Estland wird sowjetisch

Circa im Jahre 1933 konnten die Zeugen Jehovas es erreichen, in den damals noch selbstständigen Republiken Estland und Lettland eigene Büros einzurichten und auch von den Behörden amtlich registriert zu werden. Die Freude darüber sollte allerdings nicht allzu lange vorhalten. Schon bald machten sich die Gegner stark und konnten eine teilweise Konfiszierung ihrer Literatur erreichen. Wie auch anderswo, versuchten die Zeugen Jehovas, dem juristisch Paroli zu bieten. Aber schon im Juli 1934 kam es in Lettland zu ersten größeren Verbotsaktionen, dem Estland im Jahre 1935 folgte.

Immerhin gelang es Ihnen in Estland sich doch noch - mehr schlecht als recht - einige Zeit weiter "über Wasser zu halten".

In der Folge des Hitler-Stalin-Paktes, mit seiner Aufteilung der jeweiligen Interessensphären, geriet auch das bis dahin unabhängige Estland in den sowjetischen Machtbereich. Man weiß, dass die Blütezeit der Zeugen Jehovas in der Sowjetunion erst nach 1945 einsetzte. Ehemals polnische Gebiete, aber auch die Staaten des Baltikums, unter anderem eben auch Estland, hatten schon davor einen gewissen Bestand an Bibelforschern, der im Zuge der Annexionspolitik, nunmehr in die Sowjetunion integriert wurde.

Es ist nicht uninteressant mal einen zeitgenössischen Bericht zu registrieren, der darlegt, wie sich aus der Sicht der damaligen Zeugen Jehovas, diese politische Zäsur darstellte. Im "Trost" vom 1. 5. 1941 (Nr. 447 S. 16) konnte man dazu lesen:

"Im verflossenen Jahr (September 1939/1940) wurden vom estnischen Depot der Watch Tower Bible and Tract Society insgesamt 59 776 Bücher und Broschüren verschickt. … Diese Versandmenge ist um 15 588 Exemplare höher als im Jahre vorher. … Der Hauptgrund dafür ist jedoch, dass viele Leute sehen, sie werden sich bald keine biblischen Hilfsmittel, ja nicht einmal mehr die Bibel selbst verschaffen können.

Man berichtet, dass aus den öffentlichen Bibliotheken, den Schulen und Buchläden sämtliche religiöse Literatur eingesammelt wird, und zwar gehört laut dieser Meldung die Bibel zu den Büchern, die nicht mehr im Umlauf sein sollen.

Religionsunterricht ist in den Schulplan nicht mehr mit aufgenommen, und an der Universität Tartu wird die theologische Fakultät aufgehoben. Die Kirchen dürfen ihre Art Kult bisher noch weiter betreiben, den Rundfunk aber nicht mehr benutzen. Für Geburten, Hochzeiten und Sterbefälle sind nur noch die Eintragungen auf dem Standesamt staatlich anerkannt. Früher war es strafbar, über die Geistlichkeit die Wahrheit zu sagen oder ihre Heuchelei bloßzustellen; nach der jetzigen Verfassung steht es aber allen Bürgern frei, gegen die Kirchen und gegen die Religion zu agitieren.

Wie stellen sich unter solchen Verhältnissen die neuen Machthaber zu Jehovas Zeugen und ihrer Botschaft? Hierfür enthält der Estland-Bericht, der über die sonstigen Verhältnisse im Lande mehr andeutet, als er offen ausspricht, das folgende Beispiel:

'Während dieser Bericht abgefasst wird, trifft die Nachricht ein, dass Schullehrer ihre Stellung nicht beibehalten dürfen, wenn sie die Literatur der Königreichsbotschaft verbreiten, die doch eine Bloßstellung der Religion enthält. Begründet wird diese Maßnahme damit, dass es den Anschauungen der kommunistischen Partei widerspreche, wenn sich ein Lehrer auf diese Weise betätigt. Eben jetzt ist einem unserer Brüder, der Schullehrer ist, diese Richtlinie vom Schuldirektor bekanntgegeben worden. Bei einer Unterredung mit dem Schuldirektor fragte der Bruder, ob ein Lehrer in die Kirche gehen dürfe, und das wurde bejaht. Dann fragte er, warum er denn Gott nicht so dienen dürfe, wie sein Gewissen es ihm vorschreibt und da er hierauf wohl keine Antwort erhielt, setzte er dem Schuldirektor den Unterschied zwischen den Lehren der Religionsausübenden Kirchen und denen der Bibel auseinander. Er schloss damit, man lasse ihm keine andere Wahl, er müsse eben seine Anstellung als Lehrer aufgeben … Nach ein bis zwei Tagen erhielt der Bruder die Nachricht es sei einem Lehrer zur Zeit nicht gestattet, irgend etwas mit der Bibel zu tun zu haben, es sei denn, er bringe andern bei, die Bibel und ihre Lehren zu hassen.'

Mit den Kirchen kommen die sowjetischen Totalitätsanbeter eben zur Not noch aus, mit der Bibel aber nicht."

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1941er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte