Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Wohin gehen sie denn?

Von Zeit zu Zeit begegnet man in Kreisen ehemaliger Zeugen Jehovas zwei entgegengesetzten Meinungspolen. Einige, die WTG-Endzeitlehren nunmehr mehr widerwillig als Fata Morgana registrierend, glauben doch nach wie vor die Bibel als "Prophezeiungsbuch" benutzen zu sollen. Da das mit den WTG-Endzeitlehren nicht mehr so richtig klappt, klammern sie sich an den Strohhalm, das Volk Israel wäre, wie es einmal ein Werner Hodler formulierte, ein "auserwähltes Volk" oder das "Schicksal der Welt". Gewisse evangelikale Kreise leisten dabei dann noch Sekudantendienste dazu. Die abenteuerlichsten Auslegungen diesbezüglich kann man registrieren, die sich in nicht wenigen Fällen inhaltlich widersprechen. Politische Spannungen im Weltgeschehen, werden da metaphysisch verklärt.

Den "Sinn" solcher Thesen kann man bestenfalls darin erkennen, dass da für einige eine "geistige Ersatzkrücke" geboten wird. Von den Zeugen Jehovas herkommend, nicht gewohnt selbstständig zu denken, wird ihnen auf diese Art eine Form ähnlichen Ersatzglaubens für die Nach-Zeugenzeit geboten. Nun denn, wer es meint so halten zu müssen, weil er sich sonst als haltlos im Weltengetriebe sieht, mag es so halten. Es gibt Schlimmeres auf dieser Welt.

Der andere Pol ist der, und der ist weitaus kritischer zu beurteilen, dass da mit in das Horn der Neonaziszene gestoßen wird. Nicht bewusst und nicht mit Absicht; aber eben unter dem Strich doch. Angetan hat es denjenigen besonders jene Hetze, die von antisemitischen Kreisen beispielsweise gegen den jüdischen Talmud in Szene gesetzt wird. Die abenteuerlichsten Schauermärchen werden da den Juden angedichtet. Diese Hetze ist nicht neu. Sie ist schon in der Vor-Nazizeit nachweisbar. Durch die Nazizeit hat sich sich dann allerdings endgültig desavouiert. Aber das stört diese Gläubigen offenbar nicht weiter. Ihnen geht es ja nur darum, weil die Bibel auch einiges zum Thema Judentum berichtet, dass ganze Alte Testament ist voll davon, ihren undifferenzierten Frust auf diese Art und Weise loszuwerden. Das sie dabei den neonazistischen Rattenfängern mit auf dem Leim kriechen, nehmen sie vielleicht gar nicht mal bewusst war. Gerade deshalb muss dieser Tendenz deutlich widersprochen werden.

Also muss man nolens volens sich auch mit der antisemitischen Hetze gegen den Talmud befassen. "Wie sage ich es dem Kinde?" ist dabei die Frage. Zum Thema liegt eine durchaus umfängliche Literatur vor. Letztere wird von den Genannten wohl kaum gelesen. Das würde ja intensive Anstrengungen voraussetzen. Einfacher ist es da schon, einfach die Neonazithesen wiederzukäuen, die da prompt auch von einigen mundgerecht serviert werden. Aber letztendlich kommt man, will man das Thema wirklich angehen, um die seriöse Literatur dennoch nicht herum. Sie in allen Details zu referieren wäre wieder ein zu umfängliches Unterfangen. Notgedrungen muss es also bei einer Stichpunktargumentation bleiben. An drei Beispielen sei dass einmal veranschaulicht.

Hermann L. Strack, war ein jüdischer Gelehrter, der sich intensiv mit dem Talmud befasste. Strack veröffentlichte 1921 seine Kampfschrift "Jüdische Geheimgesetze?" Daraus sei mal zitiert:

"Mit derselben Regelmäßigkeit, mit welcher Ungeziefer wieder sich zeigt und sich vermehrt, wenn nicht auch das kleinste Eiernestchen, auch die unscheinbarste Verbreitungsmöglichkeit beseitigt ist, tritt immer wieder die Behauptung auf, der Talmud und der Schulchan-Aruch seien von den Juden ängstlich geheimgegehaltene Schriften … Dieser Behauptung gegenüber habe ich seit mehr als drei Jahrzehnten immer wider mit stärkstem Nachdruck ausgesprochen und erwiesen: Es gibt keine jüdischen Geheimschriften.

