"Die Krise"

Aus Polen wurde im Jahre 1933 berichtet, dass es dort auch zu einer Beschlagnahmung der WTG-Literatur gekommen war. Schließlich gelang es jedoch, dieses Verbot wieder rückgängig zu machen, was im "Wachtturm" vom 1. 8. 1933 als großer Sieg gefeiert wurde. Bemerkenswert in diesem Bericht auch die Ausführungen über die Rutherford-Broschüre "Die Krise" die sich offenbar als besonderer Knackpunkt erwies. Der diesbezügliche Bericht vermerkt, dass die polnischen Behörden "jedoch eine ganze Woche hindurch die Krisebroschüre (prüfte) und war ganz unschlüssig, ob sie freigegeben werden solle oder konfisziert werden müsse, da sie vom Standpunkt ausging, was gegen die amerikanische Regierung geschrieben sei, beziehe sich in Wirklichkeit auch auf die hiesige Regierung. Doch schließlich gab die Zensur den Neudruck dieser Broschüre frei."

Auch in Deutschland wurden schon Anfang 1933 besondere Aktivitäten unternommen um speziell die "Krise"-Broschüre zu verbreiten (über 2 Millionen Exemplare allein in Deutschland). Die ersten regionalen Verbote in Bayern und Sachsen nahmen dann auch prompt jene Broschüre als formalen Anlass dafür.

Das "Bulletin für Jehovas Zeugen" vom Februar 1933 vermerkt dazu:

"Lasst uns als Jehovas Zeugen diese Broschüre 'Die Krise' mit größerer Energie verbreiten, als dies mit irgend einer früheren Schrift geschehen ist, denn die Krise ist da."

Man vergegenwärtige sich dazu auch den soziologischen Hintergrund. Nach dem 1918 beendeten Weltkrieg, mit seinen unermesslichen Leiden, war die nächste Folgewirkung in Form der Inflation schon absehbar. Sie bewirkte, mit Ausnahme einiger weniger Kriegsgewinnler, eine Verelendung breiter Bevölkerungsschichten. Kaum war sie mehr schlecht als recht überwunden, setzte 1929 die Weltwirtschaftskrise ein. Wenn man heutzutage feststellt, dass breite Bevölkerungsschichten als nicht politisiert betrachtet werden müssen, dann war das damals anders. Fast jeder war in der einen oder anderen Form von den skizzierten Kriterien mitbetroffen. Diese persönliche Betroffenheit fand auch ihren Niederschlag in politischer Polarisierung, beispielsweise bei den Nazis oder den Kommunisten. Und das in einem Umfang, von dem heutige politische Parteien nur "träumen" können. Letztendlich sind auch die Bibelforscher/Zeugen Jehovas in diesem Kontext einzuordnen. Lässt man mal einen Moment ihre Hauptthese, dass "nur Gott" die Verhältnisse zu ändern vermag beiseite, so wird der unvoreingenommene Beobachter zu konstatieren haben, dass sie in religiöser Phraseologie auch jene Befindlichkeit widerspiegelten, die im linken politischen Spektrum, beispielsweise die Kommunisten auch motivierten.

Gerade das Beispiel der Broschüre "Die Krise" liefert etliche Veranschaulichungsbeispiele dafür. Etwa, wenn Rutherford bezugnehmend auf die USA schreibt:

"Einige wenige Schwerreiche setzen die Preise für die Lebensmittel fest, die die Farmer erzeugen und von den Landarbeitern eingeerntet werden. Dadurch sind die Farmer beraubt und die Arbeiter zum Hungern verurteilt worden, und das im reichsten Lande der Welt!

Das Großgeschäft besitzt die Schiffe, die die Meere befahren und durch die Luft segeln. Es besitzt die Eisenbahnen und die anderen Verkehrsmittel. Es besitzt die besten Wertpapiere der allgemeinen Transportgesellschaften, während einige aus dem Volke die minderwertigen Aktien und Schuldverschreibungen haben.

