Juristische Schwankungen

Da hatte also das NS-Regime sein Verbot der Zeugen Jehovas ausgesprochen und das schon ziemlich am Anfang seiner "Karriere". Nun oblag es auch den Gerichten, diesbezügliche strafrechtliche Konsequenzen zu realisieren. In der kurzen Zeit des Bestehens des NS-Regimes, hatte es zwar auch schon einen wesentlichen Teil der Juristen zu sogenannten "Märzgefallenen" dass heißt zu Akklamierern des Hitlerregimes verwandelt. Aber die Zeitspanne war wohl doch noch etwas zu kurz um den Triumph registrieren zu können, dies schon bei allen Juristen erreicht zu haben. Außerdem, diese Juristen hatten ihre Ausbildung in der Regel in der Zeitspanne der sogenannten Weimarer Republik absolviert. Nicht alle waren "Wendehals" genug, sofort auf die nazistische Linie umzuschwenken.

Ein solcher Fall ist offensichtlich bei dem Sondergericht Darmstadt zu registrieren, dass sich auch mit einem Bibelforscher/Zeugen Jehovas-Prozess zu befassen hatte. In Heft 28/1934 der Fachzeitschrift "Juristische Wochenschrift" wurde der diesbezügliche Fall seiner Entscheidung vom 26. 3. 1934 referiert. Im Anschluss daran, damit keine "Missverständnisse" entstehen, aber noch ein saftiger Kommentar einer auf die Nazilinie eingeschwenkten sogenannten juristischen "Kapazität" mit angefügt. In dem fraglichen Bericht konnte man lesen:

"Rechtsprechung: Sondergericht Darmstadt. … Die Ansicht, dass die Weim(arer) R(eichs) Verf(assung) als solche und im ganzen keine Geltung mehr besitzt, ist abzulehnen. Art(ikel) 137 WeimRVerf. verstößt nicht gegen Staatsgrundsätze des Nationalsozialismus. Art 137 WeimRVerf. kann nur durch ein Verfassungsänderndes Reichsgesetz abgeändert oder außer Kraft gesetzt werden. … Die Vereinigung der Bibelforscher ist eine Religionsgesellschaft im Sinne des Art 137 WeimRVerf.

Der Staatskommissar für das Polizeiwesen in Hessen erließ unter dem 19. April 1933 … folgende Anordnung: 'Die Propaganda der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung (auch Bibelforscher Zeugen Jehovas) hat wiederholt zur Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung geführt. Die Vereinigung steht außerdem im Verdacht, mit den marxistischen Parteien in Verbindung zu stehen. Auf Grund der VO des R(eichs)Präs(identen) zum Schutze von Volk und Staat vom 28. Febr. 1933 verbiete ich deswegen alle Versammlungen von Angehörigen dieses Bundes und jede Propaganda desselben, insbesondere durch Verbreitung von Druckschriften. Das zur Durchführung des Verbotes Erforderliche wollen sie veranlassen.' Die Anordnung war an die Hessischen Kreisämter und die sonstigen polizeilichen Behörden gerichtet und wurde durch Veröffentlichung bekanntgemacht. …

Sämtliche Angekl(agten) bekannten sich als Anhänger der Internationalen Bibelforschervereinigung. Sie wurden beschuldigt, innerhalb nicht rechtsverjährter Zeit … fortgesetzt gemeinsame Versammlungen der Vereinigung internationaler Bibelforscher veranstaltet, für die Vereinigung Propaganda gemacht, sich an ihr als Mitglied beteiligt, sie unterstützt und ihren organisatorischen Zusammenhalt aufrechterhalten zu haben, obwohl ihnen das Verbot der Vereinigung bekannt gewesen sei. Darin wird ein Vergehen gegen die oben mitgeteilten Anordnungen … erblickt. Die Angkl. geben sämtlich zu, dass ihnen das ausgesprochene Verbot ihrer Organisation bekannt war. Es wurde ihnen wenigstens teilweise sogar einzeln durch die zuständige Gendarmeriestation eröffnet.