Der (antisemitische) Abschreiber Th. Fritsch, Beweis-Material, 3. Aufl., 118 behauptet und sein (gleichfalls antisemitischer) Unterschreiber Dinter 389 wiederholt es: 'In Sanhedrin 59a und Chagiga 13a wird gelehrt, daß ein Nichtjude, der den Talmud studiert, oder ein Jude, der einen Nichtjuden im Talmud unterrichtet, den Tod verdient.' "

Dem widerspricht Strack dann im weiteren seiner Ausführungen.

Zweites Beispiel

Der Theologe Paul Fiebig (der auch eine Schrift über die Bibelforscher publizierte) schrieb in seinem gleichfalls 1921 erschienenen Buch: "Juden und Nichtjuden. Erläuterungen zu Th. Fritschs 'Handbuch der Judenfrage'"

"Zunächst beschäftigte mich, was Fritsch S. 330-349 über den Talmud sagt. S. 337, Anm. gibt er selbst an, daß sich seine Darlegungen in der Hauptsache auf Prof. Aug. Rohlings Schrift 'Der Talmudjude' stützen." (S. 1)

Fritsch zitiert in derselben Weise wie Rohling und dieser wieder wie Eisenmenger. Rohlings Hauptquelle ist ja Eisenmengers Buch." (S. 2)

"Die dargebotenen Zitate aus dem Chulchan Aruch hat Fritsch, wie er angibt, dem Buche von Dr. Jakob Ecker: 'Der Judenspiegel im Lichte der Wahrheit' entnommen. … Auch hier zitiert Fritsch den Grundtext, den Ecker darbietet, nicht wörtlich, so daß seine Zitate wissenschaftlich wertlos sind." (S. 57)

"Ich bin an Fritsch Buch mit gutem Vertrauen herangegangen , weil mir gesagt wurde, daß er lediglich sachliches Material biete. Nach der eigenen Nachprüfung kann ich diese Beurteilung leider nicht unterschreiben." (S. 82.) Soweit Fiebig.

Noch ein drittes Beispiel sei genannt. Dr. Hans Jonak von Freyenwald. Dieser Name ist Insidern durchaus ein Begriff, war er es doch, der in der Nazizeit 1936 das damals bedeutendste Buch über die Zeugen Jehovas veröffentlichte. Jonak verstand sich generell als "Kapazität" in Sachen Antisemitismus. Zum Problemkreis "Protokolle der Weisen von Zion" liegt aus der Feder Jonak's einiges vor, worum man auch heute noch, sofern man sich für dieses Thema interessieren sollte, nicht herumkommt. 1941 veröffentlichte Jonak eine Art Antisemitenkatechismus unter dem Titel "Jüdische Bekenntnisse aus allen Zeiten und Ländern". Letzteres Buch 1992 erneut aufgelegt, ist allerdings mit spitzen Fingern anzufassen. Immerhin für den Forscher bietet es durchaus interessante Einblicke. In die Rubrik "Publikumsliteratur" ist es allerdings auf keinen Fall einzuordnen.

Wie soll man Jonak einschätzen? Schwierige Frage. Sie wird noch schwieriger wenn man einen Aufsatz von Jonak zur Kenntnis nimmt, der noch 1944 in den "Nationalsozialistischen Monatsheften" erschien.

In der Sache handelt es sich um einen Zerriss, den Jonak über einen seiner antisemitischen Berufskollegen publizierte. An keiner geringeren Stelle als wie gesagt, in den "Nationalsozialistischen Monatsheften" im Jahre 1944 (Heft Nr. 162). Seine Zitierung soll aus dem Grunde erfolgen, weil hier ein Antisemit über andere seines Schlages eine Abrechnung vornimmt, die zugleich exemplarisch ist für das antisemitische Gesamt"niveau".

In der Sache dreht es sich um eines der Lieblingsthemen der Antisemiten, den angeblichen jüdischen Ritualmord. Da erschien also 1943 im Nazideutschland ein Buch eines gewissen Hellmut Schramm mit dem Titel "Der Jüdische Ritualmord. Eine historische Untersuchung". Und nun soll noch zitiert werden was Jonak darüber rezensiv feststellte:

"Der Verfasser hat sich zur Aufgabe gestellt, die sehr umstrittene Ritualmord-Frage zu lösen, und versucht, die Behauptung, daß die Juden solche Verbrechen begehen, an Hand der jüdischen Gesetzbücher (Sohar, Talmud) und mittels Erörterung von rund 136 Mordfällen aus den Jahren 419 bis 1913 zu beweisen. Seine Arbeit beansprucht, als wissenschaftliche Untersuchung aufgefaßt zu werden, denn im Vorwort bzw. in der Einleitung wird betont, daß der Verfasser aus den 'Quellen' schöpfte, die 'Berichte und Prozeßakten' benützte, 'wissenschaftlich in die Tiefe' stieg und 'wissenschaftliche Kleinarbeit' leistete. Wer sich jedoch mit dem Inhalte näher befaßt, muß entdecken, daß der Verfasser offenbar keinerlei Quellenstudium betrieb, sondern vielfach oberflächliche Literatur und Zeitungsnachrichten benützte.

Der Verfasser bezeichnet die behandelten 136 Mordfälle als 'in der vorliegenden Untersuchung festgestellte Ritualmorde.' (S. 443). Wie er aber dies feststellte, sei nur an einigen Beispielen gezeigt.

Er schreibt: 1250 opferte ein Rabbiner in Kastilien ein Christenkind (S. 18). 1347 kreuzigten die Juden von Messina ein Kind (s. 25). 1453 steckten Juden in Breslau ein Kind in ein Faß mit Nägeln, daß sie rollten, um dem Opfer das Blut zu entziehen (S. 28). Solche Morde geschahen ferner 1879 zu Tallya und 1880 zu Komorn (S. 139). In diesen fünf nur beispielsweise genannten Fällen gibt Dr. Schramm weder die Namen der Opfer, noch die Mörder an und berichtet auch nichts über die näheren Umstände oder über ein Gerichtsverfahren. Er konnte auch nichts Näheres angeben, da er seine Wissenschaft bloß aus den seichten Büchern des Franzosen Despartes und des Ungarn Onody bezog, die darüber auch nicht mehr geschrieben haben.

Trotzdem nahm Dr. Schramm auch diese Fälle in die 'Tafel der in der vorliegenden Untersuchung festgestellten Ritualmorde auf', zu welcher Überschrift er noch bemerkt (S. 443):

'Die genauen Akten- bzw. Urkundenhinweise finden sich an den betreffenden Stellen verzeichnet.' Bei den genannten Fällen fehlt aber jeder Hinweis auf Akten oder Urkunden.

Eine Reihe von Morden behandelt der Verfasser eingehender, aber ebenfalls nicht auf Grund von Originalquellen. So benützte er bezüglich des Mordes von Polna die in Buchform erschienenen Prozeßberichte, die der Journalist Schwer für das Wiener 'Deutsche Volksblatt' geschrieben hatte. Für den Mordfall in Konitz verwendete er eine von unbekannten Verfassern zusammengebraute Broschüre, die der Abgeordnete Liebermann von Sonnenburg mit einem Vorwort unter seinem Namen herausgab. In beiden Fällen begnügte er sich mit diesen Kampfschriften und unterließ es, die auch heute noch vorhandenen Prozeßakten einzusehen.

Ebenso ging der Verfasser bezüglich der übrigen großen Prozesse vor; auch wo es leicht möglich gewesen wäre, die Prozeßakten zu beschaffen, schrieb er lediglich aus der vorhandenen Ritualmord-Literatur ab.

Aber Dr. Schramm glaubt auch ein Talmud- und Soharkennern zu sein. Er hat eine in einem Ergänzungswerke des Sohar vorkommende Stelle entdeckt, die er (S. 5) als 'unmißverständliche Ritualmordanweisung' ins Treffen führt. Den Text bringt er 'wörtlich nach der authentischen Übersetzung Dr. Bischoffs'. Tatsächlich übernahm Dr. Schramm sowohl die Bezeichnung 'Ritualmordanweisung' als auch den Text offenbar aus dem von Th. Fritsch herausgegebenen 'Handbuch der Judenfrage' (1938, S. 139,140), ohne diese seine Quelle zu nennen. Peinlich ist es nun, daß Fritsch die Übersetzung Bischoffs mehrfach verändert hatte und Dr. Schramm den also veränderten Text als authentische Übersetzung Bischoffs anführt.

Aber Fritsch bemerkt wenigstens, daß Bischoff selbst bezweifle, daß hier eine Ritualmordanweisung vorliege. Davon erwähnt Dr. Schramm nichts, ja er führt Bischoffs Übersetzung an, obwohl dieser in seinem Buche 'Die Elemente der Kabbalah', 2. Teil S. 220 gerade diese Soharstelle als 'exegetisches Unkraut' und 'kompletten Unsinn' bezeichnete und außerdem behauptete, es gebe weder im Talmud noch im Sohar auch nur eine einzige Stelle, die im Sinne eines Blutrituals ausgelegt werden könne.

Auf S. 288 erzählt uns Dr. Schramm, daß es eine der ersten Taten des 'neugebackenen' Präsidenten Masaryk war, den Juden Hilsner, den Mörder von Polna, aus dem Zuchthaus zu entlassen; Masaryk habe damit eine 'sittliche Pflicht' gegenüber Juden und Freimaurern erfüllt. Dr. Schramm hat diese unrichtige Erzählung aus seinem eigenen Aufsatz 'Der Doppel-Ritualmord in Polna' in der seinerzeitigen Monatsschrift 'Weltkampf', August 1939, S. 339, abgeschrieben. Der von ihm damals und nun nach vier Jahren begangene Fehler ist ein unverzeihlicher. Masaryk wurde nämlich am 14. 11. 1918 zum Präsidenten der Teschecho-Slowakei gewählt. Hilsner aber hatte auf Grund eines Gnadenaktes des Kaisers Karl die Strafanstalt bereits am 30. 3. 1918 verlassen.

Auf S. 9 ff. nennt uns Dr. Schramm einige Persönlichkeiten die eines 'plötzlichen Todes' starben, weil sie bei den Juden mißliebig geworden waren. Gerüchte, über die sich schon Dr. Bischoff, den Dr. Schramm selbst als einen deutschen Gelehrten von Weltruf bezeichnet, seinerzeit in einem Gerichtsgutachten lustig gemacht hat. Unter anderem behauptet Dr. Schramm (S. 10): 'Den Doktor Pinner überraschte ein 'plötzlicher Tod' in dem Augenblick, als er den ersten Teil des Talmud übersetzt hatte.'

Tatsächlich erschien die Übersetzung 1842 in Berlin, aber erst im Jahre 1880 starb Pinner im Alter von 77 Jahren. Das nennt Dr. Schramm einen von den Juden herbeigeführten 'plötzlichen Tod.'

Ganz unwissenschaftlich ist es, wenn Dr. Schramm in seine Tafel der festgestellten Ritualmorde die zahlreichen Fälle aufnahm, in denen das Geständnis der Beschuldigten mittels der außergesetzlichen Folter oder durch außergesetzliche Marterungen erpreßt wurde. Zu dieser wichtigen Frage nimmt Dr. Schramm sachlich nicht Stellung; er hält die erfolterten Aussagen einfach für wahr, insbesondere wenn mehrere Beschuldigte getrennt vernommen und gleichlautend aussagten. Als ob die Foltergerichte nicht gleichlautende Aussagen nach Belieben aus den Gemarterten herausholen konnten!

Im Falle des Trienter Mordes, wo die Folterung aktenmäßig feststeht, gebraucht er trotzdem die Wendung 'angeblich erfolterte Aussagen' (S. 40).

Im Falle des Mordes in Damaskus macht er sich über die 'entsetzlichen Foltergeschichten' lustig (S. 82) und beim Morde in Bäsin (S. 43) bezieht er seinen Bericht aus Onodys Ritualmord-Buch, ohne aber die dort (S. 104) stehenden Sätze anzuführen: 'Die vorgerufenen Angeklagten leugneten insgesamt die Tat und beteuerten ihre Unschuld, worauf zur strengen Frage, das heißt zur Folter, geschritten wurde. Nach den ausgestandenen Folterqualen bekannten endlich die Gepeinigten die Tat.'

Mit Verhöhnen und Totschweigen eines Verfahrens, das ebenso wie die Hexenprozesse zu den größten Schändlichkeiten der Menschheit gehört, kommt man über diesen dunkelsten Punkt der meisten Ritualmord-Prozesse nicht hinweg. Mit dieser Feststellung sind die Mängel des Buches keineswegs erschöpft.

Das Buch ist vielmehr eine Fundgrube von Unrichtigkeiten und unbewiesenen Behauptungen. Es bietet in der Ritualmord-Frage nichts Neues, neu ist höchstens, daß es noch mehr Fehler enthält als andere Schriften dieses Schlages. Dem Verfasser fehlen die für eine solche Arbeit erforderlichen Kenntnisse und Beurteilungskraft. Die Art und Weise, wie er das Thema behandelt, muß als Hohn auf jede ernste Geschichtsbetrachtung bezeichnet werden …"

Weitergehendes zu Jonak in der "Geschichte der Zeugen Jehovas. Mit Schwerpunkt der deutschen Geschichte" 18. Kapitel: "Anti-Bibelforscher'koryphäen' in Aktion".

Zum Weiterlesen empfohlen: Schwarzbrauner Sumpf

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