Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Die "Aufrollung" erfolgte von oben nach unten

Fallbeispiel Frieda Christiansen

Ich möchte mal auf ein Gerücht zu sprechen kommen. Gerüchte sind bekanntlich nicht Dokumentenmäßig belegt. Diese Einschränkung sei durchaus gemacht. Dennoch enthalten Gerüchte manchmal einen Wahrheitskern. Es wäre Aufgabe jener, denen dieses Gerücht nicht passt, ihrerseits Dokumentenmäßig das Gegenteil zu beweisen. Das erst mal als Vorrede.

Zweite Vorbemerkung. Mittlerweile in der Nach-Garbe-Zeit, ist ja die deutsche ZJ-Geschichte im Naziregime in beachtlichem Umfange erforscht. (Jedenfalls erheblich mehr als davor). Dennoch gibt es auf der diesbezüglichen "Landkarte" immer noch einige besonders ins Auge fallende "weiße Flecken".

Drei Namen seien da jetzt mal besonders genannt.

Einmal der Fritz Winkler. Durch sein "Singen" in den Gestapovernehmungen setzte ein Dominoeffekt ein. Insbesondere was aus Winkler dann wurde, nachdem er als "Zitrone" von der Gestapo ausgequetscht wurde. Darüber herrscht weitgehende Unklarheit. Laut Roser soll er jedenfalls die Nazizeit überlebt haben. Gibt es über ihn in der Nach-Nazizeit absolut nichts mehr zu sagen???

Zweiter Name Heinrich Ditschi (oder andere Schreibweise: Dietschi).

Das war der Mann, nachdem der zweite deutsche Reichsdiener der Untergrund-Organisation in Hitlerdeutschland. Das war bekanntlich der Herr Erich Frost. Ditschi war also jener Mann, der den verwaisten Posten von Frost tatkräftig übernahm. Zu seinen Aktiva zählt beispielsweise die zweite Flugblattverteilung der deutschen Zeugen Jehovas ("Offener Brief an das Christus- und Gott liebende deutsche Volk"). Dazu war ja Organisation nötig. Und die wiederum stellte Ditschi mit auf die Beine.

Indes aus WTG-Mund erfährt man heutzutage über Ditschi fast nichts. Diese Einsilbigkeit erklärt sich wohl aus dem Umstand, dass auch Ditschi in den Jahren nach 1945 noch die "WTG-Fahne" verließ.

Und nun kommt das angekündigte Gerücht. Dieses Gerücht besagt, das verlassen der "WTG-Fahne" nach 1945 trifft auch noch auf eine andere Person zu, die von Ditschi in ihr Dienstamt eingesetzt wurde.

Die Rede ist von der 1897 geborenem Frieda Christiansen.

In Stichpunkten. Die deutsche Untergrundorganisation der Zeugen im Naziregime war in Bezirke aufgeteilt. Da gab es unter anderem auch einen, der für Schleswig-Holstein zuständig war. Seine erster "Bezirksdiener" der 1880 geborene Alfred Zimmer. Der wurde nun am 7. 5. 1935 verhaftet. Gemäss Elke Imberger wurde sein vakanter Posten, ohne Zeitverzug neu besetzt. Die Personalien dieses Nachfolger Zimmer's sollen allerdings noch heute nicht bekannt sein. So gesehen hatte er "Glück" und entging (vielleicht) den Gestapo-Häschern.

Die Zeugen-Organisation ihrerseits löste nach etwa einem Jahr diesen Nachfolger des Zimmer von seinem Posten ab. Aus Gründen der vorbeugenden Konspiration, wie Elke Imberger unterstellt.

Mitte April 1936 übernahm dann der 1900 geborene Georg Baer diesen Posten. Baer wurde aber bereits schon am 24. 8. 1936 verhaftet.

Offenbar war es nun die Aufgabe des schon genannten Ditschi (der zu der Zeit noch in Freiheit war), diese neu entstandene Vakanz zu füllen. Dabei konnte er nicht mehr in ausreichendem Umfange auf männliche Kandidaten zurückgreifen. Jedenfalls setzte Ditschi nun die Frieda Christiansen für diesen Posten ein. Gemäß Imberger vernimmt man über die Vita der Letztgenannten:

"Mitte März besuchte Heinrich Dietschi sie in ihrer Flensburger Wohnung und bestimmte sie zur neuen Bezirksdienerin für Schleswig-Holstein ... Frieda C(hristiansen 1897 geboren und ledig, war bereits für den Flensburger Dienstleiter, den die Polizei Ende 1936 festgenommen hatte, 'in die Bresche gesprungen' und hatte die Leitung der dortigen IBV-Ortsgruppe übernommen. Sie verfügte also über Erfahrungen in der illegalen Arbeit der Zeugen Jehovas, und ihre familiäre Ungebundenheit war sicherlich ein weiterer Vorteil für die reisende und damit besonders riskante Bezirksdienertätigkeit. Die nationalsozialistische Verfolgung hatte Frieda C. schon empfindlich am eigenen Leibe gespürt:

Wegen Flugblattverteilung hatte ein Sondergerichtsprozeß gegen sie stattgefunden, indem sie zwar am 20.2.1937 freigesprochen worden war, doch ihre wirtschaftliche Situation gestaltete sich seitdem äußerst dürftig. Sie erhielt keine öffentliche Unterstützung mehr und wurde von Glaubensschwestern unterhalten. Ihr religiöser Glaube und ihr Widerstandswille waren indes ungebrochen, sie übernahm sogleich die ihr von Heinrich Dietschi zugewiesene Position.

Damit begann für sie ein Leben im Untergrund. Weil sie in Flensburg als Bibelforscherin zu bekannt war, gab sie auf Heinrich Dietschis Rat hin ihre bisherige Wohnung auf, stellte ihre Möbel bei einer Glaubensschwester am Ort unter, meldete sich in Flensburg als auf Reisen befindlich ab und nahm sich in Hamburg eine Wohnung unter ihrem Decknamen 'Hermine F...'. Diesen Tarnnamen hatte sie selbst angenommen, er wurde von Dietschi gebilligt, so daß sie ihn auch bei ihren Aktivitäten als Bezirksdienerin verwendete. Über die Tarnung ihrer leitenden Tätigkeit gab Frieda C. später zu Polizeiprotokoll:

'Da ich wiederholt in Flensburg mit der Gestapo zu tun hatte und dort bekannt war, entschloss ich mich ..., mein äusseres Aussehen zu ändern, damit ich durch die Polizei nicht erkannt würde. Ich liess mir einen Bubikopf schneiden und das Haar dunkel färben.

Durch meine illegale Tätigkeit für die IBV. musste ich jeden Tag mit einer Festnahme rechnen. Um ganz sicher zu gehen, habe ich meine Wohnung [in Hamburg, E.L] auch allen Glaubensgeschwistern gegenüber geheim gehalten. Meiner Wirtin habe ich erzählt, dass ich aus Verden/Aller stamme und mit pharmazeutischen Mitteln reise. Polizeilich war ich in Hamburg nicht gemeldet und kannte mich ... meine Wirtin nur als Hermine F...'."

Weiter liest man über sie insbesondere im Zusammenhang mit der zweiten Flugblattaktion:

"Einige Tage vor dem 20.6.1937 übergab Heinrich Dietschi der schleswig-holsteinischen Bezirksdienerin einen grauen Reisekoffer, der 10 Packen Flugblätter enthielt, die jeweils aus mehr als 100 mit Bindfaden zusammengeschnürten Exemplaren des 'Offenen Briefs' bestanden. Aus Sicherheitsgründen verwahrte Frieda C. den Koffer nicht in ihrer Wohnung, sondern lagerte ihn bei der Gepäckaufbewahrung auf dem Hamburger Hauptbahnhof. Zur Weiterbeförderung der Flugblätter an die Gruppendiener ihres Bezirks löste sie den Koffer ein, entnahm ihm die erforderliche Anzahl 'Offener Briefe' und gab ihn wieder bei der Gepäckaufbewahrung auf. Die entnommene Menge an Flugblättern verpackte sie in ihrem Stadtkoffer und überbrachte es dem jeweiligen Gruppendiener."

Trotz all ihrer konspirativen Vorsicht, erwischte es aber auch sie. Davon kündet der Umstand, dass Elke Imberger aus den vom 17. und 20. 9. 1937 datierten, umfänglichen Gestapo-Protokollen zitieren kann.

G. etwa notiert dazu:

"Am 13. September um 9.00 Uhr morgens nahmen in Hamburg Gestapo-Beamte die Bezirksdienerin Frieda Christiansen in Empfang, als diese zu einem mit Wandres verabredeten Treffen norddeutscher Gruppendiener erschien. ... Frieda Christiansen wurde am 18.2.1938 ... ebenfalls zu vier Jahren Gefängnis verurteilt."

Und bei Imberger liest man als Detail noch:

"Zum Verhängnis wurde für Frieda Christiansen, dass vor ihr schon Ditschi verhaftet wurde.

