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Zur
seelischen Gesundheit
von Zeugen Jehovas
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Jerry R. Bergman
Webseiten-Spiegelung entnommen:
www.kids-lev.com/presse/bergmann.htm
Inhaltsverzeichnis
Seite
Vorwort von Prof. Carl Thornton 3
Über den Autor 4
Wichtige Vorbemerkung zu den Fallgeschichten 5
Einführung 6
Kap. 1: Jehovas Zeugen und das Problem der psychischen
Erkrankungen 9
Kap. 2: Zur Häufigkeit psychischer Erkrankungen bei Zeugen Jehovas
10
Kap. 3: Wie die Zeugen auf Forschungen auf diesem Gebiet
reagieren 13
Kap. 4: Welche Faktoren zur hohen Zahl Erkrankungen beitragen
14
Kap. 5: Weitere krankheitsfördernde Umstände 27
Kap. 6: Die Problemfelder Gemeinschaftsentzug und Älteste 37
Kap. 7: Das Leben als Zeuge Jehovas 38
Kap. 8: Die Familie 53
Kap. 9: Die Leitung - "die Organisation an die erste Stelle setzen"
57
Kap. 10: Zieht die Wachtturm-Religion psychisch labile
Personen an? 60
Kap. 11: Wie man die Trennung von den Zeugen heil übersteht 65
Kap. 12: Zusammenfassung und Schlussfolgerungen 71
Anhang: Der Watchtower in Afrika (Kitawala) (entfällt)
Bibliographische Hinweise (entfällt)
-----------------------------------------------------------------Der
folgende Text ist eine autorisierte Übersetzung von Auszügen aus dem
171seitigen Werk "The Mental Health of Jehovah's Witnesses." USA
1987. Bestelladresse: Witness Inc., P.O.Box 597, Clayton, CA
94517. Preis: 8,95 Dollar (Stand 1990)
Vorwort von Dr. phil. Carl Thornton,
Professor der Psychologie in Flint, Michigan:
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Dr. Bergman und ich haben in unserem Lebenslauf einzigartige
Erfahrungen gemeinsam: Wir wurden beide als Zeugen Jehovas erzogen,
traten beide aus der Glaubensgemeinschaft aus, besuchten die
Universität und studierten Psychologie, und haben beide auf diesem
Gebiet auch promoviert. Dieser gemeinsame Entwicklungsgang hat uns
veranlaßt, genauer zu erforschen, wieso von dieser Gemeinschaft so
starke Wirkungen ausgehen, im Positiven wie im Negativen.
Positiv läßt sich vermerken, daß die Zielgerichtetheit und die
Selbstdisziplin, die wir als Kinder lernten, wesentlich zum Erfolg
unserer akademischen Ausbildung beigetragen hat. Auf der
Negativseite sehe ich (und ebenso Dr. Bergman) beimir und anderen
das Risiko, in eine regelrechte Arbeitssucht abzugleiten und nur mit
Mühe ein ausgeglichenes Leben aufrechtzuerhalten.
Bei den Zeugen Jehovas beobachte ich ein unablässiges Bemühen, einer
"vollkommenen" Verhaltensnorm zu entsprechen. Das hat oft ein
vermindertes Selbstwertgefühl zur Folge ("Das schaffe ich nie"), und
es kann zu psychosomatischen Erkrankungen führen, zum Zusammenbruch
der Widerstandskraft des Körpers gegen Krankheiten und zu einem
frühzeitigen Tod. Aus dem Schuldgefühl heraus ("Ich kann nicht genug
tun") sowie aus der Angst vor dem bevorstehenden Weltuntergang
("Jeden Tag kann Harmagedon kommen") fordert man ständig mehr von
sich, als man eigentlich schaffen kann. All dies zusammengenommen
führt zu körperlichen Leiden: Geschwüre, Migräne, Herzinfarkt und
vielen weiteren. [...] Ein anderes Problem, das meiner Ansicht nach
unter Zeugen Jehovas und ehemaligen Angehörigen dieser Gemeinschaft
auffällt, ist das der Depressionen und Selbstmorde. Zwar liegen nur
wenige statistische Daten vor, die das absichern könnten, doch Dr.
Bergman und ich sind unabhängig voneinander zu denselben
Schlußfolgerungen gelangt.
Jehovas Zeugen neigen sehr stark zu Selbstzweifeln und
Schuldgefühlen, den wesentlichen Voraussetzungen für Depression.
Geht man von einer schwachen Persönlichkeit aus und zählt die
verheerenden Folgen des bei Jehovas Zeugen üblichen
Gemeinschaftsentzugs hinzu, wozu der totale Abbruch aller Kontakte
von seiten sämtlicher Freunde und Verwandten gehört, so ergibt sich
eine Belastung, der die meisten Menschen nicht gewachsen sind. Ich
vermute, der Prozentsatz an Selbstmorden unter ehemaligen Zeugen
Jehovas ist sehr hoch.
