Annotationen zu den Zeugen Jehovas
Enquete-Kommission


In der Zeitschrift MIZ (Bezugsadresse: Postfach 100 361; 63703 Aschaffenburg; eMail: verlag@alibri.de ) kommentierte Gunnar Schedel in der Ausgabe 3/98 auch die seinerzeitige Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages und ihren abschließenden Bericht. Er schrieb darin (gekürzt):

„Diese im Mai 1996 eingesetzte Kommission sollte 'Konflikt- und Problemfelder im Bereich der 'sogenannten Sekten und Psychogruppen' analysieren und Handlungsempfehlungen für die staatlichen Organe erarbeiten. Im Juni dieses Jahres wurde nun der Abschlußbericht vorgelegt, der einerseits zu einem differenzierten Umgang mit dem Thema aufruft, andererseits aber auch einige symptomatische Schwächen aufweist.

Zum einen fehlen in der Untersuchung - wie nicht anders zu erwarten - innerhalb der beiden Großkirchen organisierte christlich-fundamentalistische, sektiererische oder antidemokratische Gruppierungen völlig. Evangelikale oder Charismatiker, Opus Dei oder Engelwerk - obwohl sie die Kriterien, die von der Kommission zugrundegelegt wurden, erfüllen, wurden sie nicht in den Katalog der untersuchten Gemeinschaften aufgenommen.

Dies ist sicherlich auch auf den Einfluß der großen Kirchen auf die großen Parteien zurückzuführen. Vor allem aber dürfte sich darin die Tradition des Umgangs mit 'Sekten' widerspiegeln, die als häretische Abspaltungen oder später, als sich außereuropäische Religionen etablierten, als illegitime Konkurrenten der katholischen und evangelischen Kirche angesehen wurden. Diese Perspektive sollte von der Kommission aufgehoben werden.

Im Vorwort des knapp 500-seitigen Abschlußberichts bekennt sich die Vorsitzende Ortrun Schätzle (CDU) ausdrücklich zur Religionsfreiheit des Einzelnen und zum weltanschaulichen Pluralismus; auf eine inhaltliche Bewertung der religiösen und esoterischen Vereinigungen wird verzichtet, staatliches Handeln nur für den Fall eingefordert, 'wo Gesetze verletzt werden, wo gegen Grundrechte verstoßen wird, wo gar unter dem Deckmantel der Religiosität strafbare Handlungen begangen werden.' Indem jedoch kirchliche Gruppen ausgeklammert wurden, konterkarierte die Kommission die behauptete Unparteilichkeit und beschädigte ihre Glaubwürdigkeit nachhaltig.

Problematisch ist aber auch der weitgehende Verzicht auf eine Kritik der religiösen Inhalte. Denn die Religion dient nicht nur als Deckmantel für unsaubere Geschäfte und individuelle Ausbeutung, sie untergräbt mit ihren ideologischen Aussagen auch zwei wichtige Pfeiler der Demokratie: Rationalität und Gleichheit der Menschen. Die Vermittlung antidemokratischer Einstellungen wird vom Abschlußbericht aber nur unzureichend problematisiert. Auch dies kommt nicht von ungefähr. Denn eine solche Kritik hätte nicht nur die 'Sekten' und Psychogruppen sowie die Gemeinschaften im Schatten des Kreuzes getroffen, sondern unweigerlich eine Debatte über die Rolle der Kirche im demokratischen Gemeinwesen vom Zaun gebrochen. Ein (ziemlich großer) Teil der Kommission hatte daran kein Interesse, einige Teilnehmer dürften von der Tendenz her in solchen Einstellungen ohnehin nur ein nebensächliches Problem gesehen haben.

Und damit wäre das Dilemma einer … Position zur 'Sekten'-Problematik umrissen. Die umfassende Religionsfreiheit und die Trennung von Staat und Kirche sind Ergebnisse der Aufklärung. Sie gewährleisten kleinen Religionsgemeinschaften die Möglichkeit, ihrem Kult nachzugehen, und schützen sie vor Diskriminierung. Die Privilegierung der beiden Amtskirchen ist ein Verstoß gegen das Prinzip der Gleichberechtigung und deshalb zu Recht im Visier der Kritik.

Eine ganze Reihe der kleinen Religionsgemeinschaften lehnt jedoch noch viel entschiedener als die beiden Amtskirchen Errungenschaften und Denkweise der Aufklärung ab. Eine Ausweitung der Privilegien würde somit zwar dem Gleichheitsgedanken Rechnung tragen, zugleich aber die religiösen Aufklärungsgegner stärken. Eine Abschaffung der kirchlichen Privilegien … ginge zwar mit den Prinzipien der Aufklärung konform - doch dafür gibt es derzeit in der Bundesrepublik keine Mehrheit.

Wie also läßt sich eine an grundsätzlichen Fragen orientierte Religionskritik mit einer am politisch Machbaren ausgerichteten Kirchenkritik in Einklang bringen? In welcher Form und in welchem Rahmen kann eine Kritik an den religiösen Vorstellungen der 'Sekten' stattfinden, die weder den kirchlichen Sektenbeauftragten in die Hände spielt noch ins Konzert der Hysterie einstimmt? Und gibt es einen Punkt, an dem religiöse Toleranz enden muß, weil sie ihre eigenen Grundlagen gefährdet?

Möglicherweise hätte eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen die Enquete-Kommission auch überfordert. Denn in einer multi-weltanschaulichen Gesellschaft ist der Staat nur eine handelnde Größe (und der Gedanke der Trennung von Staat und Kirche legt nahe, daß er sich möglichst zurückhalten sollte). Die Auseinandersetzungen werden geprägt von den Gesetzen des Marktes, von Angebot und Nachfrage, die sich wechselseitig beeinflussen. Natürlich sind sie nicht losgelöst vom gesellschaftlichen Rahmen denkbar, und die Probleme, die sowohl die religiösen Bedürfnisse als auch die Angebote zur Befriedigung aus der Perspektive der Aufklärung darstellen, sind in einem gewissen Maße von den gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgerufene Probleme.

Der Religionswissenschafter Hubert Seiwert, als Sachverständiger Mitglied der Kommission, meint dazu: 'Wenn Menschen ausgebeutet, betrogen oder manipuliert werden, dann kann und muß man dies als ein Problem ansehen, das auch der Staat nicht ignorieren sollte. Gleiches kann man mit guten Gründen auch von zerrütteten Familien, abgebrochenen Ausbildungen oder Steuerhinterziehung sagen. Allerdings werden diese bedauerlichen oder verwerflichen Erscheinungen nicht weniger bedauerlich oder weniger verwerflich, wenn sie in Zusammenhängen vorkommen, die nichts mit Sekten zu tun haben. Umgekehrt werden sie auch nicht erst dann zu einem Problem, wenn ein solcher Zusammenhang mit dem 'Sektenphänomen' zu vermuten ist.

Wenn Ausbeutung oder psychische Manipulation von der Gesellschaft als gravierende Probleme angesehen werden, die politische Gegenmaßnahmen erfordern, dann muß versucht werden, geeignete Maßnahmen gegen Ausbeutung und Manipulation zu finden. Wenn jedoch nur Maßnahmen gegen Ausbeutung und Manipulation durch 'Sekten' gefordert werden, dann handelt es sich entweder um eine ideologische Selbsttäuschung oder bewußte Irreführung, weil es offensichtlich nicht um die Bekämpfung von Ausbeutung und Manipulation, sondern um die Bekämpfung bestimmter religiöser Minderheiten geht.'

Angebote für Orientierung, 'Nestwärme' und Selbstfindung entstehen nur dort, wo Orientierungslosigkeit, soziale Kälte und die Geringschätzung des Individuums vorherrschen. Wer also 'Sekten' und Kirchen das Wasser abgraben will, muß gesellschaftliche Perspektiven aufzeigen, (säkulare) soziale Zusammenhänge stärken und dem Einzelnen das Gefühl vermitteln, daß die eigene Identität über die selbstständige, verantwortungsbewußte Gestaltung des eigenen Lebens aufgebaut wird (womit wir also wieder bei der beliebten Frage wären, was (man an) … 'Positivem' vertritt).

Mit sinkender Nachfrage wird sich das Angebot reduzieren oder die Anbieter werden zumindest an gesellschaftlichem Einfluß verlieren. Da solche Veränderungen weitreichende wären, werden sie sich wohl kaum in der laufenden Legislaturperiode umsetzen lassen. Aber wenn schon die konkreten Handlungsperspektiven fehlen, muß zumindest der Diskurs sich daran orientieren, d. h. die Sekten- bzw. Religionskritik muß unter dieser Perspektive die Kritik einer Gesellschaft sein, die sowohl religiöse Bedürfnisse als auch die sie bedienenden Gruppierungen hervorbringt.

Doch auch Seiwerts Argumentation weist eine Lücke auf. Denn selbstverständlich gestalten 'Sekten' (und in viel größerem Maße natürlich die Kirchen) die Gesellschaft mit, d. h. sie können die Entstehung religiöser Bedürfnisse beeinflussen, indem sie die sozialen Ursachen beeinflussen, indem sie die sozialen Ursachen dafür fördern. So hängen 'Ausbeutung und Manipulation' (um die beiden oben genannten Beispiele wieder aufzugreifen) bis zu einem gewissen Grad eben doch ursächlich mit Religionsgemeinschaften zusammen. Und folglich sind Aufklärungskampagnen gegen die Aktivität bestimmter 'Sekten' und Psychogruppen wichtig, müssen autoritäre Gruppenstrukturen und Denkmuster benannt und kritisiert werden.

Solange Ursache und Wirkung nicht aus dem Blick geraten oder sogar verwechselt werden, könnte sich aus diesem Ansatz eine … Position entwickeln, die sich von staatlicher oder kirchlicher Stigmatisierung ebenso abgrenzt wie vom blauäugigen Glauben an eine durch nichts begrenzte Religionsfreiheit."

Hinweis: In Heft 2/98 der gleichen Zeitschrift MIZ ist auf den Seiten 8-11 auch ein Artikel enthalten unter der Überschrift:

„Der Herr wird(s) schon richten. Die Zeugen Jehovas und die Bluttransfusion".


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