Die Angekl. waren freizusprechen, da die bezeichneten Anordnungen rechtsungültig sind, weil sie gegen Art. 137 Abs(atz) 2 WeimRVerf. … verstoßen, der rechtsgültig fortbesteht. Es kann zunächst von der St(aats)A(nwaltschaft) angenommen, auch im Schrifttum vertretenen … Auffassung nicht zugestimmt werden, wonach die Weimarer Verfassung als solche und im ganzen nicht mehr gelten soll. Dagegen spricht sachlich, dass sonst heute ganze Institutionen auch unseres gegenwärtigen Verfassungsleben in der Luft hängen würden und das keineswegs der gesamte Inhalt der sog. Weimarer Verfassung mit den Staatsgrundsätzen des Nationalsozialismus unvereinbar ist. Formell, dass die Reichsgesetzgebung selbst auf der Grundlage des Fortbestehens der RVerf. fußt, soweit ihre Bestandteile nicht im Einzelnen durch die staatsrechtliche Entwicklung im Gefolge der nationalsozialistischen Revolution beseitigt worden sind.

Das nationalsozialistische Deutschland hat die Religionsfreiheit nicht angetastet und gedenkt dies auch, wie sich insbesondere aus den eigenen Worten des Führers und anderer Männer ergibt, nicht zu tun. Das in J(uristische) W(ochenschrift) 1934, 767 veröffentlichte Urt. des R(eichs) G(erichts) vom 23. Jan. 1934, dass sich mit einem sächsischen Verbot der ernsten Bibelforscher befasst, hält die grundsätzliche Fortgeltung der nicht beseitigten Bestimmungen der Verfassung und insbesondere ihres Art. 137 offenbar für so selbstverständlich, dass es sich mit der Frage nicht erst ausdrücklich befasst.

Die Vereinigung der Bibelforscher muss aber - darüber hat die Beweisaufnahme keinen Zweifel gelassen - als Religionsgesellschaft im Sinne des Art. 137 anerkannt werden. Sie stellt eine festgegründete, umfassende Vereinigung der Anhänger eines in seinen Lehren und Anschauungen von den übrigen christlichen abweichenden Glaubensbekenntnisses dar, die sich über das gesamte Reichsgebiet erstreckt.

Die Selbständigkeit des Glaubensbekenntnisses ergibt sich z. B. aus der Verwerfung der Dreieinigkeitslehre, der Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, vom Fegefeuer.

Positiv ergibt sich die eigene Lehre aus dem Bekenntnis der Menschheit Jesu neben der Gottheit Christi; die Seele befindet sich nach dem Tode im Zustande der Bewusstlosigkeit im Grabe. Bei Ausbruch des tausendjährigen Reiches nach der Wiederkehr Christi erwachen die Nichtauserwählten aus dem Todesschlaf; die Willigen und Gehorsamen werden dann auf einer wiederhergestellten Erde in menschlicher Vollkommenheit leben, während die Unverbesserlichen im zweiten Tode auf ewig vernichtet werden.

Der Weltenlauf zerfällt in drei große Zeitabschnitte; die Zeit bis zur Sintflut; die 1874 durch die unbemerkte Wiederkehr Christi zu Ende gegangene arge Welt und von da durch die Übergangszeit der Ernte des tausendjährigen Reich, welches 1914 anbrechen sollte.

In der Erfüllung des durch das religiöse Bekenntnis gegebenen Zwecke und Aufgaben erfasst die Vereinigung ihre Gemeinschaftsglieder vollständig; nicht etwa werden nur bestimmte einzelne religiöse Ziele … verfolgt und der einzelne Bibelforscher kann keiner anderen Religionsgesellschaft angehören. Auch die Gottesdienste werden nach eigenem Ritus abgehalten. Nach alldem und auf Grund der dauerhaften und festen Organisation der Vereinigung der ernsten Bibelforscher, die als deutscher Zweig ihre Hauptleitung in Magdeburg haben, kann ihr die Eigenschaft als Religionsgesellschaft nicht abgesprochen werden."