Es ist zu hoffen, daß Jerry Bergmans Buch dieses sehr bedeutende
soziale Problem bewußt machen wird. Auch für ehemalige Zeugen
Jehovas kann es von Nutzen sein, da sie in der Vereinsamung ihrer
Depression höchst selten fachliche Hilfe suchen, dieser sogar
äußerst mißtrauisch gegenüberstehen, wenn sie ihnen angeboten wird.
Eine nüchterne Analyse des Phänomens Jehovas Zeugen wird ihnen vor
Augen führen, daß sie nicht allein sind, sondern daß es viele
wohlmeinende Menschen wie Dr. Bergman gibt, die ihnen über die
schweren Zeiten, die sie mit "der Gesellschaft" durchmachen müssen,
hinweghelfen. Hierin kann dieses Buch von unschätzbarem Nutzen sein.
In einem Punkt unterscheiden sich Dr. Bergmans Ansichten und meine:
Während er als auslösendes Moment für psychische Probleme vor allem
den Einfluß der sozialen Umwelt innerhalb der Zeugen Jehovas sieht,
meine ich, gestützt auf meine Forschungsarbeit auf dem Gebiet der
Psychosen und des Alkoholismus, daß hierbei eine sehr starke
genetische Komponente wirksam ist. In Bezug auf psychosomatische
Erkrankungen und Depressionen stimme ich allerdings völlig mit ihm
überein. Und ebenso teile ich seine Besorgnis. Die Tragik liegt
meines Erachtens darin, daß die "Ältesten" in den Versammlungen
(Gemeinden) der Zeugen Jehovas nicht die geringste Ahnung davon
haben, wie psychische Krankheitszustände entstehen und wie sie zu
behandeln sind. Diese Unwissenheit kann für einen Betroffenen
verheerende Folgen haben. Für Mitglieder der Gemeinschaft der Zeugen
Jehovas besteht eine reale Wahrscheinlichkeit, durch Selbstmord aus
dem Leben zu scheiden oder dauernd behindert zu sein, weil sie nicht
angemessen behandelt werden.
Dr. Bergman und ich hoffen, daß seine umfangreichen Forschungen,
Analysen und Empfehlungen mehreren guten Zwecken dienen. Angehörige
der helfenden Berufe können die Zeugen Jehovas und ehemaligen Zeugen
Jehovas unter ihren Klienten und Patienten besser verstehen und
darum bessere Therapiepläne für sie erstellen. Und auch dem Laien
wird eine Einsicht in die Risiken vermittelt, die mit der
Sozialstruktur der Zeugen Jehovas verbunden sind.
Vielleicht führen Werke wie dieses einmal zu einer positiven
Veränderung bei den Zeugen Jehovas. Das darf man aber nur sehr
vorsichtig und nur für die fernere Zukunft erhoffen.
Dr. Carl Thornton
Über den Autor
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Der Verfasser forscht seit zwei Jahrzehnten auf dem Gebiet der
Besserung von Straftätern und der Psychologie. Seit über einem
Jahrzehnt lehrt er Psychologie und Soziologie im Hochschulbereich.
Er hat über 300 Artikel auf dem Gebiet der Psychologie und
Soziologie verfaßt, die sowohl in wissenschaftlichen wie in
allgemeinen Zeitschriften veröffentlicht wurden, und hat mehr als 20
Bücher, Buchbeiträge und Monographien geschrieben, darunter ein
Lehrbuch für das Gebiet Leistungsmessung und Psychometrie und eine
Bibliographie zu den Zeugen Jehovas (Garland Press 1984).
Mit den Zeugen Jehovas befaßt sich Dr. Bergman bereits seit langem.
Aus seinen Forschungen zur seelischen Gesundheit der Zeugen Jehovas
sind vier Zeitschriftenartikel und mehrere Vorträge auf
wissenschaftlichen Fachkonferenzen hervorgegangen. Derzeit ist er
der führende US-Experte in Fragen zur Psychologie der Zeugen
Jehovas. Seine nächste Veröffentlichung auf diesem Gebiet wird ein
Buch über die psychologische Beratung und Therapie von Zeugen
Jehovas sein.
Seit über 20 Jahren befaßt sich Bergman auch ausführlich mit den
Glaubensansichten der Zeugen Jehovas. Er besucht ihre religiösen
Zusammenkünfte regelmäßig seit fast zwei Jahrzehnten und hat sich
mit buchstäblich allen Entwicklungsphasen dieser
Glaubensgemeinschaft aktiv auseinandergesetzt. Zur Vorbereitung des
vorliegenden Buches wurde die Literatur gründlich auf alle Hinweise
durchforstet, die zum Verständnis dieser Gruppe beitragen können.
Darüber hinaus wurden Tausende von Einzelgesprächen geführt mit
einem Personenkreis, der von ausgeschlossenen Zeugen bis zu
Mitgliedern der leitenden Körperschaft der Wachtturm-Organisation
reicht. Neben seiner Beratungs- und Forschungsarbeit hat der
Verfasser über 100 psychisch kranke und verstörte Zeugen Jehovas
psychologisch betreut, viele von ihnen mit schweren psychischen
Funktionsstörungen, die bei manchen ein solches Ausmaß erreicht
hatten, daß man sie normalerweise in eine Anstalt eingewiesen hätte,
wenn dem nicht die Devise der Wachtturm-Organisation
entgegengestanden hätte, sich auf keine psychiatrische Behandlung
einzulassen.
Wichtige Vorbemerkung zu den Fallgeschichten
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Alle Fallgeschichten stammen aus der Arbeit des Autors, sofern
nichts anderes angegeben wird. Die Namen der Personen, Orte und
weitere Angaben, die der Identifizierung dienen könnten, wurden in
allen Fällen geändert, teils um die Anonymität der Betroffenen zu
wahren, die traumatische Erfahrungen mit der Wachtturm-Organisation
hinter sich haben. Viele ehemalige Zeugen Jehovas wollen diese
Geschehnisse so weit wie möglich vergessen und jeden Kontakt mit
ihrer früheren Glaubensgemeinschaft sowie alle Gespräche darüber
vermeiden. Darüber hinaus sind (oder waren) viele hier erwähnte
Personen Patienten in Nervenheilanstalten, so daß es von der
Berufsethik und vom Gesichtspunkt des therapeutischen Prozesses her
verkehrt wäre, ihre Identität preiszugeben. Andere sind aktive
Zeugen und wollen die Probleme der Vergangenheit hinter sich
bringen. Aus diesem Grund wurden zur Wahrung der Vertraulichkeit
unwichtige Einzelheiten in vielen Fällen abgeändert. Im wesentlichen
werden die Fallgeschichten aber so geschildert, wie sie sich
zugetragen haben. [...]
Man muß sich hüten, aus den vorgetragenen Einzelfällen
verallgemeinernde Schlüsse zu ziehen. Sie können höchstens belegen,
daß bestimmte Dinge sich tatsächlich zutragen können. Jeder Fall
zeigt eine ganz besondere Problemlage, jeder ist einzig in seiner
Art. Wenn daher ein Zeuge bestimmte Probleme hatte, so heißt das
nicht, daß diese allgemein verbreitet seien. Ich habe mich bemüht
herauszufinden, welche Muster typisch sind und wie oft sie
auftreten, doch das ist ein sehr schwieriges Unterfangen.
Fallgeschichten beleuchten ihrer Natur nach vor allem das
Außergewöhnliche. Aus mehreren hundert haben wir einzelne wenige
ausgesucht, und jede veranschaulicht ein Problem oder einen
Diskussionsgegenstand. [...]
Wenn bestimmte Klassen von Vorkommnissen häufig auftreten, so können
wir daraus erkennen, daß eine bestimmte Beziehung besteht, doch
diese Methode darf nicht mit dem experimentellen Nachweis eines
Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs gleichgesetzt werden. Sobald man zur
Bestätigung einer Hypothese lediglich Einzelfälle zitiert, neigt man
dazu, gegenteilige Fälle unbeachtet zu lassen oder ihnen nicht das
richtige Gewicht zu geben. Will man wirklich angemessen abschätzen,
weshalb es unter Jehovas Zeugen offenkundig so viele Fälle
psychischer Erkrankungen gibt, muß man systematisch vorgehen. [...]
Dieser Untersuchung liegt ein Begriff von psychischer Krankheit zu
Grunde, der die Mehrzahl der Psychosen als nur graduell verschieden
von den Neurosen ansieht (wenn auch anerkannt wird, daß die Psychose
vielfach eine gänzlich andere "Krankheit" ist als die Neurose). Eine
neuere Besprechung dieses Problemkreises findet man bei Al-Issa
(1982). Darüber hinaus gründet die vorliegende Arbeit auf der
Annahme, daß - ohne die Faktoren Biologie, Vererbung und Ernährung
auszuschließen - psychische Probleme vor allem durch den Faktor
Umwelt hervorgerufen werden oder daß dieser zumindest die Schwere
der Probleme, den Grad der Niedergeschlagenheit und die Aussichten
auf Heilung mitbestimmt. Mit dem Begriff "psychische Krankheit" ist
in diesem Text gewöhnlich nicht ein unerklärliches, sozial
auffälliges Verhalten gemeint wie eine gespaltene Persönlichkeit,
das in den Massenmedien so oft hochgespielt wird. Menschen, die
psychisch erkrankt sind, haben Mühe, mit Problemen fertig zu werden,
und sind deswegen sehr unglücklich. Manche der hier vorgestellten
Fälle müssen zwar genaugenommen als "abnorm" bezeichnet werden, z.
B. solche mit somatischen Beschwerden, Depressionen oder
Halluzinationen, doch bei den meisten handelt es sich nicht um
Psychosen, sondern Neurosen. Die Begriffe "psychische Erkrankung"
und "Geisteskrankheit" haben viel Schaden gestiftet (Szasz 1970).
Auch wenn die Etikettierung psychisch erkrankter Menschen oft in
bester Absicht geschah, so sind sie doch in vieler Hinsicht völlig
"normal"; sie sehen sich einfach nur mehr Problemen gegenüber, als
sie verkraften können (Laing 1978). Ein psychisches Leiden ist in
mancher Hinsicht eine normale Anpassung an eine anormale Situation.
