Annotationen zu den Zeugen Jehovas

"Die Harfe Gottes"
"Christliche Verantwortung" (Gera) Nr. 46, Januar 1973 S. 4-6.
Identisch mit: "Gespräche und Kommentare der Studiengruppe Christliche Verantwortung" (Berlin) Nr. 8 (1972)


Im Jahre 1922 (genau ab 1. 12. 1921) begann die Wachtturmgesellschaft mit der massenhaften Verbreitung ihres von J. F. Rutherford verfassten Buches "Die Harfe Gottes". Ein Buch, das gemäß WT-eigenen Angaben "die erste Abweichung von den sieben Bänden der Schriftstudien" darstellte.

Der Untertitel jener Veröffentlichung lautete: "überzeugender Beweis, dass Millionen jetzt Lebender niemals sterben werden", womit Rutherford an seinem Ende des Ersten Weltkrieges begonnenen (und auf 1925 orientierenden) gleichnamigen Predigtfeldzuges (Broschüre) anknüpfte. Noch Jahre danach konnte man in späteren WTG-Publikationen lesen:

"Die Harfe Gottes ist seid Jahren in vielen Millionen Exemplaren auf der ganzen Erde verbreitet und wird als das führende Buch auf religiösem Gebiet betrachtet." Als Erklärung, weshalb es veröffentlicht wurde, hieß es im Vorwort: "Jehova entwarf einen großen Plan vor Grundlegung der Welt, aber niemand wusste davon."

Eine seiner Haupttendenzen stellt der krampfhafte Versuch dar, unbedingt die Bibel als Orakelbuch für die Erklärung des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts zu benutzen.

Schon auf Seite 18 der "Harfe Gottes" kann man einen Eindruck davon gewinnen, wenn es dort heißt:

Vermeintliche Prophezeiungen

"Illustrationen dieses Punktes (Begebenheiten der Zukunft in der Bibel vorausgesagt) sind die drahtlose Telegraphie und Luftschiffe als Erfindungen neuerer Zeit und doch finden wir heute, wo sie entdeckt sind, dass Gott durch seine heiligen Propheten vor vielen Jahrhunderten schon die Benutzung solcher Erfindungen voraussagte. (Hiob 38:35, Jesaja 60:8)

Eisenbahnzüge sind weniger als hundert Jahre bekannt, und doch gab der Prophet Gottes vor vielen Jahrhunderten eine klare, eingehende Beschreibung des Eisenbahnzuges und der Art seines Betriebes und weissagte, dass solche Züge allgemein zur Zeit des Endes benützt würden, zu der Zeit, wo der Herr Vorbereitungen zur Einsetzung seines Königreiches trifft. (Nahum 2:3-6)

Ebenso gab der Herr die Prophezeiung, dass es um diese Zeit ein großes Hin-und-Herrennen geben würde, bezugnehmend auf allgemeines Fortbewegen mit Transportmitteln verschiedener Arten, Automobile, elektrische Kraftwagen usw. (Daniel 12:4, engl. Übers.)"

Rutherford glaubte, mittels solcher "Beweisführung" seinen Lesern einreden zu können, dass dies alles wichtige Zeichen der Zeit des Endes seien. So führt er auf Seite 235 aus:

"Im Jahre 1831 wurde die erste Lokomotive erfunden. Solch wunderbarer Fortschritt ist seitdem in jeder Beziehung gemacht worden … Gottes Prophet bezeichnet diese Zeit als den 'Tag des Rüstens Gottes'. In Nahum 2:1-6 beschreibt der Prophet eine Vision eines Eisenbahnzuges in schneller Fahrt als ein anderes Anzeichen der Vorbereitung für die Einsetzung von Christi Königreich.

Im Jahre 1844 wurde der Telegraph erfunden und später das Telefon. Die große Mehrung von Wissen und Erkenntnis und das gewaltige Hinundherlaufen der Menschen auf verschiedenen Teilen der Erde ist ohne Frage eine Erfüllung der Prophezeiung, die über die Zeit des Endes Zeugnis gibt. Diese physischen Tatsachen können nicht bestritten werden und sind genügend, jeden vernünftig denkenden Menschen davon zu überzeugen, das wir seit 1799 in der Zeit des Endes leben."

