Gegen "heroisches Kraftchristentum"

Nach dem 30. Januar 1933 war es klar. Das Hitlerregime hatte in Deutschland die Macht an sich gerissen. Eine dezidierte, ins Detail gehende Stellungnahme der Zeugen Jehovas, vor 1933, zum Hitlerismus ist meines Wissens in ihrer deutschen Literatur nicht nachweisbar. Wenn es beispielsweise seitens der Kirchen durchaus vor 1933 etliche kritische Stellungnahmen zum Hitlerismus gab (aber auch Akklamationen), so sucht man adäquates vergeblich in der Literatur der Zeugen Jehovas. Nach dem 30. 1. 1933 bestand eine andere Situation. Wie man weiß überschlugen sich die Ereignisse förmlich. Schon im Juni 33 waren die Zeugen Jehovas Reichsweit verboten. Aber noch in ihrer Berlin-Wilmersdorfer Erklärung vom 25. 6. 1933 versuchten sie auf Anbiederungskurs zu schwimmen, etwa mit ihrer Ausführung:

"Eine sorgfältige Prüfung unserer Bücher und Schriften wird deutlich zeigen, dass die hohen Ideale, die sich die nationale Regierung zum Ziel gesetzt hat und die sie propagiert, auch in unseren Veröffentlichungen dargelegt, gutgeheißen und besonders hervorgehoben werden. … Man möchte uns gestatten hier darauf aufmerksam zu machen, dass in Amerika, wo unsere Bücher geschrieben werden, Katholiken als auch Juden sich miteinander verbunden haben in der Beschimpfung der nationalen Regierung in Deutschland und in dem Versuch, Deutschland zu boykottieren wegen der von der nationalsozialistischen Partei verkündigten Grundsätze."

Das dies zeitgenössisch als Anbiederung verstanden werden sollte und auch wurde, wird auch durch das im Bundesarchiv nachweisbare Memorandum des Pastors Karl Gerecke aus dem Jahre 1933, zum Zeugen Jehovas-Verbot deutlich. Gerecke polemisiert darin, genau gegen diese Anbiederungspassagen, die er scharf zurückweist um damit zu sagen, der Nationalsozialismus habe nichts mit den Zeugen Jehovas gemein (im Gegensatz zu ihrer eigenen Darstellung).

Im März 1933 hatte das Hitlerregime eine kirchenpolitische Offensive begonnen. In einer Reichstagsrede hatte Hitler den Kirchen "Honig ums Maul" geschmiert. Wer beim lesen jener Rede mal seinen kritischen Verstand ausschaltete, der konnte und sollte den Eindruck gewinnen, der Hitlerismus wäre "der" Beschützer des Christentums. Es gab genug, die willig auf diesen ausgelegten Leim heraufkrochen. Als besonderes "Paradebeispiel" wurde da auch besonders Thüringen bemüht. In jenem deutschen Teilstaat hatten die Nazis schon vor 1933 das Sagen, und dort hatten sie ihre angebliche "Kirchenfreundlichkeit" vorexerziert.

Das atheistische Freidenkertum wurde von den Nazis verfemt (Balsam für die Seele der Kirchenleute). In jenem Thüringen ging man noch einen Schritt weiter und führte im Bildungswesen sogenannte obligatorische "Schulgebete" ein. Wer bei deren Bewertung seinen kritischen Verstand ausschaltete (auch das taten viele Kirchenleute nur zu gern), der konnte sich der Illusion hingeben, dies sei ein weiterer Beweis der Kirchenfreundlichkeit des Hitlerregimes. Mit Speck fängt man bekanntlich Mäuse, und das Hitlerregime verstand es durchaus solche Köder auszulegen.

Auch die Zeugen Jehovas, dies ist nun besonders beachtlich, nahmen zum Thema "Schulgebete" in ihrer Literatur Stellung. Liest man jenen Text heute, so wird man sagen dürfen, es ist eine inhaltliche Ablehnung. Aber bekanntlich macht der "Ton auch die Musik". Und gerade dieser "Ton" verrät, eine gewisse betonte Zurückhaltung, die letztendlich im Kontext der oben skizzierten Anbiederungsstrategie einzuordnen ist.

In der (Schweizer) Ausgabe ihres "Goldenen Zeitalters" vom 1. 3. 1933 konnte man unter der Überschrift "Hitlers positives Christentum" lesen:

"Auf Seite 17 des gedruckten Hitlerprogrammes können wir folgenden Passus in Bezug auf Hitlers religiöse Einstellung lesen: 'Gewiss greifen wir mit größter Schärfe die volksverderbende Politik des Zentrums (deutsche katholische Regierungspartei) und der Bayerischen Volkspartei an, die zwar bei jeder Gelegenheit in den Angstruf ausbrechen 'die Religion ist in Gefahr', nur nicht, wenn sie mit der atheistischen, gottesleugnerischen Sozialdemokratie ihre politischen Geschäfte machen. Gerade weil uns die Beziehungen des Menschen zu seinem Herrgott so hoch und heilig sind, wenden wir uns dagegen, dass die Religion in den Dreck des politischen Tageskampfes heruntergezerrt wird. Positiv wird unsere Einstellung zum Christentum vielleicht am besten umschrieben durch die von Minister Dr. Frick empfohlenen Schulgebete, die ich am Schlusse nachfolgen lasse, es mag sich dann jeder Katholik und Deutscher seine Gedanken machen, wenn er hört, dass diese Gebete 'jedem katholischen Empfinden ins Gesicht schlügen', wie Zentrumspresse schrieb, während der Zentrumsminister Dr. Wirth an das thüringische Staatsministerium am 12. Mai 1930 schrieb, 'dass es ihn als den Reichsminister schmerzlich berühre, wenn Dr. Frick Schulgebete empfehle, in denen stehe: 'Herr, mach uns frei von Betrug und Verrat!' und ich weiß, dass Vaterlandslosigkeit und Gottlosigkeit unser Volk vernichten.'

Solche Sätze seien mit Sinn und Geist der Weimarer Verfassung nicht in Einklang zu bringen!'"

Die WTG zitiert dann solch ein Schulgebet:

"Vater, in deiner allmächtigen Hand

Steht unser Volk und Vaterland.

Du warst der Ahnen Stärke und Ehr

Bist unsere ständige Waffe und Wehr.

Drum macht uns frei von Betrug und Verrat

Macht uns stark zu befreiender Tat.

Gib uns des Heilandes heldischen Mut

Ehre und Freiheit sei höchstes Gut.

Unser Gelübde und Losung stets sei:

Deutschland, erwache! Herr nach uns frei!"

Der Kommentar der WTG dazu:

"Inwiefern dieser religiöse Standpunkt Hitlers mit dem Sinn und Geist der Bibel und mit wahrem oder positivem Christentum im Einklang steht, möchten wir dem Individuellen Urteil oder religiösem Empfinden unserer werten Leserschaft selbst überlassen. Eines steht jedenfalls fest, dass Gott Jehova nichts mit dem heroischen Kraftchristentum, dass aus obigem … Schulgebet spricht, zu tun hat."

Noch ein bemerkenswertes Dokument aus dem Jahre 1933 ist überliefert. Im April 33 wurde für die engere Anhängerschaft ein sogenanntes "Sonder-Bulletin für Jehovas Zeugen" veröffentlicht. Aus ihm sei nachstehend zitiert:

"Eine genaue Betrachtung der Broschüre 'Die Krise' wird jedem den augenfälligen Beweis dafür liefern, dass die Botschaft dieser Broschüre gerade zur richtigen Zeit den Völkern der Welt und ihren Führern unterbreitet wird.

Wir verstehen völlig, dass die große Lektion darin liegt, dass alle Menschen lernen müssen, dass Hilfe und Errettung nur von Jehova kommen kann. … Jehovas Zeugen jubeln über die Tatsache, dass die Krise da ist, die in einer völligen Wiederzuwendung der Menschen zu Jehova enden wird. Deshalb rufen wir Euch noch einmal, kurz vor Beginn dieses größten aller Zeugnisse zu: Macht jede mögliche Anstrengung, dass diese Botschaft das Volk erreicht!

… Die allgemeine Umstellung in Deutschland hat naturgemäß auch hier und da eine gewisse Unsicherheit in der Behandlung unserer Tätigkeit hervorgerufen. Die in der Vergangenheit gegen uns durch falsche Meldungen erzeugten Vorurteile und falschen Auffassungen haben an einigen Stellen auch zu Übergriffen gegen Ortsgruppen und ihre Veranstaltungen geführt. Aber nach dem bisherigen schnellen Handeln der neuen Regierung ist zu erwarten, dass in kürzester Zeit Verhältnisse geschaffen werden, die es möglich machen zu beurteilen, welche Arbeitsmöglichkeiten und gesetzlichen Grundlagen vorhanden sein werden. Der gegenwärtig Zustand kann als für unsere Angelegenheiten zwar ungeklärt, aber vorübergehend bezeichnet werden. Wir bitten daher die Gruppen, in allen Fällen, in denen irgendwelche örtlichen Maßnahmen gegen die Arbeit und die Gruppen unternommen werden, unter keinen Umständen von sich aus irgendwelche Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Bitte meldet alle vorkommenden Angelegenheiten zunächst hierher, damit die juristische Abteilung entsprechende Verhandlungen mit den betreffenden Stellen in die Wege leiten kann.

Soviel wir bisher die Stellung der neuen Regierung zur religiösen Frage beurteilen können, will sie wie aus ihren Veröffentlichungen zu schließen ist, die religiöse Freiheit jedes Staatsbürgers, dass heißt auch die Gedankenfreiheit und die Möglichkeit, sich frei und ungehindert in Wort und Schrift religiös zu betätigen, nicht nur bestehen lassen, sondern auch schützen. Das würde bedeuten, dass auch unsere Tätigkeit den Schutz der Regierung zu beanspruchen hätte.

Wir stehen als Zeugen Jehovas in der gegenwärtigen Stunde den Fragen der Politik ebenso unparteiisch gegenüber, wie wir dies in früheren Zeiten getan haben. Unsere Aufgabe ist es nicht, irgendeine Stellung in politischer Beziehung einzunehmen, sondern Zeugnis seines Namens und seiner Wahrheit. Wir geben daher den Rat, dass jeder Geweihte sich in der gegenwärtig so aufgeregten Zeit noch viel mehr als bisher sorgfältig jeder Kritik in irgendeiner Angelegenheit der Dinge dieser Erde enthält und nichts weiter tut als das, was seine Aufgabe ist, nämlich die Menschen hinzuweisen auf die große Hoffnung der baldigen Segnung aller Menschen der Erde durch Jehova Gott und sein Königreich. …

Sollte in Unkenntnis dieser unserer rein religiösen Stellung und Tätigkeit hier und da irgendeine ungerechte Maßnahme erfolgen (an einem Platz hatte man die politischen Verordnungen herangezogen zur Auflösung unserer Versammlungen), dann geben wir den Rat, auch in einem solchen Fall an dem Ort selbst gegen diese Maßnahme für den Augenblick nichts zu unternehmen, sondern nur die Meldung hierher zu geben. Es ist selbstverständlich, dass in einer Zeit, die so voll Kampf und naturgemäß damit verbundener Erregung ist, auch einmal eine ungerechte Maßnahme einsetzen kann. Wir sind aber der Zuversicht, dass sich in absehbarer Zeit die Verhältnisse, soweit klären werden, dass dann durch die Zentralleitung der Vereinigung die nötigen Schritte in die Wege geleitet werden können. Wir ersuchen die Geschwister auch, keinerlei Beeinflussung von Freunden der Wahrheit in irgendeinem politischen Sinne vorzunehmen. Die politische Einstellung der Menschen, die unsere Versammlung besuchen, ist darum nicht von Interesse für uns, weil wir nicht den Auftrag haben, die Menschen in diesem oder jenem Sinne in Fragen der Politik zu belehren, sondern nur den Auftrag haben, die Menschen - einerlei, welche sie auch sein mögen - zu Jehova Gott zu führen und mit seiner Wahrheit bekannt zu machen.

Die einzige Ausnahme entschiedener und positiver Ablehnung, die wir jederzeit betont haben, betonen wir auch gegenwärtig und werden sie immer betonen, nämlich unsere Ablehnung aller Bewegungen, die da meinen, die Befreiung der Menschen ohne Jehova Gott bewirken zu können. Außer dieser absoluten Ablehnung aller die göttliche Wahrheit der Bibel verneinenden Weltanschauungen ersuchen wir die Zeugen Jehovas und Glieder der Bibelforscher-Vereinigung Deutschlands, keinerlei Meinungsäußerungen politischer Art irgendwie zu machen und auch politische Diskussionen lieber zu meiden. Wir bleiben nach wie vor bemüht, alle in Betracht kommenden Stellen bei Behörden, Gerichten usw. auch weiterhin davon zu überzeugen, dass unsere Tätigkeit und die Tätigkeit unserer Freunde eine rein christlich-religiöse ist, dass heißt das sie das ist, was die Bibel in Matthäus 24 fordert: das Predigen des Evangeliums."

Es war offensichtlich, dass die WTG ihre Weltfremdheit versuchte noch gegenüber dem Naziregime als vermeintlichen "Trumpf" zu verkaufen. Wer die Politik des Naziregimes beobachtete, dem konnte es nicht entgangen sein, dass es in seinem Bestreben lag, eine Revision des Versailler Vertrages vom Ausgang des Ersten Weltkrieges zu erreichen. Das seitens des Naziregimes der "Völkerbund" als Buhmann aufgebaut wurde. Es ist bezeichnend, dass die Zeugen Jehovas in ihrer 33-er Juni-Erklärung, jenen "Ball" der Polemik gegen den Völkerbund mit aufnahmen, in der irrtümlichen Annahme, damit eine Verständigungsbasis mit dem Naziregime zu haben. In jener Zeugen Jehovas-Erklärung konnte man bezüglich des "Völkerbundes" lesen:

"Man hat das, was in unseren Büchern oder Schriften über den Völkerbund gesagt wurde, als Grund angenommen, unsere Tätigkeit und die Verbreitung unserer Bücher zu verbieten. Wir möchten die Regierung und das deutsche Volk daran erinnern, dass es der Völkerbund war, wodurch dem deutschen Volke große, ungerechte und unerträgliche Lasten auferlegt wurden. Jener Völkerbund ist nicht von den Freunden Deutschlands gemacht worden."

Die Nazis dachten nicht daran, auf diesen so ostentativ hingeworfenen Köder einzugehen. Eine differenzierte Einschätzung der Zeugen Jehovas kann man den Nazis mit Sicherheit nicht unterstellen. Aber in ihrem "emotionalem Unterbewusstsein" war ihnen durchaus klar, dass jene Anbiederungspassage nicht das Papier wert ist, auf dem sie stand.

Hätten sich die Nazis schon 1933 intensiv mit den Zeugen Jehovas befasst (was ich allerdings ausdrücklich verneine). Gesetzt den Fall, es wäre doch so gewesen, dann hätte ihnen durchaus klar sein können, dass hier zwar in Worten ein gewisser "Gleichklang" versucht wurde. Das aber in der Sache Welten dazwischen lagen.

Für die Nazis war es klar, dass sie ihre eigenen Interessen selbst zu vertreten gedachten. Für eine Entmündigung unter dem Wortschwall religiöser Floskeln, hatten sie nicht das geringste Verständnis. Genau diese Forderung der politischen Entmündigung, beinhaltet jedoch die Zeugen Jehovas-Lehre in Sachen Völkerbund. Symptomatisch kommt dies auch in der 1933 erschienenen Rutherford-Broschüre "Ursache des Todes" zum Ausdruck. Gibt jene (zum Jahresende 1933 erschienene) Broschüre auch formal vor, sich mit einer religiösen Frage zu befassen, so ist in ihr auch jener Absatz besonders beachtlich, der auf den Völkerbund Bezug nimmt. Man konnte dort lesen (S. 25):

"Durch den Völkerbund kann niemals dauernder Friede gebracht werden, weil der Herr in Jesaja, im 8 Kapitel, spricht:

'Beschließt einen Ratschlag, … und es soll nicht zustande kommen.' Und wiederum sagt der Herr in 1. Thessalonicher 5: 'Wenn sie sagen: Friede und Sicherheit! Dann kommt ein plötzliches Verderben über sie.' Gerade zur Zeit, wenn diese Nationen sich zusammenschließen, schamlos vorgeben, Gott zu vertreten, und in spöttischer Weise behaupten, sein Königreich aufzurichten, haben die Worte des Propheten Gottes in Daniel 2: 44 Anwendung, wo es heißt: 'Und in den Tagen dieser Könige wird der Gott des Himmels ein Königreich aufrichten, welches ewiglich nicht zerstört, und dessen Herrschaft keinem andern Volke überlassen werden wird, es wird alle jene Königreiche zermalmen und vernichten, selbst aber ewiglich bestehen.' Hier haben wir die positive Erklärung, dass weder der Völkerbund noch irgendein Zusammenschluss von Menschen etwas mit Gottes Königreich unter Christi Herrschaft zu tun haben wird."

1933er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

ZurIndexseite