Zwar ist die Fähigkeit, Probleme zu bewältigen, bei jedem Menschen
unterschiedlich entwickelt, doch würden wir wohl fast alle psychisch
erkranken, wenn der äußere Druck zu groß wird. Ich habe mich bemüht,
Etikettierungen zu vermeiden, doch manche Fachbegriffe lassen sich
einfach nicht umgehen. Sie wurden lediglich dort benutzt, wo sie
hilfreich oder notwendig waren.
Einführung
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Von welcher Warte man es auch sieht, Jehovas Zeugen sind eine
bedeutende religiöse Sekte. Sie waren höchst einflußreich in der
Ausformung des Verfassungsrechts und haben eine tiefgreifende
Wirkung auf die Geschichte der USA, Kanadas, sowie zahlreicher
afrikanischer Länder gehabt (Kim 1963; Kernaghan 1966; Penton 1976,
1984; Maeson 1968; Manwaring 1959). Darüber hinaus übt die
Watchtower Bible and Tract Society (das leitende Unternehmen der
Zeugen Jehovas) allergrößten Einfluß auf das Leben von Millionen
Menschen aus. Die Gesamtzahl der Personen, die die grundlegenden
Glaubensansichten der Zeugen teilen oder sich davon beeinflussen
lassen, ist drei- bis fünfmal so hoch wie die Zahl der aktiven
Zeugen (im Jahr 1989 wurden beim Gedächtnismahl etwa zehn Millionen
Anwesende gezählt). Aus Kanada liegen recht genaue offizielle
statistische Angaben vor. Dort gaben im Jahr 1981 beinahe 200 000
Personen an, Zeugen Jehovas zu sein (ein Prozent der Bevölkerung),
obwohl derzeit lediglich 80 000 regelmäßig bei den Zusammenkünften
anwesend sind (siehe auch Penton 1976:229). In den Königreichssaal
gehen etwa genauso viele Leute, wie die Anglikanische Kirche an
regelmäßigen Gottesdienstbesuchern zählt - und diese ist die
zweitgrößte protestantische Glaubensgemeinschaft in Kanada! Mit
anderen Worten, was die Zahl der Aktiven angeht, gehören Jehovas
Zeugen in vielen Ländern zu den zahlenstärksten unter den
Weltreligionen. In mehreren Ländern Afrikas gehören sie auch der
Mitgliederzahl nach zu den größeren Gemeinschaften.
Daraus folgt, daß die Zeugen einen weit größeren Einfluß auf die
Gesamtbevölkerung haben, als es zuerst den Anschein haben könnte. In
manchen Ländern sind sie als Religion ebenso bedeutend wie die
Katholische Kirche, die Baptisten oder die Lutheraner. Darüber
hinaus deutet manches darauf hin, daß es heute erheblich mehr
ehemalige als aktive Zeugen Jehovas gibt (Franz 1983). Viele davon
haben die Gemeinschaft zwar verlassen, halten aber an Ansichten und
Bräuchen der Zeugen fest.
Ist jemand als Zeuge Jehovas aufgewachsen oder hat eine gewisse Zeit
unter ihrem Einfluß gestanden, so nimmt er oft bei seiner Trennung
von der Gemeinschaft viele oder die meisten religiösen Auffassungen,
wie sie von der Wachtturm-Organisation gelehrt werden, mit. Seit
etwa Mitte der siebziger Jahre ist es zu schockierend vielen
Austritten gekommen, weit über einer Million (Franz 1983). Als
Hinweis darauf, wieviele Menschen unter dem Einfluß dieser
Organisation stehen, läßt sich auch die Auflagenzahl ihrer
offiziellen Zeitschrift, des Wachtturms, verstehen. Von deren
Abonnenten ist zu erwarten, daß sie entweder zu den Zeugen gehören
oder ihnen freundlich gesinnt sind. Im Jahre 1975 erreichte Der
Wachtturm eine Auflage von 10 025 000. Er wurde 1982 halbmonatlich
oder monatlich in 106 Sprachen verbreitet. Wenn auch viele Exemplare
nicht gelesen werden, so zeigt doch die derzeitige Auflage von rund
14 000 000 Exemplaren deutlich an, daß die Zeugen weltweit einen
beachtlichen Einfluß ausüben. In dem Werk The Book of Lists (New
York 1980) wird beispielsweise angegeben, die Wachtturm-
Veröffentlichung Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt sei das
Buch mit der viertgrößten Auflage in der gesamten
Menscheitsgeschichte. Bis 1986 waren davon weit über 120 Millionen
Exemplare gedruckt.
Früher oder später sieht sich praktisch jeder klinisch tätige
Psychologe und Psychiater mit Klienten konfrontiert, die sagen, sie
seien als Zeugen Jehovas aufgewachsen, hätten früher zu ihnen gehört
oder seien von ihnen beeinflußt. Diesen Menschen zu helfen ist sehr
schwierig, wenn man nichts darüber weiß, welche Triebkraft hinter
den Lehren dieser Gemeinschaft liegt und welche allgemeinen
Stressfaktoren aus dem Glaubensgebäude und dem sozialen Milieu
resultieren.
