Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Karl-Heinz Geis

Bericht von

Anne-Susann von Ehr, Kerstin Witte-Petit

"Rheinplaz" 20.12.2000

"Falsche Propheten am Werk"

Ein Aussteiger sieht in den Zeugen Jehovas eine "gefährliche Sekte"

Charly Geis war über 43 Jahre Mitglied der Zeugen Jehovas, bevor er vor zweieinhalb Jahren aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurde - mit allen Konsequenzen. Er verlor sein gesamtes soziales Umfeld, fühlte sich "allein auf einem anderen Planeten". Der Grund: Er zweifelte die Endzeitprophezeiungen an und stellte fest, dass in der Leitenden Körperschaft in Brooklyn "falsche Propheten" am Werk sind.

Der 62-Jährige, der als 17-Jähriger, fasziniert von der Botschaft der Endzeitprophezeiung, sich den Zeugen Jehovas anschloss, arbeitete 25 Jahre als Vollzeit-Prediger im Kreisdienst. Als eine "Art Inspektor" besuchte er im In- und Ausland die Versammlungen, um nach dem Rechten zu sehen. Heute nach seinem Ausstieg will Geis, der in Ludwigshafen lebt, keine Abrechnung. "Es gab durchaus auch positive Erfahrungen." Trotzdem ist er davon überzeugt, dass "die Zeugen Jehovas eine der gefährlichsten Sekten sind, da man als Mitglied Gesundheit und Leben verlieren kann". Die Verantwortlichen sitzen für Geis in Amerika - die religiösen Führer, "die zwölf Männer, die sich als Kanal Gottes bezeichnen".


Als ein Beispiel führt er die Bluttransfusion an. Seit den 40er Jahren sei diese verboten. Bis 1978 mussten sogar Bluter auf das Injizieren von Gerinnungsmittel verzichten. Nach Protesten hätten sich die religiösen Führer eines Besseren besonnen und zunächst eine einmalige, danach eine unbegrenzte Behandlung gestattet. "Doch Kindern wird weiter in einer lebensbedrohlichen Situation ein halber Liter Blut verweigert. So entscheiden zwölf Männer über Leben und Tod."

Der Beteuerung, jeder könne sich selbst für oder gegen eine Transfusion entscheiden, ohne Folgen befürchten zu müssen, glaubt Geis nicht. "Wenn heute ein Zeuge eine Blutübertragung akzeptiert, wird er nicht ausgeschlossen. In der Sprache der Wachtturm-Gesellschaft heißt es jetzt: Er hat die Gemeinschaft verlassen." Die Folgen seien dieselben: Er ist isoliert und als Außenseiter abgestempelt. "Dieser Gemeinschaftsentzug ist ganz furchtbar."

Den Aussteiger packt die heilige Wut, wenn er daran denkt, wie viele junge Männer weltweit im Gefängnis landeten, nur weil die Führung in Brooklyn nicht nur den Militär-, sondern auch den Zivildienst ablehnte. Erst 1996 wurde im Wachtturm ein Papier veröffentlicht, das wegen einer fehlenden Zwei-Drittel-Mehrheit bei der Abstimmung in der Leitenden Körperschaft 18 Jahre in einer Schreibtischschublade lag. Darin heißt es: Die Bibel verbiete den Zivil- oder Ersatzdienst nicht. "Keine Entschuldigung für die tausenden Männer, die jahrelang hinter Gitter saßen - für nichts."


Das Bestreben der Wachtturm-Gesellschaft, als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden, ist in Geis' Augen rein wirtschaftlich begründet. Dafür lasse die religiöse Führung auch Mitglieder ziehen, die sich nicht auf diese Art und Weise der "Welt des Satans" anbiedern wollten. Geis glaubt, dass die Sekte ihren Weg mit allen Mitteln verfolgt - auch mit Hilfe der "theokratischen Strategie". Dieser Ausdruck bedeute, dass "die Zeugen nicht verpflichtet sind, den Feinden des Königreiches Gottes die Wahrheit zu sagen".

