungen zufrieden waren, wollte man Sie zur Mitarbeit verpflichten?

Reinhard Ignatzy:

Nein, nicht deshalb. Ich kann Ihnen nur das sagen, was ich selbst so erlebt und so empfunden habe. Mit der Funktion eines Hausarbeiters verbanden sich tatsächlich günstigere Haftbedingungen. Aber darum ging es nicht. Ich wurde in einen Besucherraum geführt, wo man mir die „Wachttürme" der ZJ vorlegte, um über textliche Passagen mit mir zu debattieren. Und ich muss sagen, dass verschiedene Ausführungen der WTG bei mir Unbehagen hervorriefen. Das MfS registrierte das wohl auch sehr genau – ich bekam plötzlich eine Bibel in die Zelle, sehen Sie. Mit Haftentlassung später durfte ich diese – mit meinen damaligen Randnotizen in der Zelle versehen – sogar mit nach Hause nehmen. Eine Anwerbung lehnte ich strikt ab. Was, wollte ich vom MfS wissen, sollte ich da wohl tun – andere aushorchen? Ich sagte: Nein, ich kam als ZJ in die Zelle, ich bin ZJ in der Zelle und ich werde als ZJ auch die Zelle irgendwann wieder verlassen. In die Abschiebehaft wollte ich nicht, sondern in der DDR bleiben. Hier hatte ich mein Umfeld und alles aufgebaut.

A. G.:

Sollte Ihr Wunsch, in der DDR zu bleiben, für das MfS von Vorteil sein? Unbequeme Mitmenschen, die das auch noch nach außen hin bekundeten, war man doch eher bestrebt abzuschieben. Flucht oder Abschiebung – oder inoffizielle Mitarbeit, waren nicht so die Alternativen?

Reinhard Ignatzy:

Ich wollte von all dem nichts – einfach als normaler Bürger im Lande bleiben.

A. G.:

Ein guter, aber vielleicht auch gerade in Ihrem Falle ein illusionärer Vorsatz?

Reinhard Ignatzy:

So illusionär nun wieder nicht. Das MfS gab ja in der Tat nicht auf und kündigte nach meiner Entlassung an, sich mit mir – konspirativ – treffen zu wollen. Ich sagte ihnen, sie könnten schon kommen – aber unter Zeugen, sogar wörtlich genommen.

A. G.:

Trotz Zeugen – das MfS sprach mit Ihnen? Über was eigentlich?

Reinhard Ignatzy:

Über die WTG, die Literatur und das Christsein in der DDR. Natürlich war ich zu solchen Gesprächen bereit, warum nicht? Mit inoffizieller Tätigkeit oder gar Konspiration hatte das bei weitem nichts zu tun. Die Atmosphäre unter allen Beteiligten war nicht gerade verstockt, wir sagten, was aus unserer – christlicher – Sicht zu sagen war, und die MfS-Vertreter sagten das ihre.

A. G.:

Also eine Art Dialog: ZJ und MfS?

Reinhard Ignatzy:

Wenn Sie es so sehen. Das waren aber nur wenige Gespräche. Plötzlich meldeten sich zwei unbekannte Vertreter des MfS an, wir lehnten nun weitere Gespräche unsererseits ab.

A. G.:

Sie waren und blieben also weiterhin ZJ in der DDR – illegal, aber eben doch eher legal, wenn man um die MfS-Besuche bei Ihnen weiß, die in dieser Form vom MfS toleriert wurden?

Reinhard Ignatzy:

Ob Tolerierung – vielleicht, eher interessierten sie sich für die Meinungen in der Familie zum Bereich ZJ. Wie gesagt, es gab dann keine Gespräche mehr. Aber es kam der Zeitpunkt, wo wir uns – meine Frau und ich – von den ZJ abwandten.

A. G.:

Eine MfS-Langzeitstrategie?

Reinhard Ignatzy:

Unsinn. Das MfS konnte ja nun wirklich nicht alles bewirken. Diese Abkehr kam von innen, und zwar mit ersten Zweifeln verbunden im Jahre 1975, dem von der WTG berechneten Datum des Endgerichtes für die Welt: Harmagedon. Doch Harmagedon blieb aus, die WTG hatte gelogen, wie schon in den vielen Jahren zuvor. Dass die Lüge in der WTG herrscht, stellte ich in persönlichen Gesprächen wiederholt fest, auch unter eigener öffentlicher Brüskierung. Dies gab schließlich Ende der 70er Jahre den Ausschlag. Mit den ZJ wollten wir nichts mehr zu tun haben.

A. G.:

Als Christ wechselten Sie dann in eine der großen Kirchen?

Reinhard Ignatzy:

Nein, wir wollten uns in keine neuen Abhängigkeiten egal, welcher Art begeben.

A. G.:

Hatten Sie Verbindungen zu Redakteuren der damals schon seit Jahren bestehenden Schrift CV (Christliche Verantwortung), die vom MfS kontrolliert und inszeniert wurde?

Reinhard Ignatzy:

Anfang der 80er Jahre besuchte mich in Halle ein ehemaliger Haftkamerad, ein ehemaliger ZJ, wie sich herausstellte, der auf der Durchreise nach Gera war. Er berichtete mir über das Blatt CV und fragte, ob ich nicht auch Interesse hätte, Artikel der Aufklärung über den Irrglauben der ZJ zu verfassen. Ich sagte ihm zu; bis 1989 schrieb ich einige Beiträge. CV wurde ja dann auch eingestellt. Die Zusage, als Autor mitzuwirken, ergab sich im Anschluss an den Schicksalsbericht von Henry Werner (der eigentlich Werner Henry Struck hieß). Dessen Sohn war ein Fanatiker der ZJ, seine Frau und sein Kind gingen in den Freitod.

A. G.:

Sie wollten also die Lehre der WTG bekämpfen – mit der Feder?

Reinhard Ignatzy:

Das ist richtig. Es war die Situation so, wir fühlten, etwas tun zu müssen. Und noch heute, schon lange nach Einstellung der CV, halte ich regelmäßig Vorträge zu christlichen Themen und werde zu Veranstaltungen eingeladen. Da kommen nicht nur ehemalige ZJ zusammen, auch Vertreter der verschiedenen Konfessionen. Sehen Sie, die Themen: Ethik im Neuen Testament oder Leben in Gemeinschaft mit Christus. A. G.: Jetzt könnte man ja sagen: das ist der MfS-Untergrund, die fortgesetzte Zersetzung.

Reinhard Ignatzy:

Sehen Sie. Die Kritik an den ZJ ist nicht ursächlich bedingt oder gar abhängig vom MfS, das – glücklicherweise – schon längst nicht mehr existiert. Allerdings versuchen so manche heute, diesen Eindruck zu erwecken. Richtig ist jedoch, dass das MfS natürlich die Chance reichlich nutzte, über ZJAussteiger und Kritiker ihre Zersetzungsstrategie – und zwar gegenüber allen Religionen – umzusetzen. Religion und Kirchen mussten dem DDR-Staat angepasst werden, da blieben die ZJ nicht außen vor. Das MfS nutzte hier jede Gelegenheit, und im Falle der ZJ war das wohl auch die CV. Aber eben nicht nur die CV. Die Instrumentalisierung des einen schließt nun aber die Tätigkeit des anderen nicht folgerichtig aus. Kritik an den Lehren der WTG gab es auch subjektiv unabhängig vom MfS in der DDR, wie in anderen Staaten der Welt auch – und das bis heute!

A. G.:

Sind Sie eigentlich rehabilitiert, kennen Sie Ihre Stasi-Akten?

Reinhard Ignatzy:

Für meine Haftzeiten wurde ich in den 90er Jahren vollständig vom Landgericht rehabilitiert. Meine Akten kenne ich aber bis heute nicht. Ich sollte für eine Einsichtnahme bezahlen.*

A. G.:

Das heißt, Sie sind als Mitarbeiter des MfS registriert.

Reinhard Ignatzy:

Ich kann es mir nicht vorstellen, es gab keinerlei ge und eine gar unterschriebene Anwerbung wird habe keine Erklärung dafür. Nur weiß ich eines – nicht bezahlen, um meine Schicksalsakten aus der Stasi-Haft zu lesen!

A. G.:

Die – wenn auch offenen – Gespräche nach der Entlassung 1969 könnten hiermit im Zusammenhang stehen. Es wäre zu recherchieren, inwieweit Sie – ohne Wissen und Zutun – als Gesprächspartner (Kontaktperson) des MfS nicht nur abgeschöpft, sondern auch aktenkundig registriert wurden.

Reinhard Ignatzy:

Ich kann es nicht sagen. Wüsste es selbst gern – aber ohne finanziell noch dafür aufkommen zu müssen. Ich denke, da liegt in der Verwaltungsbehörde etwas quer.

6.2. „Die Zeugen Jehovas":

Ein Klassiker der Zersetzung (1970)

Unter Verwendung reichhaltiger Quellenmaterialien erschien schon bald und nur wenige Jahre nach der ersten CV-Ausgabe eine umfassende Abhandlung über die WTG im renommierten Urania-Verlag Leipzig–Jena–Berlin mit dem Ziel, „eine Einschätzung und Wertung der gesellschaftlichen Bedeutung dieser Religionsgemeinschaft und ihrer Leitung zu geben, wobei dies freilich nur geschehen kann, wenn auch die politischen Aspekte beleuchtet werden." Die Herausgeber erhofften sich zugleich die Zweckerfüllung der Publikation, die darin bestand, mittels der veröffentlichten Materialfülle „Wegweiser für Christen" zu sein und ganz besonders für jene, deren Glaubensbereitschaft bislang von der WTG mißbraucht wurde."139 Kaum ahnten die wissbegierigen Rezipienten, auch nicht in der Bundesrepublik Deutschland140, dass das UraniaBuch – das sogenannte „Blaubuch" – von Mitarbeitern des MfS zusammengestellt worden war.

Folgt man H., habe die MfS-Publikation dazu geführt, das Meinungsbild der Öffentlichkeit in Ost und West wesentlich negativ zu bestimmen. Den Kirchen wird vorgehalten, unter Bezugnahme auf dieses „Machwerk" zu einem Bild über die ZJ beigetragen zu haben, „das nicht der Realität entspricht".141 Die Federführung Manfred Gebhards (IM „Kurt Berg") bei der Manuskripterstellung hält H. mit Hinweis auf eine MfS-Einschätzung für nicht gegeben. Nach außen hin (Herausgeber) habe Gebhard willig und gleichzeitig als willenloser Experte seinen Namen gegeben.142

Es mag sein, dass Dieter Pape ein umfangreiches Manuskript in Buchform angefertigt hatte, wie H. den MfS-Vermerk zunächst korrekt wiedergibt. Die damit verbundene Interpretation jedoch hinsichtlich der Beteiligung von Manfred Gebhard geht an den Realitäten offensichtlich vorbei, und das heißt nicht, im nachhinein auf Gebhards Ausführungen abzustellen, wie sie von H. in diversen Internet-Kommentaren herausgehoben erscheinen (H. verweist auf http://www.manfred.gebhard.de/Gebhard.htm. und die dort zu findende Überschrift: „Angriffe gegen Gebhard").143

Es handelt sich um MfS-Unterlagen, aus denen die Manuskripterstellung des „Blaubuches" rekonstruiert werden kann. Am 1. Juli 1967 startete der Geheimdienst seine „Aktion Tasche". Hintergrund für die operative MfS-Aktion war das Vorhaben der Mutter Manfred Gebhards, einer aktiven Zeugin Jehovas in der DDR, umfassende Ausarbeitungen ihres Sohnes zur WTG (ca. 150 Seiten Material bzw. Aufzeichnungen in der Tasche) insgeheim an die ZJLeitung übergeben zu wollen. Laut MfS-Einschätzung befürchtete Gebhards Mutter, ihr Sohn Manfred werde aktiv gegen die ZJ auftreten. In Abwesenheit der Mutter holte das MfS alle Unterlagen aus der Wohnung, um diese zu kopieren und wenige Stunden später wieder an Ort und Stelle zurückzulegen, … und die Aktion ist auf diese Weise gut gelungen. Ausführlich wurden die Inhalte des Buchmanuskriptes beim MfS festgehalten. Verfasser des Berichtes war IM „Wilhelm", Dieter Pape.144

In einem weiteren Vermerk schätzte „Wilhelm" ein, „die Polemik bedarf der Überarbeitung und sei auf keinen Fall druckreif oder reif zur Veröffentlichung."145 Gegenüber Gebhard hielt Dieter Pape seine Legende aufrecht, kein Mitarbeiter des MfS, sondern an der Berliner Universität mit historischen Studien beschäftigt und „im Literatur- und Verlagswesen tätig" zu sein.146 Auf dieser Ausgangs- und wohl auch Vertrauensbasis legte Gebhard noch im Oktober 1967 seine jüngsten Ausarbeitungen für eine Buchveröffentlichung Dieter Pape vor. Gebhard hoffte auf konstruktive Kritik und Verbesserungen für sein Buch vom „Verlagsmitarbeiter" Pape.147

Unabhängig von Dieter Pape schickte Manfred Gebhard sein Buchmanuskript an den Union-Verlag. IM „Wilhelm" orientierte im Rahmen des MfS darauf, eine Veröffentlichung des von Gebhard vorgelegten Manuskriptes abzulehnen. Die danach erfolgte „Überarbeitung" erschien 1970 im UraniaVerlag.

Interviewprotokoll

„Das lizenzierte ‚Standardwerk' war ein Kuckucksei der Stasi"

(Manfred Gebhard über das „Urania-Buch", im Dezember 2000)

A. G.:

Herr Gebhard, Ihre Publikation zu den Zeugen Jehovas gilt bis heute als Standardwerk über die Geschichte der Religionsgemeinschaft. Wie stehen Sie, dreißig Jahre nach der Veröffentlichung im DDR-Verlag „Urania", zu der „Dokumentation über die Wachtturmgesellschaft", wie es im Untertitel heißt?

Manfred Gebhard:

Das Buch enthält aus heutiger, aber auch schon aus zeitgenössischer Sicht genießbare und ungenießbare Aspekte. Nach Erscheinen im Urania-Verlag 1970 folgte bereits ein Jahr später eine Lizenzausgabe in der alten Bundesrepublik. In der Tat sehen so manche Publizisten die Publikation auch in heutiger Rückschau – wenn Sie so wollen – als „Standardwerk" an, wenngleich das Pamphlet mit meiner eigenen vermeintlichen Autorschaft kaum etwas zu tun hatte. Man kann eher feststellen, dass das Urania-Buch mir vom Staatssicherheitsdienst der DDR gleichsam als „Kuckucksei" damals untergeschoben wurde. Damit war es natürlich mit meinem Namen verbunden und daraus resultiert auch bis heute mein zwiespältiges Verhältnis zu dem Werk.

A. G.:

Untergeschoben vom MfS? Klingt das nicht sehr abenteuerlich. Folgt man Waldemar H., haben Sie – wohl recht bereitwillig – als IM „Kurt Berg" nach außen hin als Herausgeber der Abhandlung verantwortlich gezeichnet, während die Schriftleitung selbst ein MfS-Kollektiv innehatte, federführend begleitet von einem weiteren ehemaligen ZJ, IM „Wilhelm", der inzwischen hauptamtlich für die Staatssicherheit arbeitete. Folgt man der Logik des genannten Beitrages von H. in der Buchveröffentlichung von Gabriele Y. „Im Visier der Stasi", gaben Sie Ihren Namen einverständlich mit den diffamierenden Inhalten dieses „Machwerkes", wie es dort heißt.

Manfred Gebhard:

So einfach, wie H. die Umstände darlegt, die zur Urania-Veröffentlichung führten, verhalten sich die Dinge nun allerdings nicht.

A. G.:

Sie meinen den Bezug von Waldemar H. auf Ihre Internet-Seiten, wo Sie auf Ihr eigenes Manuskript verweisen. H. jedoch spricht Ihnen die intellektuelle Fähigkeit ab, hier selbst einen publizistischen Vorstoß gewagt zu haben; er spricht ja wörtlich von „Überbewertung" ihrer „Leistungen", die sie sich heute selbst zuschreiben. Andererseits führt H. jedoch Ihre aktive Beteiligung am Druckwerk an – Herr Gebhard, was ist nun richtig? In welcher Form waren Sie selbst am Erscheinen des Urania-Buches beteiligt, „nur" als Herausgeber und damit als „Strohmann", um mit H. zu sprechen, oder als aktiver Mit-Schreiber, wiederum laut H.?

Manfred Gebhard:

Hier dürfte ein Blick in die vom MfS geführten Akten doch genügen, um Klarheit auch in diesem Punkte zu erlangen. Doch will ich es so formulieren: Das MfS überrumpelte mich, als Herausgeber zu fungieren und ich korrigierte quasi die Druckfahnen in der Endfassung des Pamphletes vor der Fertigstellung. Also Herausgeber und Aktiver zugleich, es galt zu korrigieren, was noch zu korrigieren mir möglich war – jedenfalls aus meiner Sicht. Die Druckfassung allerdings, und das sei unmissverständlich gesagt, hatte mit meinem eigenen zuvor fertiggelegten Manuskript nichts zu tun. Es waren faktisch zwei Manuskripte, wobei mein eigenes, das vorher abgelehnt worden war, nicht im UraniaBuch mit enthalten ist.

A. G.:

In den MfS-Hinterlassenschaften findet sich ein Papier, das mit „Aktion Tasche" überschrieben ist, die Stasi-Aktion war gegen Sie selbst gerichtet. Haben Sie hieran eine Erinnerung? Was befand sich so Brisantes in der Tasche, dass der Geheimdienst eine konspirative Aktion einleitete?

Manfred Gebhard:

Wenn ich mich recht entsinne, kann eigentlich nur das von mir kurzzeitig verbrachte Material über die ZJ – etwa 1967/68 – gemeint sein. Ist das stimmig?

A. G.:

Ja, im Juli 1967. Es war vielleicht tatsächlich ein einprägsamer Tag, an dem Sie den IM „Wilhelm" bei sich zu Hause empfingen. Der MfS-Informant wusste etwas von ausgearbeiteten Materialien, mit denen Sie öffentlich gegen die ZJ auftreten wollten.

Manfred Gebhard:

Ich darf Sie unterbrechen: IM „Wilhelm" war mir allerdings zu diesem Zeitpunkt nicht als solcher, also als IM bekannt. Für mich war Dieter Pape, selbst ehemaliger ZJ und nach seiner Haftentlassung Kritiker der Sekte, eben ein ZJ-Aussteiger oder Kritiker, der Aufklärungsarbeit – so wie ich – leisten wolle.

A. G.:

Sie hatten also damals die Sekte verlassen und schickten sich an, aus eigenem Ermessen gegen die ZJ öffentlich zu polemisieren oder, wie es IM „Wilhelm" über Sie in seinem Bericht festhält, „aufzuklären"? Widerspricht das nicht dem aus der Sicht der heutigen WTG gängigen Bild, wo Sie als im Auftrag der Stasi handelnder Spitzel dargestellt werden? Manfred Gebhard:

Sie verweisen ja auf die MfS-Akten und dort sieht die Chronologie differenzierter aus. Ich kann aber nachvollziehen, dass die heutige WTG es bei ihren Veröffentlichungen über Kritiker aus den eigenen Reihen dann wohl doch nicht so genau wissen will – da wäre so manches, auch heute noch, schlicht peinlich.

A. G.:

IM „Wilhelm" sorgte seinerzeit dafür, dass die „Aktion Tasche" ein voller Erfolg wurde. Er berichtete an seinen Führungsoffizier von „über 150 Seiten Materialien und Aufzeichnungen", die hiermit konspirativ und Ihnen gegenüber in betrügerischer Weise für das MfS sichergestellt wurden. Ihre gesamten Unterlagen wurden also in nur wenigen Stunden vom MfS vervielfältigt.

Manfred Gebhard:

Sicher. Aber genutzt hat das MfS – sprich: Dieter Pape, diese meine Unterlagen eben in völlig modifizierter Form. Das MfS stellte mich vor vollendete Tatsachen. Letztlich kann man durchaus feststellen, dass das erschienene Buch, trotz kleiner Änderungen und der Fahnen-Korrektur des Manuskriptes durch mich selbst, eben ein MfS „Pape-Buch" blieb.

A. G.:

Folgt man den Worten Neuberts von der Berliner Behörde der BStU sollten Sie sich, Herr Gebhard, nicht nur als IM-Opfer des MfS fühlen, sondern auch als „Verräter aus Leidenschaft". Sehen Sie sich so, zehn Jahre nach dem Abgesang des Staatssicherheitsministeriums?

Manfred Gebhard:

Wenn Herr Neubert die Vokabel „Verräter aus Leidenschaft" wählt, trifft dies meines Erachtens nicht den Kern. Hätte ich um die fragliche Zeit beispielsweise in der alten Bundesrepublik gelebt, so hätte ich mich mit hoher Wahrscheinlichkeit auch dort zu einem Kritiker der WTG entwickelt. Vielleicht nicht unbedingt im Sinne eines „Einzelkämpfertums", wie es meine DDR-Biografie mit sich gebracht hat. Aber doch grundsätzlich WTG-Kritiker. Meines Erachtens wäre die Vokabel „Überzeugungstäter" angebrachter als die von Herrn Neubert gewählte.

A. G.:

Herr Gebhard, Sie deuteten an, dass eine der gegenwärtig führenden Publizistinnen in Sachen ZJ, Frau Dr. Gabriele Y., „wohlgefällige" Arbeiten nicht nur für die WTG verfasst. Wie haben Sie das gemeint?

Manfred Gebhard:

Frau Y. spricht als Kennerin der ZJ-Szene auf verschiedenen Kongressen und Tagungen, ihr öffentlicher Eifer im Auftrag der WTG, deren Informationsdienst hierzu einlädt, ist erstaunlich. Was Frau Y. vorträgt, will gehört werden – auch wenn das abgegebene Bild über die ZJ gefärbt und – so kann man sagen – in so manchen Punkten auch verfälscht ist. Denn auch die halbe Wahrheit kann eine Fälschung sein. Und welche Institution lässt ihren Wissenschaftlern einen solch (un)freien Lauf? Folgt man der WTG: die Freie Universität Berlin. Als eine solche Mitarbeiterin kündigte die WTG Frau Dr. Y. auf diversen Veranstaltungen an – und: Y. widersprach nicht, sie korrigierte nichts. 1997 befand das Landgericht Berlin, dass die offensichtliche Hochstaplerin in Sachen FU Berlin, Y. – auf Antrag der Klägerin, der FU – sich nicht als Mitarbeiterin der FU ausgeben dürfe, da sie dies nicht sei. Eine hohe Geldstrafe im Fall der Zuwiderhandlung bzw. ein halbes Jahr Gefängnis wurden ihr angedroht. Die Verfahrenskosten hatte Frau Y.selbst zu tragen. Ob sie das Geld wohl aufbringen konnte? Aber es sind nicht nur die ZJ, die der falschen Uni-Mitarbeiterin am Herzen liegen. Auch andere Sekten, wie die MoonSekte in Asien, vertrauen sehr auf Y.s Gefälligkeiten in Sachen Selbstdarstellung. Selbst für die vom deutschen Verfassungsschutz beobachtete kriminelle Scientology Church engagiert sich Frau Y. erstaunlich offensiv.

A. G.:

Sind das nicht Mutmaßungen – gerade Ihre letzten Ausführungen?

Manfred Gebhard:

Leider nicht. Gerade was die Informationskanäle betrifft, gibt uns das Internet breiteste Perspektiven. Perspektiven, über die insbesondere auch offizielle Nachrichtensender nicht informieren. Und dazu zählen die Web-Seiten der Scientologen selbst. An der Spitze einer Scientology-Demonstration zog Frau Y. vor nicht allzu langer Zeit ins Feld für „Religionsfreiheit", wie es bei den Scientologen hieß. Ich glaube, aller Kommentar ist hier wohl überflüssig, was moralische Integrität und das schlichte Verhältnis zu Kommerz, Macht und Einfluss betrifft.

A. G.:

Sind heutige Fürsprecher der ZJ, wie zum Beispiel Frau Y. oder der Heidelberger Kirchenhistoriker B., für Sie fragwürdig?

Manfred Gebhard:

Man kann das so sagen.

Kapitel 7

„Keine Weltverbesserung, sondern Vernichtung

der Welt in Harmagedon"

Anklagen der Brüder Pape nach dem Ende der DDR

„Aus christlicher Verantwortung" (1993 –1996)

Die nach 1989 fortgesetzte Zusammenarbeit zwischen Dieter und Günther Pape dahingehend, über die Lehren der WTG unter kritischer Option in der breiten Öffentlichkeit zu informieren, erscheint folgerichtig. Das Selbstverständnis war gegeben, „aus christlicher Verantwortung" heraus die aus ihrer Sicht nicht-biblischen Inhalte dieser Lehren auch auf textexegetischer Grundlage zu hinterfragen, Widersprüche innerhalb der Wachtturm-Veröffentlichungen aufzuzeigen, vor allem aber Hilfesuchenden einen letztlich auch moralischen Halt zu geben. Die Pape-Brüder schickten sich an, jene Menschen zu beraten und zu betreuen, die wie der ehemalige führende Vertreter der WTG, Raymond Franz durch ihr Leben als ZJ in „Gewissenskonflikt"148 geraten waren.

Zunächst jedoch, erinnerte sich Günther Pape, erhielt er ebenso wie alle anderen Adressaten – CV aus Ostberlin unverändert nach Haisterkirch zugeschickt. Die „Oppositionszeitschrift" im Auftrag des Staatssicherheitsdienstes, wurde mit dem „Abgesang des MfS"149 als Dienstbehörde des untergehenden DDR-Staates, zu einem Selbstläufer am seidenen Faden. Die Studiengruppe CV publizierte weiterhin Aufsätze und Beiträge gegen die Lehre der WTG und deren Auswirkungen auf die Menschen. Die bislang erfolgte geheimdienstliche Steuerung von CV blieb für die meisten ihrer Leser noch immer bestenfalls eine Mutmaßung. Überregional wurden die Kontakte weiter gepflegt. CV, so schien es, war nahezu fest verankert im weltweiten Netz der Zeugen-Jehovas-Opposition.

Im Verlaufe einer internationalen Konferenz ehemaliger Zeugen Jehovas 1991 in den Niederlanden, an der auch aktive Kritiker der WTG u. a. aus Schweden, England, Spanien, Italien, den USA sowie aus Deutschland teilnahmen, kam es zu einer Reihe von Gesprächen, so auch zwischen Günther Pape, CV-Herausgeber Werner Henry Struck und weiteren ehemaligen Zeugen Jehovas. Der ehemalige MfS-Mitarbeiter Struck berichtete über finanzielle Schwierigkeiten bei den CV-Veröffentlichungen, was von den Anwesenden, so Pape rückblickend, sehr bedauert wurde. Struck hoffte offenbar auf Unterstützung für CV aus den alten Bundesländern bzw. von ZJ aus anderen Staaten. Es blieb jedoch bei der formalen Zustandsbeschreibung und der von Struck geäußerten Erwartung, CV als Periodikum alsbald einstellen zu müssen. Der verlängerte Arm des Staatssicherheitsdienstes im Umfeld der Kritiker der WTG in der ehemaligen DDR konnte ohne finanzielle Zuwendungen seiner Auftraggeber, der SED-Staats- und Führungspartei kaum mehr existieren. Die letzte Ausgabe von CV erschien 1993.

Günther Pape entschloss sich zusammen mit seinem Bruder Dieter, seinem Sohn und weiteren ehemaligen Zeugen Jehovas sowie mit Bürgern katholischen Glaubens aus den alten Bundesländern das Informationsperiodikum „Aus christlicher Verantwortung" zu kreieren. Den Lesern von CV wurde in der letzten Ausgabe des Blattes mitgeteilt, die neu gegründete Reihe aus Tübingen beziehen zu können. Dort hatte sich unter redaktioneller Federführung von Klaus-Dieter Pape, Günthers Sohn, das Herausgebergremium etabliert: Christliche Dienste e. V. – Verein für Aufklärung und Information über Zeugen Jehovas. Die Vermutung, dass es sich hierbei um ein Familienunternehmen handelte150, kann jedoch kaum überzeugen. Als Autoren zeichnen in den einzelnen Ausgaben auch ehemalige Zeugen Jehovas151 verantwortlich, die nicht den Namen Pape tragen. „Aus christlicher Verantwortung" konnte durch Spenden und Vermittlung von Abonnements zwischen 1993 und 1996 finanziert werden.152

1994 erhielt Dieter Pape einen bereits erwarteten aussagekräftigen juristischen Bescheid. Das Landgericht Halle rehabilitierte den in den 50er Jahren als Zeuge Jehovas zu Unrecht verurteilten und inhaftierten späteren HIM des MfS als „Betroffenen" der DDR-Unrechtsjustiz. Das Urteil des Bezirksgerichts Halle vom 8.10.1952 gegen Dieter Pape wurde „für rechtsstaatswidrig erklärt und aufgehoben." Erst ein Jahr später, gegen Jahresende 1995, offenbarte Dieter Pape im Kreise seiner Verwandten, als hauptamtlicher inoffizieller Mitarbeiter für den DDR-Staatssicherheitsdienst jahrzehntelang gearbeitet und u. a. auch gegen eigene Familienangehörige spioniert zu haben. Der ehemalige MfS-Mitarbeiter schied schließlich aus der redaktionellen Arbeit der Publikationsreihe „Aus christlicher Verantwortung" aus, noch ehe das Periodikum mit Ausgabe 3/4 (1996) sein Erscheinen gänzlich einstellte. Grund genug für Klaus-Dieter Pape in Tübingen, der zu diesem Zeitpunkt „beruflich vollkommen ausgelastet"153 war, bei dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Berlin einen „Antrag auf Sonderrecherche" zu stellen, da er vermutete, in den MfS-Akten seines Onkels, Dieter Pape (HIM „Wilhelm") registriert zu sein. Sein Vater, Günther Pape, wartete hingegen bereits seit geraumer Zeit auf eine eigene Einsichtnahme in möglicherweise vorhandene Unterlagen des MfS zu seiner Person.

Grund für die bereits 1994 von Günther Pape forcierte Antragstellung beim Bundesbeauftragten war ein Rechtsstreit mit der WTG im Rahmen einer öffentlichen Vortragstätigkeit Günther Papes bei der CDU-nahen KonradAdenauer-Stiftung. Diese hatte in Rostock zu einer Tagung „Zeugen Jehovas in der Diskussion"154 für Pädagogen, Mitarbeiter in der Jugendarbeit, Kommunalpolitiker und andere Interessenten eingeladen; unter den Referenten befanden sich auch Günther Pape und sein Sohn Klaus-Dieter aus Tübingen. Bereits im Vorfeld der Tagung forderte die WTG die Konrad-Adenauer-Stiftung dazu auf, die Tagung abzusetzen und auf deren Durchführung zu verzichten, da die eingeladenen Referenten zum Teil schon eng mit dem Staatssicherheitsdienst der DDR gegen die Zeugen Jehovas zusammengearbeitet hätten. Darüber hinaus formulierte die WTG „gleichlautende Schreiben" an den damaligen Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Dr. Helmut Kohl, und an den damaligen Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Herrn Dr. Richard von Weizsäcker. Hierin führte die WTG jedoch aus, daß es sich bei dem Kläger [Günther Pape, Anm. A. G.]um denjenigen handele, der nach ihrem Dafürhalten mit dem Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR zusammengearbeitet habe. Konkret ergebe sich das mutmaßliche Faktum einer Zusammenarbeit Günther Papes mit dem MfS aus dem Inhalt der GauckAkten, behaupteten die Beklagten, die von Günther Künz und Willi P. (WTG, Selters bzw. Berlin) vertreten wurden.

Die Konrad-Adenauer-Stiftung kam der Aufforderung der WTG, die Tagung abzusetzen, nicht nach. Auch konnte, so das Limburger Gericht, die WTG nicht den Beweis führen […], daß der Kläger mit dem Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR zusammengearbeitet habe. Insbesondere wird in diesem Zusammenhang auch auf die sogenannten und von der WTG vorgelegten „Gauck-Akten" abgehoben, die zu einem solchen „zwingenden Schluss" keinerlei Veranlassung geben. Für Günther Pape, den der Gerichtsbescheid entlastete155, war das erlebte Vorgehen der WTG Anlass dafür, einen personenbezogenen Antrag beim Bundesbeauftragten in Berlin selbst zu stellen. Einige Jahre später (1999) erhielt Günther Pape den Recherche-Bescheid der MfSAktenverwalter aus Berlin. Er galt nach Überprüfung aller Unterlagen als Betroffener im Sinne des StUG und erhielt die ihn interessierenden Kopien kostengünstig von der Berliner Behörde nach Blankenburg zugeschickt.

In den Ort der frühen Kindheitsjahre war der Pensionär bereits 1996 übergesiedelt. Seine schriftstellerischen Tätigkeiten musste Günther Pape in den darauffolgenden Jahren aus gesundheitlichen Gründen mehr und mehr einschränken. Das vorerst letzte Buch „Die Zeugen Jehovas – Ich klage an. Bilanz einer Tyrannei" veröffentlichte er 1999 in der Augsburger Weltbild-Verlagsgruppe.

7.1. Günther und Dieter Pape: Ein Rückblick nach

dem Ende der MfS-Zersetzungsstrategien

gegen die Zeugen Jehovas in der DDR

Als „Zusammenarbeit" kann man die Kontakte des Informationsbüros resp. von mir zu meinem Bruder nicht nennen. Wir (bzw. ich) hatten mit ehemaligen Zeugen Jehovas oder Einrichtungen, die sich mit Lehre und Geschichte der Wachtturm-Organisation befassten, weltweit Kontakte und Austausch von Erfahrungen und Informationen. In aller Welt erschienen Schriften gegen oder über Jehovas Zeugen. Jeder Autor hatte seine Beweggründe, die man nicht zu teilen brauchte und oft nicht teilen konnte. Von vielen nahm und erhielt ich Kenntnis, ohne mich mit irgendeiner dieser Gruppen zusammenzuschließen oder zusammenzuarbeiten. Veröffentlichungen, mindestens von mir und unserem Sohn, waren nie aus niederen Beweggründen, Rache usw. entstanden. Menschliches Leid unter Zeugen-Anhängern war es ja, das durch die Intoleranz der Wachtturm-Führung entstand und wo wir von den Betroffenen und Leidenden um Hilfe gebeten wurden. Ich erinnere nur an das Leid aufgrund der Bluttransfusionsfrage. Hier ist nicht der Platz und Ort, sich mit dem durch die Wachtturmlehre heraufbeschworenen Leid und den Ängsten in den sogenannten geteilten Familien, in denen nur Teile Zeugen Jehovas waren oder Teile ausgeschlossen wurden, zu befassen. Allein die Auswertung mir bekannter tausender Briefe ergäbe eine erschütternde Dokumentation. Wir gaben als katholisches Informationsbüro für katholische und evangelische Christen und Pfarrgemeinden über die ganze Zeit des Bestehens des Büros nur zwei Traktate heraus: 1. „Jehovas Zeugen an der Tür" (1,2 Mill. Expl. allein in deutscher Sprache wurde in viele Sprachen übersetzt). Eine Empfehlung, wie man höflich aber bestimmt den Zeugen-Missionaren entgegentreten sollte, und 2. „Bibelfeldzug der Zeugen Jehovas" (200.000 deutschsprachige Expl.). Eine Stellungnahme zur Neuen-Welt-Übersetzung der Wachtturm-Gesellschaft, in der gemäß der Wachtturm-Lehre die Bibel an vielen Stellen mit Zusätzen versehen, verändert bzw. gefälscht worden ist.

Mit meinem Bruder und CV war das anders. Aufgrund meiner Erfahrungen bei dem Bemühen um die gescheiterte Herausgabe eines gemeinsamen Buches über unsere Erfahrungen mit Jehovas Zeugen war ich skeptisch bzw. zurückhaltend. Mit CV hatte ich nie Kontakte, obwohl ich von meinem Bruder unregelmäßig CV-Ausgaben erhielt, deren Inhalt mir meine Zurückhaltung bestätigte. Den Begriff „Opposition" würde ich für mich nicht gebrauchen wollen. Nachforschung und Klarstellung zur Wachtturm-Lehre und Geschichte wäre wohl die bessere Formulierung. Ich war und bin gegen den Gebrauch oder die Verwertung menschlicher Fehler und Schwächen zur Agitation und lehr-inhaltlichen Auseinandersetzung. Ich halte dies für unchristlich. Ich habe CV zur Kenntnis genommen, aber nie öffentlich gemacht. CV war ja auch in erster Linie an Zeugen gerichtet, um diese zu verunsichern.

ACV (Aus christlicher Verantwortung) war etwas ganz anderes. Aus Altersgründen stand die Weiterführung des Info-Büros in Frage. Nach Auflösung des Info-Büros und Aufteilung der Hilfs- und Betreuungsaufgaben auf die Referenten der jeweiligen Diözesen, kamen immer noch einige hundert Hilfegesuche Betroffener an mich. Das führte zur Gründung von ACV. ACV war keine Missionsschrift für Zeugen Jehovas, sondern Information über Geschichte, Glauben und Lehre der Zeugen und Auseinandersetzung damit. Wir haben Rede und Antwort denen gestanden, die sich an uns wandten.

Verstehe ich mich als „Aufklärer"? Ankläger, Inquisitor, Aufklärer – nein. In der nunmehr bald zweitausendjährigen Geschichte der Kirche waren Sekten und sektiererische Bestrebungen ständige Begleiter. Sie waren und sind immer Herausforderungen an die Kirche zur Warnung, Besinnung, ja sind Korrektiv. Das ist die eine Seite. Ich bin Christ und fühle mich als solcher gemäß dem Evangelium eingeladen und aufgefordert, auf der anderen Seite auf falsche Prophezeiungen und Irrlehren hinzuweisen und vor ihnen zu warnen. Hierzu fanden und finden wir uns berechtigt und aufgefordert schon durch die Apostel der frühen Kirche, die ja forderten „forschet und prüfet."

Günther Pape (Auszüge aus seinem Rückblick), Blankenburg, im Februar 2003

Eine Hinterfragung der langjährigen publizistischen Auseinandersetzung der Studiengruppe Christliche Verantwortung (CV) in der DDR und darüber hinaus mit den sektiererischen, bibelmissbräuchlichen religiös-politischen WTG-ZJEndzeit-Irrlehren und -Irrwegen – dahingehend, ob das richtig, notwendig, sinnvoll, wider besseren Wissens, Rachefeldzug und Kreuzzug war oder nicht, zu rechtfertigen sei oder nicht, zu bereuen sei oder nicht und auch moralische Bürde sei oder nicht – alles auch aus heutiger Sicht kann nicht nur mit einem kurzen Ja oder Nein beantwortet werden. Das kann nur mit einer hinreichenden Berücksichtigung der realen Gegebenheiten und Sachverhalte und Bedingungen zur jeweiligen Zeit geschehen. Bloße Behauptungen wie Gegenbehauptungen widerlegen bzw. beweisen und begründen hier nichts und werden dem Anliegen nicht gerecht. Zugleich ist für die WTG und alle so oder so Betroffenen und Angesprochenen festzustellen, dass diese Auseinandersetzung mit den WTG-ZJ ein legitimes demokratisches Menschen- bzw. Grundrecht ist, in jedem Land. Und schließlich sind Kritik und Gegnerschaft, wie sie hier bezüglich der Irrlehren und Irrwege der WTG sichtbar werden, keineswegs nur eine vermeintliche, sondern eine in Wort und Tat sehr reale Opposition, wie sich erweist. Allerdings richtete sich alles in der Hauptsache gegen die WTG selbst und nur mittelbar gegen ihre ZJ, sind diese doch lediglich die Kolporteure (frühe Selbstbezeichnung) oder Verbreiter und Umsetzer dieser von der WTG in Hauptverantwortung hervorgebrachten Irrlehren. Ihre ZJ haben das als „Sklavenklasse" kritiklos und ohne Widerspruch bedingungslos auf sich zu nehmen. „Rebellion gegen den (Haupt)Sklaven ist Rebellion gegen Gott", ist hier das WTG-Dogma. Auch ist diese besagte Auseinandersetzung nicht nur bloße Gegnerschaft oder Opposition. Es wird in Verbindung damit notwendigerweise auch anders bzw. neu orientiert, auf die von der WTG verteufelte soziale und demokratische politische Denk- und Verhaltensweise gerichtet, auch für Christen sittlich-moralisch verbindlich und verpflichtend. Und es wurden Auswege aufgezeigt für WTG-freies Christsein auch in anderen Kirchen oder Religionsgemeinschaften oder in eigens gegründeten. Vorwegzunehmen ist schließlich auch, dass ein solcher „Aufstand des Gewissens" gegen die geistigen „Sklavenhalter" WTG – dessen religiös-politische Verteufelungen auch gegen Staat und Regierung der DDR gerichtet waren, wie gesehen werden muss – mit Wohlwollen begrüßt und behandelt wurde. Wenn auch mit Misstrauen, ergaben sich hier Entgegenkommen und Gemeinsamkeiten, wurde beiderseits als verständlich erachtet. Denn in der Tat sind Kirchen und Religionsgemeinschaften sehr wohl wichtige Kräfte des kulturellen, politischen und sozialen Lebens im Lande. „Religion ist keine Privatsache". Die fragwürdige WTG-Endzeitreligion schon gar nicht. Es müssen mindestens einige wesentliche Schwerpunkte in der besagten Auseinandersetzung mit den religiös-politischen WTG-Endzeit-Irrlehren vor Augen geführt werden, und zwar faktisch, konkret und authentisch, um letztlich überzeugend zu sein, die Dinge ermessend und beurteilend. Woraus sich schließlich auch ergibt, wer hier zu bereuen und eine moralische Bürde zu tragen hat.

Die berechtigte Frage ist hier allerdings die nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel, worin die DDR-Regierung zunächst mit den Strafverfolgungsmaßnahmen weit überzogen hat. Erst in Erkenntnis dieser Maßlosigkeit als Unrecht wurde mehr oder weniger auf die unter diesen durchaus für die Betroffenen leidvollen Bedingungen entstandene und sich bildende besagte Opposition als bessere Methode der Reaktion gesetzt und diese gefördert, was die materielle oder organisatorische Seite der Sache betrifft. Die WTG betreibt mit ihrem bishe rigen bibelmissbräuchlichen Endzeitdogmatismus eine nachgewiesene und immer wieder unglaubwürdige, weil irreligiös gesellschaftspolitische Destruktion. Das manifestiert sich schließlich in einem Verteufeln und damit feindseligen Vorgehen gegen jede politisch-demokratische Denk- und Verhaltensweise, schon bei unter ihren Einfluss kommende Kindern und Jugendlichen. Dies ist in der Tat eine diesbezügliche Zunichtemachung, Zerstörung oder Zersetzung solcher Denk- und Verhaltensweisen. Was letztlich im Verbot bzw. in Verhinderung von Teilnahme an politischen Wahlen auf jeder staatlichen Ebene – Bund, Länder und Kommune – praktisch zum Ausdruck kommt oder gipfelt, wie das u. a. 1997 neuerdings gerichtlich festgestellt wurde. Jeder Mensch, jede Religionsgemeinschaft und Kirche, jeder Staat und jede Regierung, die da von der WTG – was nicht zu rechtfertigen ist – religiöspolitisch angegriffen und bekämpft wird, hat das Menschenrecht, sich richtigstellend damit auseinander zusetzen – in jedem Land der Erde.

Dieter Pape (Auszüge aus seinem Rückblick),

Berlin, im Februar 2003

7.2. Papier ist geduldig – oder von der Fähigkeit,

MfS-Akten zu klassifizieren

Ende September 2001 erhielt Günther Pape von der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR ein Schreiben, worin die gerade zwei Jahre zuvor gegebene Einschätzung der Behörde, er sei Betroffener auf der Grundlage der § 12 und 13 Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG), revidiert wurde. Diese Einstufung, heißt es in der Günther Pape plötzlich zugestellten Mitteilung, kann nach nochmaliger Prüfung nicht aufrecht erhalten werden. Vielmehr muss ich Sie aus heutiger Sicht als Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes iSv § 6 Abs. 4 Nr. 2 iVm § 16 StUG einstufen. Die Behörde verzichte jedoch darauf, nachträglich Kosten für die Bereitstellung der 1999 an Günther Pape versandten Kopien zu erheben.156 Pape hatte vier Wochen Zeit, gegen den Bescheid Widerspruch anzumelden. Inzwischen befasst sich das Berliner Verwaltungsgericht mit der „Streitsache Günther Pape gegen die Bundesrepublik Deutschland."

Folgerichtig bat der nunmehr als „Täter" klassifizierte ehemalige Vertreter der katholischen Kirche um Zustellung der ihn belastenden MfS-Unterlagen, die offenbar in der Berliner Behörde aufgefunden wurden. Neu aufgefundene Dokumente, mutmaßte bereits der Heidelberger Theologieprofessor B. in einem Beitrag für die Tageszeitung „Die Welt", scheinen diese Vermutung jetzt zu erhärten. B. verwies in seinen Verlautbarungen auf den „Geheimen Informator" (GI) „Marion" und stellte die Frage nach den Verbindungen Günther Papes zu seinem Bruder Dieter.157 Die Berliner Behörde ließ Pape wunschgemäß das „neu erschlossene" und ihn belastende Material zukommen und stellte gemäß der revidierten Einstufung die Postsendung in Rechnung.158 Pape zahlte den Betrag unter Vorbehalt und war dennoch über den ihm zugegangenen Aktenbestand mehr als verblüfft. Es handelte sich um Unterlagen, die er bereits 1999 als Betroffener erhalten hatte – als betroffener Einsichtnehmer jedoch kostengünstig. Nach den entsprechenden Mitteilungen der BStU soll es sich bei den Pape nunmehr belastenden Unterlagen gerade um solche Dokumente handeln, die noch zwei Jahre zuvor für die Behörde Grundlage waren, ihn als Betroffenen zu klassifizieren. Erklärt wurde dem Blankenburger Pensionär, dass man infolge eines Forschungsantrages zu seiner Person den Aktenbestand neu überprüft habe. Nunmehr, nach knapp einem weiteren Jahr im schwebenden Rechtsstreit jedoch, stellte BStU-Jurist Budsinowski fest, dass neu aufgefundenes und Günther Pape womöglich auch belastendes Material gar nicht vorliege. Jetzt soll es die Gesamtschau des vorliegenden Materials und der daraus zu entnehmenden Zusammenhänge sein, die eine Revision der Einstufung Günther Papes bedingen würde.159

Ausgangspunkt für eine solche Interpretation der Behörde ist der 1959 über Günther Pape angelegte Aktenbestand „Marion", auf den schon B. im besagten „Die Welt"-Artikel aufmerksam machte.160 Auch diesen Bestand stellte die BStU noch 1999 Günther Pape kostengünstig zur Verfügung.

Der darin enthaltene Vorschlag für eine Anwerbung ist datiert auf den 25. November 1959. Ein Anwerbungsbericht nimmt Bezug auf die tatsächlich stattgefundenen Treffen zwischen Günther und Dieter Pape sowie mit Vertretern des MfS, die allerdings jeweils unter der Legende „Ministerium für Kultur" auftraten. Hierbei handelte es sich jedoch nicht um konspirative Zusammenkünfte, sondern, wie Günther Pape seinerzeit annahm, um Verhandlungen für eine Buchveröffentlichung. MfS-Mitarbeiter Seltmann, der bei den Verhandlungen als „Kulturvertreter" zugegen war, gab in seinen Treffberichten hierüber Günther Pape einen Decknamen: „Marion". Auf Papes Nachfrage, heißt es in dem Bericht vom 27.11.1959, hätten sich die Kulturvertreter als MfS-Mitarbeiter vorgestellt. Verhandlungspartner Günther Pape erklärte hiernach, so Seltmann, seine volle Bereitschaft, mit uns zusammenzuarbeiten.161 Die Chronologie der vorhandenen MfS-Akten zu „Marion" erscheint dennoch fraglich. Nach der von Seltmann mitgeteilten Anwerbung Günther Papes füllte das MfS im Dezember (!) 1959 einen Suchzettel über Günther Pape aus. Anlass für die vom MfS angesetzte Überprüfung soll die „Anwerbung als GI" gewesen sein. So wohl in den Treffberichten mit „Marion" als auch in einer von Seltmann am 11.3.1960 verfassten Einschätzung zur Person hieß es intern: Bisher wurden mit „Marion" nur einige Treffs durchgeführt, wobei wie bereits angeführt, als Ministerium für Kultur aufgetreten wurde.162

Die Akte „Marion" wurde bereits im April 1961 wieder geschlossen und archiviert. IM-Berichte von „Marion" sind hier ebenso wenig nachweisbar wie eine – in der Regel schriftlich abgefasste – Verpflichtungserklärung. Dass Günther Pape bewusst mit dem MfS verhandelte bzw. diesem berichtet haben soll, ist nur aus einem Vermerk Seltmanns zu entnehmen, wobei derselbe MfS-Mitarbeiter in sämtlichen Unterlagen davor und danach genau das Gegenteil aktenkundig festhielt. Sollte Günther Pape als GI „Marion" tatsächlich durch das MfS angeworben worden sein, erscheint es zumindest fraglich, aus welchen Gründen gerade 1961 eine weitere Anwerbung ganz anderer Art hätte erfolgen sollen. Noch heute, so Günther Pape, befinde sich die Anmeldekarte aus dem Berliner Hotel „Adlon" in seinem Besitz. Dass, wie es im Abschlußbericht zu „Marion" heißt, Günther Pape demnächst nicht in die DDR kommen würde, ist bereits an anderer Stelle herausgestellt worden. Sowohl der BND als auch Papes langjähriger Gesprächspartner, der Jesuitenpater Dr. Haensli, drängten nach dem in Pullach diskutierten Entführungsplan darauf, Günther Pape keiner weiteren Gefahr auszusetzen (vgl. die Ausführungen im 5. Kapitel).

Der Rechtsstreit zwischen Günther Pape und der Bundesrepublik Deutschland wegen der von der BStU vorgenommenen Neueinstufung Günther Papes war bei Fertigstellung des Manuskriptes noch nicht entschieden. Im Gegenteil. Hinzu kam eine strafrechtliche Konsequenz.163

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Ergänzend zum letzteren. Siehe auch:

Parsimony.8294

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