Zudem ist es für einen einigermaßen ausgeglichen lebenden Menschen
oft schwer, die Lage anderer voll zu begreifen, besonders wenn sie
einem so autoritären Glauben wie dem der Zeugen Jehovas angehören.
Für den Außenstehenden genügt aber bereits eine kurze Orientierung,
um über einige der gravierendsten Probleme der Zeugen Bescheid zu
wissen, ohne deren Kenntnis man dem einzelnen kaum helfen könnte.
Das gilt für professionelle Helfer genauso wie für
Familienangehörige, Freunde oder Nachbarn.
Das auslösende Moment für die vorliegende Studie war und ist das
tiefe Mitgefühl mit den Zeugen. Der Autor fühlt sich ihnen seit
vielen Jahren zutiefst verbunden. Weil es darum geht zu helfen,
wurde alles unternommen, um fair und genau zu sein. Vor allem sollen
die Zeugen Jehovas als Menschen gesehen und verstanden werden.
Geschichte und Lehren der Gemeinschaft werden nur dort angesprochen,
wo es zum Verständnis der psychologischen Zusammenhänge gebraucht
wird. Dieses Werk ist aufschlußreich für alle diejenigen, die
menschliches Verhalten untersuchen, insbesondere das innerhalb von
kleinen Gruppen, sowie Erforscher der Religionen Nordamerikas und
der Zeugen Jehovas als spezifischer religiös-sozialer Gruppierung.
Soziologen, Therapeuten, Lebensberater, Psychiater, Pfarrer,
Gemeindeglieder und die Zeugen selbst werden aus diesem Überblick
Nutzen ziehen. Viele Psychologen haben ihr Interesse an einer
psychologischen Untersuchung der Zeugen bekundet. Kogon (1946:365)
schreibt:
"Wie reizvoll wäre es [...], [...] eine Psychologie der
Bibelforscher zu schreiben! Obwohl sie in der Regel
mittelständlerischen Berufsschichten von einfacher Denk- und Fühlart
entstammten, entfalteten sie im Konzentrationslager einen wahren
Regenbogen seelischer Reaktionen und äußerer Verhaltensweisen, der
sich zwischen den Polen hoher Jenseitserwartung und tiefirdischen
Eß-, ja Freßappetits spannte."
Was an soziologischen und psychologischen Erkenntnissen vorliegt,
ist leider so verschwindend gering, daß man versucht ist, seine
Schlußfolgerungen mehr auf persönliche Ansichten als auf saubere
Forschung und aussagekräftige Daten stützt. Die Zeugen Jehovas
meinen oft, sie müßten "beweisen", daß es in ihren Reihen nur wenige
Fälle psychischer Erkrankungen gibt, während viele ihrer Gegner
aller Schattierungen versessen darauf aus sind, das Gegenteil zu
zeigen. Zur Feststellung der tatsächlichen Gegebenheiten ist die
vorurteilsfreie Untersuchung durch einen Wissenschaftler notwendig,
der kein Eigeninteresse daran hat, eine hohe oder niedrige Quote
nachzuweisen. Notwendig ist allein das Ziel, die Wirklichkeit zu
verstehen, und der Wunsch, den Zeugen zu helfen.
Das Problem der Kausalität
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Die Ermittlung der Ursachen stellt ein besonders verzwicktes Problem
dar, das heißt die Frage, ob Faktor A den Faktor B hervorruft. Bei
der Bewertung psychischer Erkrankungen stützt man sich oft auf
Korrelationsberechnungen, die nicht unbedingt beweisen, daß ein
ursächlicher Zusammenhang vorliegt, sondern einfach, daß überhaupt
ein Zusammenhang besteht. So können die einen psychisch erkranken,
weil sie Zeugen Jehovas sind, während andere Zeugen Jehovas werden,
weil sie sehr unglücklich sind und eventuell der Ausbruch einer
Krankheit bevorsteht. Meistens sind viele verschiedene Faktoren
dafür verantwortlich, daß jemand ein Zeuge wird, und einige davon,
aber auch viele weitere rufen auch psychische Erkrankungen oder
Traurigkeit hervor. Manche erkranken auch aus anderen Gründen als
den Faktoren A und B, so wie man inzwischen die Bedeutung von
Erbfaktoren immer besser versteht. Das Tragische ist, daß viele
unzureichend behandelt werden und daß man sie für Krankheitszeichen
verantwortlich macht, die auf Vererbung beruhen oder sonstwie
außerhalb ihrer Einflußmöglichkeiten liegen.
Manche der Verallgemeinerungen in dieser Abhandlung sind
zugegebenermaßen meine eigenen. Sie gründen sich jedoch in den
meisten Fällen nicht nur auf intensive Forschung, sondern auch auf
eine über zwanzigjährige Erfahrung des Lebens als Zeuge Jehovas. Wie
schon erwähnt, gab es wenige Forschungsergebnisse, auf die ich mich
stützen konnte. Nur sehr wenige Forscher haben sich mit den
soziologischen und psychologischen Aspekten der Religion der Zeugen
Jehovas befaßt und noch viel weniger mit der Frage ihrer seelischen
Gesundheit. Da es in den USA nur reichlich eine dreiviertel Million
Zeugen gibt, hätte man selbst bei einer hohen Krankheitsquote nur
eine verhältnismäßig kleine Anzahl psychisch Kranker. Darüber hinaus
gibt es insgesamt nur sehr wenige gute psychologische Untersuchungen
über die Beziehung zwischen seelischer Gesundheit und Religion,
abgesehen von solchen, die die groben Kategorien "Katholisch,
protestantisch, jüdisch" zugrundelegen. Sogar innerhalb der größeren
protestantischen Sekten liegen wenige abgeschlossene und
aussagekräftige Untersuchungen vor, und diese beruhen in weiten
Teilen auf Spekulation (Penton 1985). Große Schwierigkeiten hat man
auch deswegen, weil die Gruppen, um die es geht, statistisch gesehen
so unbedeutend sind.
Kapitel 1:
Jehovas Zeugen und das Problem der psychischen Erkrankungen
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"Jehovas Zeugen sind das glücklichste Volk auf Erden. Wir brauchen
einen Psychiater noch weniger als sonst irgend jemand." Diese
Behauptung wird gegenüber Zeugen und Außenstehenden oft erhoben
(siehe beispielsweise in Erwachet! vom 22. Mai 1960, S. 27,28). Und
Außenstehende können auf den ersten Blick sehr wohl den Eindruck
haben, daß sie "ein glückliches Volk" sind. In letzter Zeit aber
ergibt sich aus der Forschungs- und der allgemeinen Literatur ein
ganz anderes Bild. Es hat sich nämlich gezeigt, daß psychische
Probleme unter Jehovas Zeugen ziemlich häufig auftreten.
[...]
Zusammenfassung
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Innerhalb des Glaubensgebäudes der Zeugen Jehovas gibt es viele
Faktoren, die eine positive geistige und emotionale Entwicklung
ermöglichen. Genauso aber auchg viele Faktoren, die extrem
beeinträchtigend wirken. Oft sind sie schwierig auseinanderzuhalten,
und wie sie sich auswirken, hängt zum großen Teil von der besonderen
Lage des einzelnen ab. Doch trotz allem lassen sich klare
Zusammenhänge orten und herausschälen. Als sehr großes Problem
erweist sich allerdings die mangelnde Zusammenarbeit zwischen den
Zeugen und den Angehörigen der helfenden Berufe. Die Tatsache, daß
die Wachtturm-Gesellschaft sich in dieser und vielen anderen Fragen
so unbeweglich verhält, ist einer der Hauptgründe dafür, daß
psychische Erkrankungen auftreten und daß sich eine allgemein
fortschreitende Entfremdung vieler Zeugen von ihrer Organisation
einstellt.
Das Engagement in einer festgefügten, unterstützenden sozialen
Gruppie-rung kann zu intellektuellem, spirituellem, emotionalem
Wachstum und zu einer Verbesserung der Lebenstüchtigkeit führen,
sofern diese Umgebung eine Entwicklung auf diesen Gebieten
befürwortet. Wenn andererseits alle Gedanken um eine kurz
bevorstehende Zukunft kreisen, in der alle Probleme automatisch und
schmerzlos gelöst werden, dann wird man sich nicht um eine Besserung
seiner gegenwärtigen Lage bemühen. Den Zeugen wird ganz offen davon
abgeraten, Verbesserungen in den verschiedensten Lebensbereichen
anzustreben, besonders dem der Bildung, des beruflichen Werdegangs
und des wirtschaftlichen Aufstiegs, alles Bereiche, die sehr wichtig
sind für eine erfolgreiche Eingliederung in die Gesellschaft.
Aktivität wird nur auf jenen Gebieten gefördert, die den Zielen der
Wachtturm-Organisation dienen.
Nicht immer ist der Einfluß, unter dem die Zeugen stehen, zum Guten.
Wer sich mit der Sache der Zeugen immer mehr identifiziert und sich
für sie engagiert, wird sich auch gefühlsmäßig daran binden. Wie zu
erwarten, führt das zu einer Verteidigungshaltung gegenüber
Gedankengut, das als nicht vereinbar mit den theologischen
Vorstellungen der Zeugen angesehen wird, unabhängig davon, ob diese
Gedanken wahr oder falsch sind. Das führt dazu, daß die Gläubigen
immer weniger fähig sind, die Wirklichkeit korrekt einzuschätzen,
sie stattdessen zensieren oder verzerren, weil sie alles durch die
Brille ihres Glaubens sehen. Der feste Glaube an das Bevorstehen
Harmagedons und eines ewigen Lebens auf der Erde wirkt sich auf den
Gläubigen sowohl günstig wie ungünstig aus. Positiv wirken sich
Wahnideen als Glaube an die eigene Unsterblichkeit aus, so daß man
mit einer alles überwältigenden Angst vor einem bevorstehenden Tod
besser fertig wird (Masserman 1953:324-333). Ärzte, die mit
chronisch und unheilbar Kranken zu tun haben, stellen fest, daß
Patienten mit festen religiösen Ansichten ihre Krankheit viel besser
bewältigen (Chesen 1972). Alles was den Glauben an die
Unsterblichkeit reduziert, löst Angst vor dem Tod aus und ruft
Depression und - ironischerweise - einen Anstieg der Selbstmordquote
hervor. Selbstmord findet man daher häufig bei denen, die aus dem
Berufsleben ausgeschieden sind, denen, die über 65 sind, den
Verwitweten und überhaupt allen, die kurz zuvor einen geliebten
Menschen verloren haben, denn dieses Erlebnis macht einem die
Wirklichkeit des Todes hautnah spürbar, was nicht selten in die
Verzweiflung führt (Klob 1977).
Kapitel 2:
Zur Häufigkeit psychischer Erkrankungen bei Zeugen Jehovas
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Den im Gesundheitswesen Tätigen wird immer deutlicher bewußt, wie
hoch die Anzahl psychischer Erkrankungen und Selbstmorde unter
Jehovas Zeugen ist. Auf wissenschaftlichen Kongressen, so ist mir
aufgefallen, kommt es gar nicht selten vor, daß man Jehovas Zeugen
zur Sprache bringt, wenn das Thema Religion und seelische Gesundheit
behandelt wird. Fälle von psychischen Erkrankungen unter den Zeugen
sind so häufig, daß sie in schriftlichen Abhandlungen zu diesem
Thema oft mit erwähnt werden. In manchen Orten, besonders in
Großstadtbereichen, kommen Probleme von Zeugen Jehovas routinemäßig
in den Besprechungen von Gesundheitsbeamten vor (Pearsal 1981). Eine
große Nervenheilanstalt hat schon den Spitznamen "Watchtower House"
bekommen, zum Teil wegen der vielen Patienten dieser
Glaubensgemeinschaft, doch vor allem, weil diese Patienten dort sehr
auffallen durch aktives Verbreiten ihrer Ansichten. Die Probleme der
Zeugen sind inzwischen wohlbekannt, nur die Gründe dafür werden noch
nicht hinreichend verstanden.
Einige Probleme bei der Ermittlung von Häufigkeiten
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Mehrere Faktoren müssen untersucht werden, wenn man die Häufigkeit
psychischer Erkrankungen ermitteln will. Die Höhe des Wertes ist
abhängig von der Definition von "psychischer Erkrankung", für die
sich der Forscher entscheidet, denn dieser Begriff spaltet das
Kontinuum zwischen vollkommener geistiger Gesundheit und
vollständigem Irresein willkürlich in zwei Teile. Die Extreme sind
leicht erkennbar, kommen aber selten vor. In Wahrheit sind wir alle
irgendwo zwischen diesen beiden Extremen anzusiedeln. Legen wir
einen weiten, offenen Maßstab für psychische Krankheit an, so
könnten wir zu dem Ergebnis gelangen, daß 80 Prozent aller Zeugen
psychisch krank sind. Nehmen wir einen strengen Maßstab, stellen wir
vielleicht fest, daß es nur zwei Prozent sind. Die Zahl kann also
hoch oder niedrig sein, je nachdem, welchen Maßstab wir wählen.
Die ideale Methode wäre, nach dem Zufallsprinzip 1000 Zeugen Jehovas
und genauso viele Nicht-Zeugen auszusuchen, jede Stichprobe
repräsentativ für die Gesamtbevölkerung des Landes. Wenn zwölf
Prozent der US-Bevölkerung Schwarze sind, 52 Prozent Frauen usw.,
dann sollte das bei der Kontrollgruppe ebenso sein. Als nächstes
würde der Forscher jeden Angehörigen dieser Gruppen nach strengen,
objektiven Kriterien einer Serie psychologischer Tests unterziehen.
Das Personal, das die Tests durchführt und auswertet, darf dabei
nicht wissen, welche Gruppe gerade getestet wird. In einem letzten
Schritt vergleicht man die Fähigkeit beider Gruppen zu psychischer
Anpassung anhand der Testergebnisse. Auf diese Weise ließe sich das
Anpassungsniveau der Zeugen im Vergleich zur Gesamtbevölkerung
feststellen. Der Test müßte sorgfältig ausgesucht werden, um
sicherzustellen, daß er nur relevante Variablen mißt. (Der MMPI-Test
beispielsweise schätzt "normale" Zeugen Jehovas, die an Dämonen usw.
glauben, verkehrt ein.)
Leider wird es diese ideale Untersuchung niemals geben. Erstens
nehmen Jehovas Zeugen kaum jemals an Untersuchungen teil, die ihre
Organisation durchleuchten wollen, und wenn sie es täten, dann
würden sie versuchen, die Organisation im besten Licht erscheinen zu
lassen. Sie glauben, Außenstehende wollten doch nur kritisieren, so
daß die ganze Mühe eine reine Zeitverschwendung sei. Sie wollen ihre
Zeit in diesen letzten Tagen mit dem Predigen verbringen, nicht mit
wertlosen Untersuchungen. Zudem wäre eine solche Untersuchung sehr
kostspielig. Kaum ein Geldgeber wird auch nur den Mindestsatz an
Forschungsmitteln zur Verfügung stellen, wenn es sich um eine
Randgruppe handelt, die nach Meinung vieler ohnehin bedeutungslos
ist.