Da das Jahr 1799 als Endzeitbeginn mittlerweile schon ziemlich weit zurücklag, meinte Rutherford, den modifizieren zu können, indem er 1874 als Beginn des letzten Teiles der Zeit des Endes proklamiert. Dazu liest man auf Seite 236 der "Harfe Gottes':

Entdeckungen als "Endzeitbeweis"

"Mit dem Jahre 184 beginnt der letzte Teil der Zeit des Endes . . . Von diesem Zeitpunkt an hat es eine wunderbare Zunahme an Licht und Erkenntnis gegeben, und die seitdem gemachten Erfindungen und Entdeckungen sind zu zahlreich um sie hier alle aufzählen zu können. Doch einige derer, die seit 1874 ans Licht gekommen sind als weiterer Beweis der Gegenwart des Herrn seit jener Zeit seien genannt wie folgt:

Additionsmaschinen, Aluminium, antiseptische Chirurgie, automatische Bahnkupplung, automatische Pflüge, Automobile, bewegliche Bilder, drahtlose Telegraphie, Erforschung des dunklen Afrika, Dynamit, Eisenbahnsignale, elektrische Eisenbahnen, elektrische Schweißmethoden, Erntemaschinen, Eskalatoren, feuerlose Kochapparate, Gasmaschinen, große Erkenntnis über den göttlichen Plan der Zeitalter, Induktions-Motoren, Korrespondenz-Schulen, künstliche Farben, Leuchtgas, Luftschiffe, Panama-Kanal, Pasteursche Schutzimpfung, Radium, Rahm-Separatoren, rauchloses Pulver, riesenhohe Geschäftsgebäude, Röntgen-Strahlen, Schreibmaschine, spezielle Eisenfabriken, Streichholzmaschine, Südpol, Telefon, Untergrundbahn, Unterseeboote, VakuumTeppichreiniger, Zelluloid, Zweiräder usw., usw."

Baldige "Fürstenherrschaft"

Offensichtlich waren jedoch etliche seiner "Bibelforscher" mit solchen allgemein gehaltenen Erklärungen nicht einverstanden Sie wollten Genaueres wissen, wie es die gereizten Worte Rutherfords auf Seite 252 andeuten:

"Weshalb jetzt in spitzfindiger Art über Daten, Tage oder Stunden debattieren? Die wahrnehmbaren Tatsachen, die in Erfüllung gegangene Prophezeiung und die in Erfüllung begriffene Prophezeiung liefern einen überwältigenden, über den Schatten jedes Zweifels hinausgehenden Beweis, dass der Herr gegenwärtig ist, dass die Welt zu Ende und dass das Königreich des Himmels nahe ist".

Angesichts der auf 1799 und 1874 datierten "Endzeit" sah sich Rutherford zum Schluss doch noch genötigt, die Erfüllung der damit verbundenen Erwartungen auf die "nächsten paar Jahre" zu datieren, wie dies auf den Seiten 340 und 341 deutlich wird:

"Weil Abraham, Isaak, Jakob und andere glaubenstreue Propheten, die von dem Apostel Paulus im Hebräerbriefe, Kapitel 11, beschrieben sind, die Verheißung einer besseren Auferstehung erhalten haben, und auf Grund des Zeugnisses des Propheten Fürsten oder Herrschers auf der ganzen Erde sein werden (Psalm 45:16), so steht zu erwarten, dass sie die ersten sind, die unter den Bestimmungen des neuen Bundes aus den Toten auferweckt werden.

Es ist deshalb vernünftigerweise zu erwarten, dass sie wieder auf der Erde sein werden, sobald die Wiederherstellungssegnungen beginnen. Somit mag zu erwarten sein, dass diese glaubenstreuen Überwinder des alten Bundes in den nächsten paar Jahren wieder auf der Erde erscheinen werden. Sie werden die gesetzlichen Vertreter des Christus auf Erden sein. Sie werden die sichtbaren Vertreter des Königreiches der Himmel sein. Sie sind diejenigen, welche die Angelegenheiten der Erde unter der Leitung des Herrn verwalten werden."

Nach fünfzig Jahren

Inzwischen sind seit der Erstveröffentlichung der "Harfe Gottes" mehr als 50 Jahre vergangen, und die tatsächliche Entwicklung hat diese Behauptungen und Thesen auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Dennoch macht dieser Rückblick deutlich, wohin die Versuche, die Bibel als Orakelbuch zu strapazieren, hinführen können. Nämlich zur völligen Unglaubwürdigkeit jener, die meinen, mit solchen Hypothesen arbeiten zu müssen.

Es wird deutlich, dass die WTG jener Tage offensichtlich geistig überfordert war, dass sie einen krampfhaften göttlichen Nimbus am untauglichen Objekt aufzubauen versuchte. Hier offenbart sich eine Geisteshaltung, die die tatsächlichen gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten nicht versteht, und deshalb die Flucht in vermeintliche Prophezeiungen antritt.

Zu beachten wäre noch, dass die Enttäuschungen der Jahre 1914 und 1918 noch keineswegs vernarbt waren. Aus dieser Sicht wird deutlich, dass die unangenehmen Erfahrungen jener Jahre nicht geistig verarbeitet, sondern nur verdrängt wurden, was unweigerlich zu neuen Enttäuschungen führen musste. Eine Feststellung, die auch für die Gegenwart noch ihre aktuelle Berechtigung hat.

Notwendiger Lernprozess

Das Beispiel der "Harfe Gottes" könnte mit veranschaulichen, dass man die Bibel (als Urkunde des Christentums) in der Gegenwart nicht in dem Sinne auslegen sollte, unbedingt vermeintliche Prophezeiungen aus ihr herauszupressen. Das Erwachen aus diesem Traum wird notwendigerweise ernüchternd und hart für die Betroffenen sein. Man sollte unter Beachtung der Zeitbedingtheit ihrer Aussagen nach ihrem geistigen Sinn fragen und seine Aspekte für die Gegenwart fruchtbar machen.

Bis sich diese Erkenntnis irgendwann auch bei der WTG einmal durchgesetzt haben wird, wird sie bis dahin noch etliche Ernüchterungen und Enttäuschungen für die Anhängerschaft parat haben. Denn, wem nicht zu raten ist - dem ist bekanntlich auch nicht zu helfen.

-----------------------------

Als ergänzender Nachtrag sei vielleicht noch zitiert, wie in diesem Buch (noch in Kontinuität zu den "Schriftstudien" Band 3, das Thema des sogenannten "Nordkönigs" angegangen wurde. Bekanntlich gab es dazu, in späteren Jahren, noch etliche divergierende Auslegungen seitens der Zeugen Jehovas dazu. Damals aber meinte man noch vollmundig:

Die "Zeit des Endes" bedeutet einen besonderen Zeitabschnitt am Ende der Herrschaft der Nationen. "Und zur Zeit des Endes wird der König des Südens mit ihm zusammenstossen, und der König des Nordens wird gegen ihn anstürmen mit Wagen und mit Reitern und mit vielen Schiffen; und er wird in die Länder eindringen und wird sie überschwemmen und überfluten. Und er wird in das Land der Zierde eindringen, und viele Länder werden zu Fall kommen." — Daniel 11 ;40,41.

Die Erfüllung dieser Prophezeiung stellt den Beginn der "Zeit des Endes" fest, weil die Prophezeiung dies bestimmt erklärt. Der Feldzug des grossen Kriegers Napoleon Bonaparte ist eine klare Erfüllung dieser Prophezeiung, wie aus den historischen Ereignissen dieses Feldzuges deutlich hervorgeht. Der "König des Südens", von welchem in dieser Prophezeiung die Rede ist, deutet auf Ägypten hin; der König des Nordens bedeutet Grossbritannien, welches damals ein selbständiger Teil des römischen Reiches war. Napoleon kämpfte in Ägypten gegen die ägyptischen Heere, die von Murat Bey geführt wurden, und denen er eine Niederlage beibrachte. Sein Sieg jagte nicht nur den Ägyptern einen heillosen Schrecken ein, sondern auch den Völkerschaften bis weit in Afrika und Asien hinein, und alle umherwohnenden Stämme unterwarfen sich dem grossen Eroberer, Während Napoleon hier operierte, unternahmen die Engländer im Norden, unter der Führerschaft des Admirals Lord Nelson, einen erfolgreichen Angriff auf Napoleons Streitkräfte zur See, Napoleon begann diesen ägyptischen Feldzug im Jahre 1798, führte ihn zu Ende und kehrte am l. Oktober 1799 nach Frankreich zurück. Der Feldzug ist kurz aber anschaulich in dieser Prophezeiung Vers 40—44 beschrieben, und da dieser Feldzug 1799 zu Ende ging, so bezeichnet er, nach den eigenen Worten des Propheten, den Beginn der "Zeit des Endes".

"Die Harfe Gottes" (Ausgabe Bern S. 222f.; Ausgabe Barmen S. 200f; Ausgabe Magdeburg, S. 214f).

(Zeitschrift) Christliche Verantwortung
 Weitere Artikel Christliche Verantwortung
Zur Indexseite