Annotationen zu den Zeugen Jehovas
Ich war eine Zeugin Jehovas
Gespräche und Kommentare der Studiengruppe Christliche
Verantwortung (Berlin)
Nr. 15 (1974)
1966 veröffentlichte die
Schweizerin Josy Doyon ihr Buch "Hirten ohne Erbarmen". In romanhafter Fülle
schilderte sie darin ihren Entwicklungsweg bei den Zeugen Jehovas, der zehn Jahre ihres
Lebens in Anspruch nahm. Die Grundtendenz veranschaulicht, wie Jehovas Zeugen durch die
verantwortlichen Köpfe der "Wachtturmgesellschaft" in gnadenloser Hetzjagd für
ihre ehrgeizigen Ziele ausgebeutet werden. Charakteristisch wird das auch durch folgende
Episode veranschaulicht, die auf den WTG-Kongress Nürnberg 1955 Bezug nimmt. J. Doyon
schreibt:
"Für mich kam auch bald die
Gelegenheit, mich heftig zu schämen, weil ich mich derart gesträubt hatte, an dem
Kongress teilzunehmen. Da wurde nämlich laut verkündet, dass fünf Zeuginnen in
Nürnberg während des Kongresses ihre Babys zur Welt gebracht hätten. Diese Zeuginnen
hätten die wahre Wertschätzung für den wunderbaren Kongress 'triumphierendes
Königreich' bekundet, denn sie hätten in ihrem Zustand die Mühen einer weiten Reise
nicht gescheut". - "Hirten ohne Erbarmen" S. 91, Zürich-Stuttgart 1966
Zu solchen Auswüchsen führte also
der krampfhafte Versuch der WTG, ihre Organisation relativ kleiner Größenordnung, durch
Superkongresse ihrer Umwelt "groß und bedeutungsvoll" erscheinen zu lassen.
Solcherart massiver "Abrechnung" auch in westlichen Ländern, neben der
einschlägigen, sich besonders in der DDR publizistisch artikulierenden Kritik, konnte der
WTG natürlich nicht "völlig gleichgültig" sein, so das sich WTG-Präsident
Knorr in einem internen Brief an seine Untergebenen zu dem indirekten Eingeständnis
veranlasst sah:
Leistungsterror
"Viele unserer Kreis- und
Bezirksdiener haben die Darlegungen im 'Königreichsdienst' als Vorschriften betrachtet
und haben versucht, sie anzuwenden. So sind sie nicht nur in Vorschriften und Anordnungen
'untergegangen', sondern sie haben wahrscheinlich auch eine Anzahl Versammlungsglieder so
weit gebracht, dass sie glaubten, sie wären mit Arbeit überladen." Das genannte
Buch der Schweizerin J. Doyon lieferte für diese "theoretische" Feststellung
eine von mehreren praktischen Veranschaulichungen, die auch einen größeren
Öffentlichkeitsradius erreichen konnte.
Wenn sich N. H. Knorr durch den
amerikanischen Reporter M. Cole bescheinigen lässt: "Seine Mitarbeiter sprechen von
ihm nicht als einem Antreibertyp, sondern als von einem Mann, der Tüchtigkeit zu
schätzen weiß" (welch feiner Unterschied! - M. G.) (Cole "Jehovas
Zeugen", S. 222). Dann verdeutlicht indes J. Doyons Bericht für die Alltagspraxis,
welch raffgieriger Freizeitberaubung und Leistungsterror zum Proselytenmachen Jehovas
Zeugen durch die WTG ausgesetzt sind, dort, wo sie ungehindert wirken kann.
Wenn Historiker zu der Feststellung
gelangten, dass kleinere Religionsgemeinschaften US-amerikanischen Ursprungs, oftmals das
kapitalistische Elite und Konkurrenzdenken in besonders starkem Maße widerspiegeln, dann
sind die ZJ, über jeden Zweifel erhaben, dafür das "klassische Beispiel".
Da dicke Bücher in unserer heutigen
Zeit, bei "Otto Normalverbraucher" Gefahr laufen manchmal nicht mehr gelesen zu
werden, ist es durchaus begrüßenswert, wenn der
"Siebenstern-Taschenbuch-Verlag" (Hamburg, BRD), im Jahre 1971 eine gekürzte
zweite Auflage dieses Erlebnisberichtes als "Ich war eine Zeugin Jehovas"
vorlegte. Aus 332 wurden 155 Seiten! Als bedauerlich würde ich es jedoch bewerten, dass
auch die nachfolgenden Passagen aus "Hirten ohne Erbarmen" dem Rotstift mit zum
Opfer gefallen sind.