Aus dem Glauben sollte der Staat sich heraushalten. Diesen Satz atmet das gestern ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts seine ganzen 49 Seiten lang. Bedeutung haben wird es nicht nur im aktuellen Versuch der Zeugen Jehovas, den mit zahlreichen Privilegien versehenen Status der Körperschaft öffentlichen Rechts zu erlangen, sondern auch dann, wenn Moslem-Gemeinschaften an diese Tür klopfen. Einige tun das schon: In Nordrhein-Westfalen haben der Verband der Islamischen Kulturzentren und die Förderation der Aleviten Gemeinden die Anerkennung als Körperschaft beantragt. Karlsruhe hat für all diese Fälle nun Regeln aufgestellt.

Regel Nummer 1: Es zählt nicht was die Gruppe glaubt, sondern wie sie sich verhält. Der Staat ist weltlich, und er hat nur nach weltlichen Kriterien zu handeln. Der Vorbehalt innerhalb einer Religion, dass im unausweichlichen Konfliktfall den Glaubensgeboten mehr zu gehorchen sei als den Geboten des Rechts, sei zum Beispiel Ausdruck der "für Religionen nicht untypischen Unbedingtheit ihrer Glaubenssätze", merken die Richter an; sie haben auch Verständnis dafür, dass eine Religion sich nicht anderen Religionen gegenüber "neutral" verhält, sondern missionieren will. Ähnliches könnte übrigens vielleicht auch ein gläubiger Katholik für sich unterschreiben - und trotzdem ein guter Demokrat sein.

Regel Nummer 2: Der Staat erkennt gern die Religionsfreiheit an - aber das müssen Religionsgruppen auch. Eine Gemeinschaft, die sich am liebsten selbst zur Staatskirche aufschwingen und andere Religionen behindern würde, kann keine Unterstützung des Staates erwarten. Damit errichten die Verfassungsrichter unter anderem eine Hürde gegen fundamentalistische Islamisten.

Regel Nummer 3: Die "fundamentalen Verfassungsprinzipien", nämlich die Grundrechte und die Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie, dürfen von der Religionsgemeinschaft nicht angetastet werden. Zwar verlangt das Verfassungsgericht von den Religionsgruppen selbst keinen demokratischen Aufbau (damit hätte ja auch die katholische Kirche ihre Probleme), es verlangt nicht einmal aktive Bejahung des Grundgesetzes - aber gegen die Demokratie und beispielsweise für einen islamischen Gottesstaat arbeiten darf die Gemeinschaft nicht.

Besonders heikel wird die Sache im Fall der Zeugen Jehovas bei den Grundrechten. Ist das Kindeswohl noch gewährleistet, wenn Bluttransfusionen versagt werden und das Erziehungsbuch "Stock und Rute" zu drastischer Erziehung rät? Haben Erwachsene noch ihre ganze grundrechtliche Freiheit, wenn sie bei der Zustimmung zu Transfusionen, beim Gang zur Wahl oder beim Austritt aus der Gemeinschaft mit weit gehender Isolation zu rechnen haben, die Aussteiger als "Psychoterror" qualifizieren? Dies werden die Fachgerichte jetzt zu prüfen haben und leicht wird das nicht werden. Denn was die Zeugen Jehovas selbst mit treuem Augenaufschlag über ihre Praktiken sagen und was ihre Kritiker berichten, scheint zwei ganz verschiedene Welten zu beschreiben.

Bericht des:

"Landsberger Tagblattes" vom 16. Mai 2000 / Nr. 112

Apokalyptische Endzeitsekte

Ehemalige Zeugen Jehovas berichten bei einem Vortrag im Pfarrzentrum
Von unserer Mitarbeiterin Hannelore Klug

Landsberg - Der Saal ist voll. Am Rednerstisch sitzt still wartend ein elegant gekleideter älterer Herr. Am anderen Ende des Saales ist ein Bücher – und Informationstisch aufgebaut, der von einem Mitglied der Selbsthilfegruppe „Sektenausstieg Allgäu" betreut wird. Kaplan Dr. Ulrich Lindel begrüßt die Gäste im Pfarrzentrum „zu den heiligen Engeln". Rund hundert Männer und Frauen sind der Einladung zu dem Vortrag „Zeugen Jehovas – Es gibt ein Leben nach der Sekte" gefolgt.

Karl Heinrich Geis, so heißt der ältere Herr berichtet, wie er im Alter von 17 Jahren von den Zeugen Jehovas angeworben wurde und erst vor zwei Jahren, mit 60 Jahren wieder von ihnen loskam. Eindringlich schildert er, wie er und seine Frau die Endzeitprophezeihungen glaubten, interne Vorschriften wie Transfusionsverbot ohne Muren akzeptieren und das nicht Passende „im Rahmen der Unvollkommenheit mit Liebe zudeckten". Erst 1998 findet er durch einen Zufall den Schlüssel zum Ausstieg. Als er eine befreundete Familie zur Bibelstunde besucht, berichtet der Gastgeber völlig verwirrt von einer Fernsehsendung, die sehr kritisch über die Zeugen Jehovas berichtete. Und führt das mitgeschnittene Video vor.

Tröpfchenweise überzeugen

„Da wurde mir bewußt, dass ich mich in einer apokalyptischen Endzeitsekte befand" schildert Geis seine Empfindungen. Von nun an ist Vorsicht angesagt, den „Charly", wie ihn seine Freunde nennen, will Familie und Freunde, alle Mitglieder der Zeugen Jehovas, nicht verlieren. Er zieht alle bei der Wachtturm-Gesellschaft erlernten rhetorischen Register, überzeugt Frau und Kinder tröpfchenweise. Bis er nach fast acht Wochen durch einen Verrat ertappt und ausgestoßen wird, hat er rund 50 Menschen zum Ausstieg aus der Gruppe bewogen. Heute betont er, dass man die große Masse der Zeugen eher als Opfer betrachten solle. Mehrmals weist er auch auf seinen „Fan-Club" hin, Mitglieder, die von der Wachtturm-Gesellschaft beauftragt worden seien, seine Vorträge zu besuchen, alles mitzushreiben und detailliert nach Selters/Hessen, dem deutschen Hauptquartier der Zeugen Jehovas zu melden.

Die weltweit arbeitende Gemeinschaft sei streng hirarchisch aufgebaut, die Glieder der leitenden Körperschaft regierten von Brooklyn aus wie absolutistische Herrscher. Die mittlwerweile über Neunzigjährigen Führer der Wachtturm-Gesellschaft (Watchtower-Society) bestimmen das Leben mit Geboten bis hinein ins Schlafzimmer. Der Einzelne werde überwacht, kontrolliert und man strafe sich gegenseitig ab.

Führungsmonopol

Die oberste Leitung beanspruche eine nicht mehr kritisierbare Autorität, ein totales Führungsmonopol. Die Gruppe schließe sich eng zusammen, Außenkontakte seien unerwünscht. Die Mitglieder seien völlig entindividualisiert. „Es geht den Sekten-Gurus immer um Macht. Dieses Gefühl, Leute zu beherrschen, ist das Gefühl, da man immer wieder bei Sekten erkennt", erläutert Charly Geis die internen Herrschaftsverhältnisse. Die Watchtower-Society besitze ein Milliarden-Vermögen, versuche aber zustzlich staatliche Unterstützung zu erhalten.

Eindringlich schildert Karl-Heinrich Geis, wie Menschen zum Eintritt geködert werden. Durch Hausbesuche werde Interesse geweckt. Für erste Diskussionen ziehe man ausschließlich Bibelstellen heran. Durch intensivste Schulungsmaßnahmen können die Besucher dem Laien nine unwiederlegbare, wasserfeste Argumentation vorgaukeln. Erst dann kommt „das sekten- eigene Material dran. So können die Leute irgendwann nicht mehr zwischen biblischen Lehren und Sektenlehren unterscheiden"

Schwarzes Loch

Aussteiger würden isoliert, es herrsche Kontaktverbot. Da alle sozialen Kontakte innerhalb der Gruppe statt finden, fielen die Menschen danach in ein schwarzes Loch und würden unter Depressionen und Schuldgefühlen leiden. Viele bekämen psychische Probleme bis hin zur Selbstmordgefährdung. Deshalb seien Initiativen wie die „Selbsthilfegruppe Sektenausstieg" so wichtig betonte Geis. In seinem Schlußwort forderte Gastgeber Kaplan Lindl alle Anwesenden auf, auf dem Heimweg über ihren Glauben nachzudenken, darüber, ob sie jederzeit Rede und Antwort stehen könnten.

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