Man sollte nicht nur die Häufigkeit von psychischen Erkrankungen
erforschen, sondern auch die individuellen Faktoren, die dazu
beitragen. Zum Beispiel ließen sich die Zeugen unterteilen in
untätige, kaum tätige, durchschnittlich aktive, überdurchschnittlich
aktive und äußerst aktive und dann könnte man die seelische
Gesundheit jeder einzelnen Gruppe erfassen. Damit ließe sich recht
gesichert feststellen, inwieweit das Ausmaß an Aktivität bei den
Zeugen zu psychischen Erkrankungen beiträgt. Nach meiner Erfahrung
gibt es Hinweise darauf, daß der Grad des aktiven Engagements mit
emotionalen Fehlanpassungen etwas zu tun hat, aber daß dies nur sehr
untergeordnet ist. Die Zeugen nehmen zwar vor allem diejenigen wahr,
die als sehr Aktive einen Zusammenbruch erleiden, doch nach meinen
Statistiken ist der Grad der Aktivität allein nicht unbedingt einer
der Hauptfaktoren. Wer viel Zeit und Kraft seines Lebens in diese
Sache gesteckt hat und viele schwere Enttäuschungen erlebt, der wird
oft ganz enttäuscht sein, das Leben vergeudet zu haben. Oft ist die
Enttäuschung der Faktor, der die psychischen Probleme verursacht,
nicht so sehr der Grad der Aktivität. Solche, die sich ganz
besonders engagiert haben, fallen am tiefsten, weshalb die Trennung
für sie am traumatischsten ist (Franz 1983).
Und es gibt weitere Schwierigkeiten: Nach vielen Definitionen von
psychischer Krankheit würden Jehovas Zeugen schon wegen vieler ihrer
Glaubensansichten als "auffällig" eingestuft werden, da sie nicht
mit denen der Bevölkerungsmehrheit übereinstimmen. Aufgrund ihrer
Lehren handeln und verhalten sie sich anders als der
"Durchschnittsbürger". Ein Verhalten, das von der Norm abweicht, ist
per Definition "anormal", "eigenartig". An eine unmittelbar
bevorstehende Schlacht von Harmagedon zu glauben, in der fast die
gesamte Welt vernichtet wird und nur die treuen Zeugen überleben
werden (die dann für immer auf einer paradiesischen Erde leben
werden), das weicht völlig vom Weltbild der Allgemeinheit ab. Wer so
etwas vertritt, setzt sich von der Mehrheit ab. Wer als Zeuge
Jehovas alle Lehren seiner Gemeinschaft glaubt, zeigt ein
abweichendes Verhalten, wenn man ihn mit einem Außenstehenden
vergleicht. Er verhält sich aber sehr angepaßt, vergleicht man ihn
mit dem sozialen System innerhalb der Zeugen Jehovas. Vielfach sind
Zeugen nicht in der Lage, sich gegenüber Außenstehenden anzupassen,
können dies aber innerhalb der Gemeinschaft recht gut. Von solchen
Fällen erfahren Psychologen und Psychiater fast nie etwas. Würde man
sie in der Statistik mit erfassen, so wäre die Quote der seelischen
Erkrankungen bei Jehovas Zeugen um ein Mehrfaches höher. (Viele
Zeugen leiden an einem ständigen Mißtrauen gegenüber Außenstehenden
und versuchen, den Kontakt mit ihnen soweit irgend möglich zu
meiden, abgesehen von den normalen Alltagskontakten.) Doch obwohl
die meisten in ihrer eigenen Welt gut angepaßt sind und bestens mit
Ihresgleichen umgehen können, würde die Diagnose recht häufig
"paranoide Persönlichkeitsstruktur" lauten.
Dieses Verhalten zeigen die meisten nach außen abgeschlossenen
Gruppen. Die klare Trennung in "Wir" und "die anderen" kennzeichnet
sogar recht viele soziale Kollektive. Trotzdem sind viele Forscher
der Ansicht, darin spiegele sich ein Fehlverhalten, und sehen es
dementsprechend als pathologisch an, zumindest als schlecht
angepaßt. So sagt Christensen (in Oates 1961:247): "Ganz gleich, ob
ein Glaube nun von einzelnen oder von der Gesellschaft als normal
oder anormal angesehen wird, er läßt sich stets in pathologischer
Weise einsetzen." Aus diesem Grund ist es nötig zu ergründen, wie
einzelne Zeugen mit bestimmten Glaubensansichten umgehen, wenn man
ermitteln will, wie sie mit Alltagsproblemen fertigwerden. Der
Glaube an eine bevorstehende neue Welt kann dazu benutzt werden,