Zu dem eben zitierten Urteil, wurde an gleicher Stelle noch ein Kommentar von Prof. Dr. E. Huber (Kiel) veröffentlicht. Letzterer schreibt:

"Das Urteil wird von rechtsirrigen Erwägungen getragen und kommt zu einem unhaltbaren Ergebnis. Die Grundprinzipien der Weimarer Verfassung sind Formulardemokratie, Parlamentarismus, Föderalismus, Gewaltenteilung, Grundrechte; sie bilden die Substanz und den Geist des Weimarer Systems und die Weimarer Verfassung 'gilt' nur solange diese fünf Säulen, auf denen sie ruht, staatsrechtlichen und politischen Bestand besitzen. Die nationalsozialistische Revolution hat diese fünf tragenden Prinzipien des Weimarer Systems von Grund auf zerstört.

An die Stelle der überholten Grundprinzipien des Weimarer Systems sind unmittelbar mit dem Siege die Grundsätze nationalsozialistischer Staatsauffassung getreten; diese sind der völkische Gedanke, das Führerprinzip und die politische Totalität.

Aber es ist in jedem einzelnen Fall besonders nachzuweisen, dass ein alter Verfassungsgrundsatz übernommen worden ist, und man kann nicht umgekehrt aus der Tatsache, dass er nicht ausdrücklich aufgehoben worden ist, auf seinen Fortbestand schließen.

Die heutige Gesetzgebung hat nur aus Gründen der äußeren Ordnungsmäßigkeit und Ruhe (Legalität) im Gesetz v. 24. März 1933 sich eines formellen Verfahrens der Weimarer Verfassung bedient, aber sie fußt damit nicht in der Sache auf der Weimarer Verfassung und leitet ihre Rechtfertigung (Legitimität) nicht aus ihr her.

Aber ebenso selbstverständlich erkennt der nationalsozialistische Staat dieses Recht der religiösen Vereinigungsfreiheit nur unter einem bestimmten Vorbehalt an; die Freiheit des religiösen Bekenntnisses besteht nur; soweit sie nicht das Volk und den Staat gefährden; auch das geht aus dem Punkt 24 (des NSDAP-Programms) aufs Klarste hervor.

Der Art 137 Abs. 2 ist vom nationalsozialistischen Staatsrecht (wie alle übrigen Religionsartikel der Weimarer Verfassung) nur mit dem Vorbehalt übernommen worden, den der Punkt 24 des Parteiprogramms mit voller Deutlichkeit formuliert. Auch die am 23. März 1933 vor dem R(eichs) T(ag) abgegebene Erklärung der Reichsregierung lässt daran kaum Zweifel. Staats- und volksfeindliche religiöse Vereinigungen genießen den Schutz des Art. 137 Abs. 2 nicht.

Dass die Internationale Vereinigung ernster Bibelforscher eine volks- und staatsfeindliche Gruppe ist, kann nach den Feststellungen des Urteils nicht zweifelhaft sein. Die Bibelforscher verwerfen den Staat überhaupt als 'Teufelswerk'; sie sind Kriegsdienstverweigerer, unterliegen unkontrollierbaren ausländischen Einflüssen und zeugen judaisierende Tendenzen; und das Urteil selbst verkennt ihren staatsgefährlichen Charakter nicht. Im übrigen ist die Frage, ob im Einzelfall eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegt von den zuständigen Exekutivbehörden nach ihrem Ermessen zu entscheiden und für die Gerichte nicht nachprüfbar.

Der von der zuständigen Staatsbehörde bindend festgestellte volks- und staatsfeindliche Charakter der Vereinigung schließt aus, dass sie den Schutz des Art. 137 Abs. 2 für sich in Anspruch nimmt. Ihre Auflösung und das Betätigungsverbot widerspricht daher dem Art. 137 Abs. 2 nicht, und die Angeklagten hätten … verurteilt werden müssen. … Das alte formale Gesetzesstaatliche Denken hat meines Erachtens hier zu einem klaren Fehlurteil geführt."

ZurIndexseite

1934er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte