Flaggengruß

Bei meiner Beschäftigung mit der Geschichte der Zeugen Jehovas, speziell der 30-er Jahre drängt sich mir immer wieder aufs Neue ein anderer geschichtlicher Vergleich auf. In den Jahren 1077-1122 gab es einen handfesten Streit zwischen der weltlichen Macht und der damaligen Kirche, der als "Investurstreit" in die Annalen der Geschichte eingegangen ist. Letztlich wurde da ein knallharter Machtkampf mit unterschiedlichen Siegern und Verlierern ausgefochten. Im Kern reduzierte er sich auf die Frage: Wer bestimmt über wen? Die Kirche über den Staat? Oder der Staat über die Kirche? Auch der Staat musste in dieser Auseinandersetzung Federn lassen. Der berühmt-berüchtigte Canossagang eines damaligen weltlichen Herrschers kündet davon.

Er hatte sich das eigentlich anders vorgestellt. Als er die hingeworfenen Fehdehandschuhe aufgenommen hatte, war seine Vorstellung, die Kirche in die Knie zu zwingen. Sie sollte ihm "möglichst aus der Hand fressen". Es kam etwas anders. Statt als Sieger, sah er sich plötzlich selbst in der Defensive. Zu Siegessicher wähnte er sich der Unterstützung anderer sicher. Sie aber blieb aus. Da wurden, bei dieser Gelegenheit plötzlich alte Rechnungen mit ihm beglichen. Und er vermochte sich nur durch einen zutiefst demütigenden Befreiungsschlag aus dieser Situation wieder herauszuwinden. Eben, dem Canossagang.

Aber auch für die Kirche, war danach durchaus einiges anders als vorher. Auch in ihren Kreisen hatte man davon geträumt, und es auch so praktiziert, die weltlichen Herrscher möglichst als Marionetten ansehen und behandeln zu können, wo die Kirche dabei gerne der "Strippenzieher" sein wollte.

Zieht man ein Endresümee so kann man sagen: Das seit jenen Tagen Kirche und Staat sich jeweils mit gebührendem Respekt beäugt. Keiner von ihnen wagte es hinfort, den andern zu überfordern (jedenfalls in der Regel nicht - die bekanntlich nie ohne Ausnahmen ist).

In der Neuzeit wurde dieser "Investurstreit" erneut von den Bibelforschern/Zeugen Jehovas auf die Tagesordnung gesetzt. Mittlerweile halbe Bibliotheken sind schon voll geschrieben worden, über die Auseinandersetzung zwischen Zeugen Jehovas und dem Nazistaat. Als es einige Jahre nach seinem wohlverdienten Ende, ein erneutes Zeugen Jehovas-Verbot durch die "DDR" gab, vermerkte ein zeitgenössischer kirchlicher Kommentar aus dem Jahre 1950 dazu. Das die Widerständigkeit der Zeugen Jehovas gegen das Naziregime (und die "DDR") nicht deshalb erfolgte, weil jene Regime so oder so waren, sondern, dass sie eine grundsätzlichere Qualität besitzt. Genau dies ist der Punkt. Und diese grundsätzlichere Qualität habe ich mit dem Wort "Investurstreit" versucht zu umschreiben.

Man sollte es auch nicht vergessen. Etwa zweitgleich als der Kampf zwischen Hitlerdeutschland und den Zeugen Jehovas tobte. Zu just der gleichen Zeit gab es auch in den USA analoge Auseinandersetzungen. Wohl landeten die dortigen Zeugen Jehovas nicht in Konzentrationslager. Aber auch dort schlimm genug. Etliche ihrer Schulkinder wurden von öffentlichen Schulen verwiesen. Also dort wurde dieser Kampf auf den Rücken von Schulkindern ausgetragen. Wer will das bagatellisieren? Mir scheint, dass dazu überhaupt kein Anlass besteht.

Mit den Zeugen Jehovas stimme ich darin überein, dass die überzogenen staatlichen Forderungen sowohl in Hitlerdeutschland, der "DDR" und den USA zu kritisieren sind. Es wäre sicherlich etliches Leid erspart geblieben, wenn die genannten Staaten sich diesbezüglich etwas zurück genommen hätten. Aber auch den Machtansprüchen der Rutherford'schen WTG und nicht "nur" der Rutherford'schen widerspreche ich. Der Einzelne ist für diese Systeme nichts. Er ist nur Manövriermasse, gegebenenfalls auch zum verheizen bestimmt. Dies ist mein Resümee, dass ich aus diesen Kontroversen ziehe.

Zu den besonders in den USA tobenden Auseinandersetzungen um die Flaggengrußfrage, liegt auch von Rutherford persönlich, eine umfängliche Stellungnahme vor. Er hatte sie auch als Rundfunkansprache am 6. 10. 1935 verbreiten lassen. Im "Goldenen Zeitalter" vom 1. 2. 1936 ist sie dokumentiert. Rutherford schrieb da:

"Der Fall eines 8-jährigen Schuljungen, der es kürzlich ablehnte, die amerikanische Flagge zu grüßen und die Nationalhymne zu singen, hat viel Redens verursacht. Es handelt sich um den Sohn eines Zeugen Jehovas. Die Vereinigte Presse hat mich ersucht, meine Ansicht in dieser Sache bekanntzugeben. Wenn ich es hiermit tue, so geschieht es vom Standpunkte eines wahren Nachfolgers Christi Jesu aus:

Für viele bedeutet der Gruß an die Flagge eine bloße Zeremonie von wenig oder gar keiner Bedeutung. Für jene aber, die die Sache vom biblischen Standpunkte aus ansehen, bedeutet er mehr.

Die Flagge ist ein Symbol für die sichtbar herrschenden Mächte. Einen Bürger oder dessen Kinder unter Anrufung des Gesetzes zwingen zu wollen, irgendeine Sache oder einen Gegenstand zu grüßen oder sogenannte 'patriotische Lieder' zu singen, ist völlig verkehrt und ungerecht. Gesetze werden erlassen und durchgeführt um uns vor solchen offenkundigen Taten zu schützen, die jemandem Schaden zufügen. Ihr Zweck besteht keineswegs darin, eine Person zu zwingen, gegen sein Gewissen zu handeln, besonders nicht, wenn sich diese Person durch das Wort Gottes leiten lässt.

Eine Weigerung, die Flagge zu grüßen und stumm zu bleiben, wie der Knabe es tat, kann niemand schaden. Wer eine Person, die der aufrichtigen Überzeugung lebt, dass der Gruß an die Flagge dem göttlichen Willen, ihrem eigenen Gewissen und dem Worte Jehovas zuwider ist, zu einem Flaggengruß zwingen will, der tut ihr ein großes Unrecht. Der Staat ist aber nicht berechtigt, auf Grund eines Gesetzes oder sonstwie seinen Bürgern Unrecht zu tun.

Jahrhundertelang ist Satan, der Teufel, der unsichtbare Herrscher der Nationen der Erde gewesen. Gott hat dies zugelassen oder gestattet, um die menschliche Familie durch eine Probe gehen zu lassen, die offenbaren würde, wer freiwillig Gott, und wer dem Teufel dienen will. Jehova Gott erlässt seine Gebote für diejenigen, die sich auf seine Seite stellen und seine Gunst suchen: 'Du sollst keine andern Götter neben mir haben. … Du sollst dich nicht vor ihnen niederbeugen und ihnen nicht dienen.' (2. Mose 20: 3,5).

Im dritten Kapitel des Buches Daniel hat Gott einen Bericht niederschreiben lassen, wonach die Regierung Babylons, in Übertretung des göttlichen Gesetzes, eine Vorschrift erließ, die jedermann gebot, bei den Klängen der Nationalhymne niederzufallen und ein bestimmtes Bild anzubeten. Widerspenstige aber sollen in einem Feuerofen den Tod finden. Drei Hebräer, die übereingekommen waren, Jehova Gott zu dienen, weigerten sich, diesem Befehle zu gehorchen. Sie sprachen die folgenden Worte zum König: 'Es liegt keine Notwendigkeit vor, dass wir dir in dieser Sache gehorchen, und wenn man uns in ein Feuer wirft, so wird unser Gott, dem wir dienen, fähig sein, uns vom Feuerofen zu befreien, und er wird uns befreien.' Die Stunde der Prüfung war da. Die drei Hebräer kamen in den Feuerofen, wurden aber ihrer Treue wegen von Gott errettet. Durch dieses Ereignis zeigte uns Gott, dass er das Grüßen eines Symbols Babylons missbilligte.

Die heutigen Versuche, Schulkinder und andere, die an Jehova Gott glauben und ihm dienen, zwingen zu wollen, eine Flagge zu grüßen, oder ein bestimmtes Lied zu singen, stimmen genau mit dem babylonischen Gesetze überein, dass so eben erwähnt worden ist. Derjenige, der eine Flagge grüßt, drückt damit seine Hoffnung auf Errettung in das aus, was die Flagge darstellt. Nun aber kommt aber Errettung allein von Jehova.

Die Hitler-Regierung, die sich in den Nasen aller aufrichtigen Menschen stinkend gemacht hat, verlangt, dass jedermann in Deutschland einen bestimmten Gruß entbiete und 'Heil Hitler' schreie und das jene, die zuwiderhandeln, schwer bestraft werden sollen. Mehr als 1200 Zeugen Jehovas befinden sich heute in den Gefängnissen Deutschlands, weil sie sich des 'schweren Verbrechens' schuldig gemacht haben, nicht in den Gruß 'Heil Hitler' einzustimmen. Sie setzen ihr Vertrauen auf Jehova und Christus Jesus und nicht auf Menschen.

Jehovas Zeugen haben sich verpflichtet, den Geboten Jehovas und Christi Jesu zu gehorchen. Sie richten sich völlig nach den Worten Jesu, der da sagt: 'Gebet daher dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist' (Lukas 20:25). Diese Worte haben folgenden Sinn: Jehova Gott ist der Höchste. Seine Befehle stehen über jedem menschlichen Gesetz. Cäsar oder 'der Kaiser' ist ein Bild für das staatliche oder menschliche Gesetz. Alle von einem Staat oder einer Regierung erlassenen Gesetze, die Gottes Geboten nicht zuwiderlaufen, sollten von denen, die sich Jehova Gott hingegeben haben, freudig befolgt werden. Wenn indes ein menschliches Gesetz Jehovas Wort zuwiderläuft, dann kann der Christ es nicht befolgen. Die Apostel haben aus den Worten Jesu, des Meisters, die gleiche Schlussfolgerung gezogen. Als sie angeklagt standen, das Gesetz einer gewissen Provinz oder des Staates übertreten zu haben, sprachen sie vor dem Obergericht die bekannten Worte: 'Ob es vor Gott recht ist, auf euch mehr zu hören als auf Gott, urteilet ihr. … Man muss Gott mehr gehorchen als Menschen' (Apostelgeschichte 4:19; 5:29).

Jehovas Zeugen nehmen dieselbe Stellung ein. Sie gehorchen freudig jedem Gesetz des Landes, das Gottes Gesetz nicht widerspricht. Sobald aber letzteres eintritt, können und werden sie nicht gehorchen.

Wir lesen ferner in Römer 13. Vers 1: 'Jede Seele unterwerfe sich den obrigkeitlichen Gewalten.' Viele haben fälschlicherweise gedacht, dass die 'obrigkeitlichen Gewalten' die sichtbaren Herrscher der Nationen der Erde seien. Diese Schriftstelle ist aber an niemand anders als an die Nachfolger Christi Jesu gerichtet, und die 'obrigkeitlichen Gewalten' sind Jehova Gott und Christus Jesus. Jeder wahre Nachfolger Christi Jesu wird daher Gott mehr gehorchen als den Menschen.

Die Flagge der Vereinigten Staaten ist weder das Banner Christi noch dasjenige Jehovas. Es ist vielmehr ein Symbol der Regierung, durch welche diese Nation beherrscht wird. Niemand kann zu Recht behaupten, dass Gott und Christus Jesus eine Regierung beherrschen, unter der Verbrechen überhandnehmen. Menschen haben Regierungen organisiert und Satan, der Teufel, überlistete die Menschen und beherrschte sie, weil sie es abgelehnt haben, Gott zu gehorchen. Daher stehen die Nationen der Welt unter Satans Herrschaft, wie wir in Johannes 5:19 lesen: 'Wir wissen, dass wir aus Gott sind, und die ganze Welt liegt in dem Bösen.' Die Bibel offenbart in folgendem klar, dass der Teufel der unsichtbare Herrscher der Welt ist. Satan brachte Jesus auf einen hohen Berg. Da er der Gott dieser Welt war, zeigte er ihm alle Königreiche der Welt und wollte sie ihm abtreten unter der Bedingung, dass Jesus niederfalle und ihn anbete. Jesus wies ihn zurück und sprach: 'Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen' (Matthäus 4: 10).

Ein fernerer Beweis, dass Satan der Fürst oder unsichtbare Herrscher dieser Welt ist, sind Jesu eigene Worte in Johannes 18:36 'Mein Reich ist nicht von dieser Welt'. Jesus wies seine Nachfolger an, wie folgt zu beten. 'Dein Reich komme, dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel' (Matthäus 6:9-12). Auch in 2. Korinther 4:4 steht geschrieben, dass Satan der Gott dieser Welt ist und die Menschen betrügt um sie der Wahrheit gegenüber blind zu machen.

Jehovas Zeugen sind die wahren Nachfolger Christi Jesu, die seinen Geboten gehorchen. Der Herr sagte zu ihnen: 'Weil ihr nicht von der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt auserwählt habe, darum hasst euch die Welt' (Johannes 15:19), ferner in Johannes 8:23: 'Ich bin nicht von dieser Welt' und in Johannes 14:21: 'Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt.' Philipper 3:20 enthält die folgenden Worte: 'Denn unser Bürgertum ist in den Himmeln' und 1. Johannes 5:21; sowie 1. Korinther 10:14 die Warnung: 'Kinder, hütet euch vor den Götzen!'; 'darum, meine geliebten Brüder, fliehet den Götzendienst'. Diese Gebote stützen sich auf die in 2 Mose 20:4,5 erlassenen Befehle. … Jehovas Zeugen haben einen feierlichen Bund oder Vertrag geschlossen, Gott und Christus Jesus zu gehorchen. Ein Brechen dieses Bundes bedeutet ihre Vernichtung. Laut Römer 1: 31, 32 sind Bundesbrüchige 'des Todes schuldig'. Apostelgeschichte 3:23 zeigt ihnen des Weiteren, dass 'jede Seele, die Christus nicht gehorcht, ausgerottet werden soll'. Als die Stunde nahte, da Jesus zu Tode gebracht werden sollte, da zeigte der vor der versammelten Menge stehende römische Statthalter auf Jesus und sagte: 'Sehet, euer König!' Aber die Juden antworteten ihm: 'Wir haben keinen König, als nur den Kaiser' (Johannes 19: 14,15). Sie standen in einem Bunde, unter dem sie Gott hätten gehorchen sollen; die Missachtung desselben führte ihren Untergang herbei. Daher entsteht für jeden Zeugen Jehovas die Frage: 'Soll ich jedes menschliche Gebot befolgen und sterben, oder soll ich Jehova Gott gehorchen und leben?' …"

Dieser Artikel geht noch ellenlang weiter, aber es wurde im Prinzip schon genug zitiert. Meines Erachtens besteht sein Kern im Prinzip in der Machtfrage, die hier durchaus deutlich genug zum Ausdruck kommt.

Siehe auch: Gerichtliche Auseinandersetzungen in den USA

Die Ära Rutherford

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1936er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte