Annotationen zu den Zeugen Jehovas
Domitila Barrios de Chungara

In Deutschland wird viel regionalgeschichtlich orientierte Literatur veröffentlicht. In unzähligen Variationen finden auch die Zeugen Jehovas, die Zeit 1933-45 betreffend, darin Erwähnung.

Ist Deutschland der „Nabel der Welt"? Sicherlich ist die Aufarbeitung der Zeit 1933-45 ein wichtiges Thema. Das sei unbestritten. Sicherlich hat es in Deutschland eine „echte" Entnazifizierung nach 1945 nicht gegeben. „Ich war's nicht - Adolf Hitler war es gewesen", war eine der faktischen Thesen. Erst mit dem Generationenwechsel, fand die nachträgliche Aufarbeitung durch jene statt, die die Nazizeit nicht mehr persönlich miterlebten.

Wie sagte doch neulich im InfoLink-Forum einer, bezugnehmend auf die seinerzeitige DDR, dass dort bei den Zeugen Jehovas-Versammlungen, plötzlich die aus dem Westen importierten „Nadelstreifenchristen" das sagen hatten, während die, die wirkliche Leiden in der DDR zu erleiden hatten, aufs Abstellgleis geschoben wurden. Dort werden sie nur wieder hervorgeholt, wenn sich ihre individuelle Biographie dazu eignet, den unbedarften Außenstehenden Tränen in die Augen zu locken, wegen der Leiden die sie erleiden mussten.

Die Nadelstreifenchristen im fernen Brooklyn und im näheren Selters hingegen, legen sich über ihren Mitanteil an diesen Leiden keinerlei Rechenschaft ab. Getreu dem Motto:

„Wir waren es nicht - die Stasi war es gewesen!"

Man könnte noch einiges in dieser Richtung hinzufügen. Aber ich fragte ja eingangs, ob Deutschland der „Nabel der Welt" sei und verwandte auch einen südamerikanisch klingenden Namen als Überschrift. In der Tat, die Zeugen Jehovas sind eine globale Erscheinung. Als die Kirchen, die heutzutage sukzessive schwächer werden, noch d i e dominierenden Kräfte waren, da konnte man eine Erfahrung registrieren. In einigen Ländern traten sie als Missionare auf und es folgten ihnen die Kolonisatoren.

Es gab für diese Epoche den geflügelten Spruch:

„Früher hatten wir das Land und ihr die Bibel. Jetzt haben wir die Bibel und ihr das Land!"

Jene Neokolonisatoren haben sich inzwischen gewandelt. Sie heißen heute nicht mehr unbedingt Kirche - dafür aber in vielen Fällen um so mehr, Zeugen Jehovas!

Deutschland ist immer noch ein reiches Land. Hier mag man das nicht so empfinden. Anderswo, wo es um die nackte Existenz noch geht, hat man dafür ein weit ausgeprägteres Gespür.

1978 erschien ein von Moema Viezzer herausgegebenes Buch mit dem Titel: „Wenn man mir erlaubt zu sprechen … Zeugnis von Domitila einer Frau aus den Minen Boliviens". Domitila berichtet dort über die allgemeinen Lebensumstände der Menschengruppe, denen sie zugehörig ist. Charakteristisch dafür ihre Aussage:

„Knapp 35 Jahre ist die durchschnittliche Lebenserwartung des Minenarbeiters. Dann ist er also schon vollkommen krank, hat die Minenkrankheit. Dann lässt man soviel Explosionsstoff hochgehen, um das Erz herauszuholen; dann kommen diese Partikel durch die Atemwege, den Mund und die Nase in die Lungen, und sie zerfressen und zerstückeln die Lunge und die Arbeiter beginnen, Blut zu spucken. Schwarz, blaurot wird ihr Mund. Und am Schluss brechen sie Stücke Lunge aus, dann sterben sie schon.

Das ist die Berufskrankheit der Mine, die Silikose. Und die Mineros haben auch noch dieses Pech: Wenn man bedenkt, dass sie die Wirtschaft des Landes mit ihrem Schweiß und ihrem Blut tragen, so ist es traurig, dass sie auf lange Sicht nur erreichen, dass alle sie verachten, denn man hat Angst vor uns und glaubt, unsere Krankheit sei ansteckend, obwohl das nicht stimmt."

Dies wäre die Beschreibung der dortigen Umweltbedingungen. Man könnte sie noch um den Faktor Einschätzung der politischen Rahmenbedingungen ergänzen. In einer 1987 veröffentlichten Süd- und Mittelamerika-Reportage von Jürgen Scheich "Gorillas, Gringos, Guerrillieros" findet man ähnliche Sätze; etwa in dem "Teufelsmetall" überschriebenen Abschnitt. Dort liest man beispielsweise (S. 136):

"Die mineros Boliviens sind abergläubische Leute. Vielleicht ist daran ihre indianische Herkunft schuld. ... Teufelsmetall, sagen sie zum Zinn. Und wenn dessen Preis fällt, so vermutet man in Minerokreisen, holten die Vereinigten Staaten wiedr einmal aus ihren strategischen Reserven Zinn auf den Weltmarkt. Mehr als einmal manöverierten sie damit das Land in Schwierigkeiten, genau immer dann, wenn sich eine Regierung in La Paz anschickte, das Los der Bergleute zu ändern."

Menschen leben nicht nur von Brot allein. Sie leben auch davon, dass sie soziale Wesen sind und auch den Austausch mit anderen suchen. Und gerade in solchen Regionen ist es die Religion in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen, die für die Menschen diese soziale Funktion wahrnimmt.

Domitila hatte nun das „Glück" oder vielleicht sollte man doch lieber sagen das Pech, dass sie in ihrem Fall diese Sozialisation durch die Zeugen Jehovas vorfand. Sie beschreibt das mit den Worten:

„Nach dem ich nach Siglo XX kam, widmete ich mich fast fünf Jahre dem Studium der Bibel bei den Zeugen Jehovas, zu denen ich durch meinen Vater gehörte. Ich nahm an ihren Versammlungen teil, ich praktizierte vieles von dem, was sie mir sagten. Aber später bin ich ausgetreten, besonders, als ich in das Hausfrauenkomitee eingetreten bin, weil ich andere Sachen entdeckte, die für mich nun mal wichtig waren und die sie nicht akzeptieren wollten.

In das Komitee bin ich aus Notwendigkeit eingetreten, um mit den anderen Frauen an der Seite unserer Genossen zu sein in ihrem Kampf für unsere Lebensbedingungen. Da sagten mir die Zeugen Jehovas, ich dürfe mich nicht damit abgeben, dass Satan darin wäre, dass in der Religion diese Sachen, die reine Politik seien, nicht erlaubt seien. Aber gut, ich blieb im Komitee.

Zuletzt ließen sie mich rufen und sagten, sie würden mich bestrafen, sie würden mich einem Jahr der Reflexion (Bewährung) unterwerfen. Ich hätte jeden Versammlungstag zu dem Treffen der Sekte zu gehen, und niemand dürfe ein Wort für die Dauer eines Jahres mit mir sprechen. Und wenn ich in einem Jahr nicht mit dem aufhörte, was sie mir verboten, dann würden sie mich aus ihrer Gemeinschaft ausstoßen. Sie sagten, ich würde schlechte Sachen tun, indem ich Mitglied im Komitee wäre.

Ich antwortete ihnen: Erstens hat Gott gesagt, wir dürften niemandem richten. Und wer sind Sie, mich in dieser Form zu richten? Und außerdem beurteilen Sie die Sache von ihrer Sicht aus und sie kümmern sich nur um die kleine Gruppe, die die Versammlungen besucht. Deswegen werden Sie sich nicht der Situation bewusst, in der der größte Teil des Volkes lebt. Das interessiert sie nicht, nicht wahr?

All das sagte ich ihnen. Und ich sprach weiter: Nehmen wir zum Beispiel an, eine Witwe hat allzu viele Kinder und das jemand ihr sagt, sie solle um ihre Kinder zu ernähren, lügen und er gibt ihr ein Stück Brot. Also lügt sie und verdient ein Stück Brot für ihre Kinder. Sagen wir, später müsste sie stehlen, weil sie nichts hätte um es den Kleinen zu geben. Nehmen wir weiter an, dass später eins der Kinder krank geworden ist, und sie brauchte so dringend Geld, dass sie es auf sich genommen hat, sich zu prostituieren um das Leben ihrer Kinder zu retten.

Nun also im anderen Leben wird diese Witwe - nach ihnen werden die Prostituierten, die Lügnerinnen, die ich weiß nicht was alles, Gott, den Herrn nicht kennenlernen - diese Witwe wird das Angesicht Gottes nicht sehen, wird nicht in das Paradies kommen können? Das kann ich nicht glauben.

Außerdem sind die Zeugen Jehovas in Siglo XX -Llallagua meistens Reiche, sie leiden kein Elend wie wir. Ich weiß nicht, wie es in anderen Ländern ist, aber hier ist es so.

Dann sagte Bruder Alba, der damals der Reichste in Llaallagua war er lebt glücklich und zufrieden in diesem Leben, weil er keine Not leidet und weil er das Wort Gottes kennt - wird er sich nicht prostituieren, wird nicht lügen, wird nichts von diesen Sachen tun. Und er wird also in das Himmelreich kommen. Und zu dieser Witwe, die soviel in diesem Leben leidet, wird Gott zum Schluss sagen: Gut, ich habe Euch gesagt, Ihr sollt diese Sachen nicht tun. Nun fahre zur Hölle. Wird das geschehen?

Und wird also der, der arm geboren ist, niemals den Segen Gottes erlangen, und der Bruder Alba sagt, ja, der wird den Segen Gottes erlangen, weil er die Bibel kennt.

Das erscheint mir nicht gerecht und auch, wenn Sie glauben, dass die geistige Hilfe das einzig wichtige ist, mir scheint es so, dass man mit der materiellen Hilfe beginnen muss. Wenn ich zum Beispiel eine Arbeit für die Witwe finde und ihr sage: Sieh mal, du arbeitest hier, komm hierher mit deinen Söhnen leben, dann kann ich ihr also später sagen: Sieh mal, in der Bibel steht geschrieben, du sollst nicht lügen, du sollst nicht stehlen, du sollst dich nicht prostituieren. Klar, dann hat sie Arbeit, dann kann sie ihre Pflicht erfüllen, weil sie ja in keiner hoffnungslosen Lage mehr ist, nicht wahr?!

Dann antworteten sie mir, jetzt hätte ich mich vollkommen in ein Kind Satans verwandelt und dass sie nicht mit dem einverstanden seien, was ich sagte. Und ich sagte ihnen, ich ginge. Und ich ging. Später habe ich nach und nach gemerkt, dass diese Gruppe eine mehr im Dienste des Imperialismus war. Denn sie sagten, wir sollen uns nicht mit Politik beschäftigen.

Aber ohne Zweifel, dort im Tempel machten sie die ganze Zeit Politik, durch die Art, wie sie die Fragen behandelten. Außerdem gaben sie uns einige Broschüren, und in einer von denen war geschrieben: „Freiheit der Religion", aber da waren einige Stiefel, die auf einige Religionen traten, und es war geschrieben: „Kommunismus, Marxismus." Und in einer anderen Broschüre war Marx gezeichnet - ich kannte Marx damals noch nicht, ich lernte ihn erst später kennen - wie eine Krake, der die Welt umarmt und den man töten müsste.

So, nicht wahr? Ich musste also wählen: Entweder im Hausfrauenkomitee zu arbeiten um an der Seite der Arbeiter zu kämpfen, oder ich blieb bei den Zeugen Jehovas, wohnte ihren Gottesdiensten bei ohne mich mit den Sachen zu beschäftigen, die sie Satans Werk nannten.

Nun für mich war es wichtig, eine Entscheidung zu treffen. Es gab andere Religionen in Siglo XX, besonders die katholische. Aber ich gab mich auch nicht mit Leuten dieser Gruppe ab, weil damals die Christen, besonders die Priester und Nonnen, sehr gegen uns waren. Sie hatten einen Auftrag, den ihnen der Papst Pius XII. gegeben hatte, den Kommunismus zu bekämpfen, und deswegen machten sie uns viele Schwierigkeiten und verstanden uns nicht, und oft verteidigten sie unsere Unterdrücker.

Das geschah oft in Bolivien: dass die Religion sich in den Dienst der Mächtigen stellte, indem sie ihren Gesichtspunkten Gehör schenkte. Und die, die sagen, sie folge der Lehre Christi, die sind meistens für die Unterdrücker, sie wachen mehr über deren Sicherheit, um genug Geld für all das zu haben. Und deswegen stellen sie die Religion einfach in den Dienst der Kapitalisten.

Und bis heute gibt es nur wenige Repräsentanten der Kirche, die verstehen, was wirklich in Bolivien vor sich geht. Und auch, wenn sie sich sogar der Ungerechtigkeiten bewusst werden, ziehen sie es vor zu schweigen, wegen ihrer persönlichen Sicherheit.

Deswegen zählt die Kirche bei den Mineros fast nichts, obwohl in den letzten Jahren verschiedene Priester, Nonnen und sogar Bischöfe sich geändert haben und mit den Unterdrückten sind, und unter diesen gibt es einige, die auf unserer Seite geprügelt, deportiert wurden, ins Gefängnis kamen und verhört wurden. Aber das Bild der beherrschenden Kirche, die ihre Hände dem kapitalistischen Unterdrücker leiht, ist noch sehr lebendig.

Meines Erachtens ist der vorstehend wiedergebende Fall auch ein Fall, der es verdient beachtet zu werden, bei der Würdigung der Aspekte die im Zusammenhang mit dem Antrag der Zeugen Jehovas stehen, „Körperschaft des öffentlichen Rechtes" werden zu wollen.

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