Im Dienst des Großgeschäfts stehen die gerissensten Rechtsanwälte, die es verstehen, die Verträge immer zugunsten ihrer Klienten zu formulieren; das Volk aber muss mit dem mageren Ende fürliebnehmen. Jeder Zweig der Regierung ist durch das Großgeschäft verunreinigt und unrechtlich beeinflusst. Es beherrscht die beiden größten politischen Parteien Amerikas, und nach seinem Willen werden die Männer, die seinen eigennützigen Interessen am besten zu dienen versprechen, zu den öffentlichen Ämtern ernannt und auch gewählt. Das Großgeschäft beherrscht das Heer und die Marine, die Kanonen und die Munition sowie die gesamte Polizeimacht der Nation.

Praktisch genommen sind alle Geschäftskorporationen Amerikas im Besitz und unter Kontrolle des Großgeschäfts.

Das Großgeschäft besitzt oder kontrolliert direkt oder indirekt fast alle Zeitungen und Zeitschriften Amerikas und bedient sich ihrer zur Propaganda für sich selbst und seine politischen und religiösen Verbündeten" (S. 7, 8).

Besonders beachtlich auch der Satz von Rutherford:

"Ich wage die Meinung auszusprechen, dass Amerika bald von einem Diktator regiert werden wird, dem eine Schar von Verrätern zur Seite stehen werden, die von den Häuptern des Großgeschäfts ausgewählt und geleitet sein werden. Es wird eine militärische Herrschaft sein, die das Volk zwingen wird, ihr untertan zu sein" (S. 18).

Mit letzterer Bemerkung hatte Rutherford naturgemäß auch die Nazis tangiert. Gerade dies war doch ihr Regierungsprogramm, die faktische Militärdiktatur. Nur das sie es nicht liebten, dass dies so ausgesprochen würde. Man betonte da lieber das "Nationale" dem man angeblich verpflichtet sei usw. usf. Es wäre müßig, den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte nach 1933 hier zu wiederholen.

Jedenfalls "getroffene Hunde bellen laut". Den Nazis war durchaus klar, dass jene Ausführungen von Rutherford, die sich formal nur auf die USA bezogen, auch eine deutsche Entsprechung hatten. Und entsprechend folgerichtig, reagierten sie auch darauf.

Beachtlich auch jene Notiz in dem internen Mitteilungsblatt "Bulletin" (Magdeburger Ausgabe) vom Mai 1933:

"Das Ministerium für Propaganda und Aufklärung hat an uns das Ersuchen gerichtet, den Umschlag der Broschüre 'Die Krise' nicht mehr in den Verkehr zu bringen. Wenn irgend jemand noch Broschüren 'Die Krise' hat, bitten wir, den Umschlag herunterzureißen. Die Broschüre kann dann für die Häfte des Preises ... abgegeben werden. Nichtbachtung dieses Ersuchens kann zu ernsten Komplikationen für den Verbreiter führen, und der Inhalt der Broschüre ist ja auch das wichtigste."

Die Analyse der weltpolitischen Lage durch Rutherford wäre das eine. Das andere wäre dann die Empfehlungen, die er davon ausgehend seiner Anhängerschaft gab. Auch diesbezüglich ist die "Krise"-Broschüre deutlich genug. Etwa wenn er äußert:

"Möchten alle denkenden Menschen, die das Rechte wollen, ja davon abstehen, eine Revolution zu befürworten, und sich von aller Gewalt zurückhalten. Niemand, der an Jehova glaubt und ihm dient, wird zu Gewalttat greifen. Dies ist der Kampf Jehovas. …

Jehova sagt ihnen jetzt durch seinen Propheten, dass sie stille sein und auf ihn warten und achtgeben sollen, was er tun wird. … " (S. 19, 21).

Damit schließt sich der Kreis wieder. Formal geht Rutherford auf die Befindlichkeit jener ein, die da meinen berechtigten Grund zur Kritik an der Tagespolitik zu haben. Zugleich neutralisiert er diese Kritik. Er setzt, wie auch schon Russell alles daran, dass der gegenwärtige politische Status quo erhalten bleibe.

Ein langer Kommentar dazu, erübrigt sich eigentlich. Schon lange vor Russell, Rutherford und den heutigen Zeugen Jehovas, hatte ein Mann namens Karl Marx dafür einen treffenden Vergleich gewählt. Er sprach davon, dass die Religion mit dem Rauschgift Opium zu vergleichen sei. Einer der namhaftesten Dealer diesbezüglich sind ganz offensichtlich die Zeugen Jehovas in Vergangenheit und Gegenwart!

1933er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

Rutherford Die Krise pdf

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