Dazu Imberger:

„Alle Sicherheitsmaßnahmen kamen indes zu spät: 'Auf Grund der Aussagen des Reichsdieners Dietschi', wie es in einem Aktenvermerk der Kieler Gestapo heißt, 'konnten sämtliche 9 Bezirksdiener ermittelt und festgenommen werden'. Damit setzte die reichsweite Zerschlagung der Sektenorganisation ein. Als die schleswig-holsteinische Bezirksdienerin Frieda C. am 12. September 1937 nach Hamburg fuhr, wo sie sich auf dem Hauptbahnhof mit den Gruppendienern von Flensburg und Lübeck treffen wollte, um ihnen ihre Stellvertreterin vorzustellen, wurde Frieda C. festgenommen. Sie verweigerte, wie es in dem erwähnten Aktenvermerk der Kieler Gestapo heißt, 'zunächst hartnäckig jegliche Aussage' und 'erst nach tagelangem Leugnen' legte sie am 17.September ein umfassendes Geständnis über ihre illegale Tätigkeit ab, in dem sie auch die Namen der schleswig-holsteinischen Gruppendiener und anderer in Schleswig-Holstein führend tätiger Glaubensgeschwister nannte. Das Referat II B l der Staatspolizeistelle Kiel ermittelte noch 2 Wochen und ging dann am 4. Oktober schlagartig und gezielt gegen die Sektenorganisation in Schleswig-Holstein vor."

Nach Imberger erfolgte die „Aufrollung" der Zeugen Jehovas-Organisation in Schlesweg-Holstein „von oben nach unten". Bis ins Jahr 1938 soll sich das hingezogen haben.

„Auch 1938 wurden noch bis in den April hinein Bibelforscher verhaftet 396, dann war die illegale Sekte in Schleswig-Holstein aufgerollt. Insgesamt hatte man hier mindestens 267 Zeugen Jehovas festgenommen."

Zum Fall Christiansen heißt es noch, dass sie erst fünf Tage nach ihrer Festnahme zu Aussagen gebracht werden konnte.

„Häufig verweigerten Zeugen Jehovas beim ersten Verhör die Aussage, gaben dann aber bei weiteren Vernehmungen detaillierte und umfassende Angaben zu Protokoll".

Wie die Gestapo dabei vorging um die Aussagen zu erpressen. Darüber dürften wohl kaum Zweifel möglich sein. Indes ausschlaggebend für letztere war eben das Endergebis dieser Tortouren.

Das für die Gestapo entscheidende Ergebnis war erreicht. Die Zeugen Jehovas waren in ihrer organisierten Form in Schleswig-Holstein zerschlagen worden. Sie erholten sich im Gegensatz zu Süddeutschen und Westdeutschen Gegenden, dort auch nicht mehr im zweiten Weltkrieg von diesem organisatorischen Zusammenbruch. Erst nach 1945 ging es auch dort wieder für die Zeugen aufwärts.

Elke Imberger hat nun besonders aus den während der Nazizeit auch über Frau Christiansen angelegten Akten zitiert. Das Schicksal letzterer nach 1945 interessierte sie offenbar nicht mehr. Indes auffällig ist auch der Umstand, dass von Seiten der WTG bis heute, keinerlei Details zum Fall Christiansen veröffentlicht wurden. Auch G. gibt sich mit einer Kurznotiz zufrieden. Hätte Elke Imberger nicht aufgrund ihres Aktenstudiums und anschließender Detailveröffentlichung, dazu weiteres mitgeteilt, wäre dieses Dunkel ohne Zweifel, noch heute größer.

Zu Imberger verdient auch der Umstand noch erwähnt zu werden, dass sie offenbar zu keiner der WTG-"Standhaft"-Veranstaltungen als Referent eingeladen wurde. Jedenfalls liegen keinerlei Berichte in der Richtung vor. Auch für die "Standhaft.org"-Webseite und einschlägiges andere, ist Christiansen nie ein "Thema" geworden. So kann es also selbst einer WTG-Bezirksdienerin in schwieriger Zeit ergehen. Der Mohr hatte seine Schuldigkeit getan. Der Mohr wird heute von der WTG mit Vergessen bestraft.

Und damit wären wir an dem Punkt angelangt, dass Teile der Biographie dieser Frau Frieda Christiansen, eben immer noch als "weißer Fleck" bezeichnet werden müssen.

Hitlerzeit

Der Fall HansMueller

Ein fulminanter Gestapo-Sieg. Der Fall Peter Laakmann

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