Illusionen
Gerade in diesen Aussagen ist ein
wesentliches Element der "Wachtturm-Religion" eingefangen; so z. B. in der
Feststellung:
"Es waren besonders ältere
Geschwister, die bereits viele Jahre für die Wachtturmgesellschaft gearbeitet und
geschwitzt hatten, die auch ihre sämtlichen früheren Freunde und Verwandte durch die
Gesellschaft verloren hatten, welche am meisten und sehnlichsten Harmagedon
herbeiwünschten. Man hatte ihnen vor vielen Jahren schon durch gewaltige Schlagzeilen
versprochen: 'Millionen heute lebender werden nie sterben'. Sie glaubten es und opferten
ihre besten Jahre dem Werk. Sie nahmen jedes Ungemach und sogar Verfolgung auf sich.
Nun wollten sie auch den versprochenen
Lohn erhalten: ein ewiges Leben ohne vorher noch ins Gras beißen zu müssen. Aber der
größte Teil dieser Betrogenen liegt längst unter der Erde. Die neu hinzugekommenen aber
werden von der Gesellschaft unentwegt mit neuen Schlagern und Schlagzeilen auf ein
schreckliches Harmagedon und ein wunderbares Leben auf der nachher folgenden
paradiesischen Erde vertröstet". - "Hirten ohne Erbarmen" S. 160.
"In der Versammlung durfte man
natürlich solche Zweifel nicht äußern. Dort wurde anhand von Demonstrationen ja auch
gezeigt, dass ein Zeuge keine Lebensversicherung abschließen solle, da das im Angesicht
Harmagedons überflüssig sei. Auch Sparbücher für die Kinder müsse man nicht anlegen,
diese würden sie ja gar nicht mehr brauchen. Überhaupt solle ein rechter Zeuge sein Geld
nicht auf die Bank legen, sondern damit die Königreichs-Interessen fördern, da ihm das
Lohn in der neuen Welt einbringe.
Es gäbe Zeugen, die tatsächlich ihre
Häuser verkauften, nur um an einem Weltkongress teilnehmen zu können. Das sei die
richtige Wertschätzung. Andere kündigten ihre Stellen, weil sie zur Zeit eines
Kongresses keine Ferien bekommen könnten. Das sei wahres Gottvertrauen. Es wurde von
Zeugen berichtet, die jede Woche viele Stunden marschierten, gefährliche Flüsse, in
denen Krokodile hausten, samt ihren Kindern durchschwammen, nur um die Versammlung
besuchen zu können.
Angesichts solcher Wertschätzung
müsse man jedoch zugeben, dass es für einen Zeugen überhaupt keinen stichhaltigen Grund
gebe, auch nur eine Versammlung zu versäumen." - Ebenda S. 161, 162.
"Von dieser Beweisführung war
ich nie vollständig zu überzeugen. Besonders am Anfang fand ich es eher lächerlich,
dass nun im Jahre 1914 alle Reiche der Welt hätten auf Jehovas Zeugen hören sollen. Wem
hätten sie wohl ihre Herrschaft so plötzlich abtreten sollen? Von Jesus war ja doch
weitherum nichts zu sehen, also hätten sie ihre Herrschaft nur der Wachtturmgesellschaft
zu Füßen legen können. Ob das gut herausgekommen wäre? Ob man dabei nicht vom Regen in
die Traufe gekommen wäre?" - Ebenda
Zeitgeschichtliches Dokument
Da die Zeugen Jehovas in der BRD (in
den siebziger Jahren) mittlerweile an die 100 000 Marke herangekommen sind, dürfte ein
solches Buch das veranschaulicht, wie diese Organisation unter Aufbietung aller physischen
und psychischen Hilfsmittel, noch mit Gewalt einen Namen im Konkurrenzkampf am
"religiösen Himmel" sich zu erringen sucht (obwohl die Zeichen der Zeit schon
längst in andere zukunftsträchtige Regionen weisen); als zeitgeschichtliches Dokument
der Knorr-Ära, ähnlich wie W. J. Schnells Buch "Dreißig Jahre Sklave des
'Wachtturms'" für die Rutherford-Ära, auch zu späteren Zeitpunkten noch seine
Bedeutung haben.
Man sollte indes von diesem
Doyon-Bericht allerdings nicht zu viel erwarten. Er ist nur eine subjektive
Erlebnisschilderung, ohne Wertung und Erkenntnis der tieferen Ursachen dieses Irrweges.
Überdies liegen solche persönlichen Erlebnisschilderungen von Zeugen Jehovas auch an
anderer Stelle reichlich vor, wenn auch nicht immer wie hier, in geschlossener Buchform.
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