Alter Kaufmannstrick

Die seinerzeitige Zeitschrift "Der sozialistische Freidenker" kommentierte in ihrer Ausgabe Nr. 8/1930:

"Internationale Vereinigung ernster Bibelforscher. Diese Gesellschaft mit dem anmaßenden Namen, die sich heute mit aufdringlicher Reklame überall breitmacht. Um die etwa darüber misstrauisch werdenden Gläubigen zu beruhigen, redet man sich auf die schon fällig gewesenen aber nicht eingetroffenen Prophezeiungen mit einem Berechnungsfehler heraus, und für zukünftige Ereignisse gibt man dann vorsichtigerweise kein Datum mehr an. Auf diese nichtssagende Art kann man natürlich alles prophezeien, und findet doch merkwürdigerweise genug Dumme, die darauf hineinfallen. … Aber wenn man heute das Gebaren der Bibelforscher sieht, kann man ohne Übertreibung behaupten, dass Russells Nachfolger in der Leitung ihren Meister noch übertreffen, was Anmaßung und Geschäftsgerissenheit betrifft. Überboten wird dieser Kulturskandal höchstens noch von der Dummheit der Massen, die den Gimpelfängern auf dem Leim gehen. Zu ihrer Entschuldigung kann man nur sagen, dass die Drahtzieher dieser Gesellschaft es gar zu schlau anfangen. Das Volk hat eingesehen, dass die Landeskirchen heute keine Berechtigung mehr haben. Was tun darauf die Bibelforscher? Sie schreiben eine glühende Kirchenfeindschaft auf das Schild ihrer Firma und erreichen mit diesem alten Kaufmannstrick, dass ihnen die Gläubigen nur so zuströmen. Das unbelehrbare Volk sieht ja nicht, dass es eben nur zur Konkurrenz übergeht, die im Grunde nichts anderes tut, nämlich den Dummen die Tasche zu leeren und sie bei der Stange zu halten - für die Ausbeuter des Volkes.

Nun kann man verstehen, wenn die von der furchtbaren sozialen Not der Zeit zermürbten Massen begierig jeder Stimme lauschen, die ihnen Erlösung aus ihrem Elend verspricht. Aber fühlen sie denn nicht aus der ganzen widerlichen Art dieser Halleluja-Reklame, dass es sich hier um Scharlatane, um Marktschreier handelt, die nichts anderes als einen Handel betreiben?

Faktisch ist ja diese Gesellschaft nichts anderes als ein großzügiges, mit den gerissensten Mitteln amerikanischer Reklame arbeitendes Kolportagegeschäft. Viele tausend Kolporteure, von denen manche gutgläubig sein mögen, die meisten aber unverschämt sind, ziehen in den Arbeitervorstädten von Haus zu Haus, preisen ihre Bücher an und finden manche Frau, die das Papier kauft, obwohl sie ihre Tür vor sonstiger Schundliteraur streng verschließt. Die Sachen sind ziemlich billig, aber hier bringt es der Massenabsatz. Die Bibelforschergesellschaft, deren deutsche Abteilung im Herbst 1914 ein großes Magdeburger Vergnügungsetablissement kaufen und später als Massendruckerei einrichten konnte, wächst nach Art eines großen Industrieunternehmens, das unaufhörlich Gewinne erzielt. Das ist natürlich in weiteren Kreisen bekannt geworden und wird den Bibelforschern vorgeworfen. In großen Inseraten der Tagespresse wehren sie sich dagegen. Wenn darin die Gesellschaft behauptet, dass sie in Magdeburg allein 1925 mit 500 000 Mark Unterbilanz gearbeitet habe, so müsste diese gewaltige Summe also den Schäflein abgeschoren worden sein, oder man hat der Behauptung denselben Wert beizulegen, wie den Rechnungslegungen vieler kapitalistischer Betriebe. Übrigens können die Bibelforscher billig arbeiten, da es den Gläubigen als eine Ehrensache nahegelegt wird, möglichst viele Schriften zu verkaufen. Man spart eben Arbeitslohn. …

Vielleicht ist diese Sekte die für den Befreiungskampf der Arbeiterschaft gefährlichste unter den neueren, denn sie wendet sich weniger an das geistig verzweifelte, im übrigen aber zahlungsfähige Bürgertum, sondern mehr an das Proletariat, vor allem an die aus der Kirche Ausgetretenen. Aber wenn sie noch so sehr auf die Kirchen schimpfen, soll der Arbeiter immer daran denken, dass auch sie ihm nicht helfen, sondern ihm im Gegenteil lähmen. Denn seine Lage wird nicht besser, wenn er sich das Hirn mit sinnlosen Bibelworten verkleistert und im übrigen auf das tausendjährige Reich des Friedens schafsgeduldig wartet, sondern nur dann, wenn er durch politische oder gewerkschaftliche Einstellung selbst mit Hand anlegt beim Bau einer neue, besseren Gesellschaftsform."

Zur Charakterisierung jener Zeitschrift sei vielleicht noch ein weiterer Artikel zitiert. Im Heft 4/1931 konnte man unter der Überschrift "Katholische Kirche und Faschismus" einige Ausführungen von Hans Weise lesen. Zu letzteren wäre anzumerken, dass er nach 1945 in der DDR Mitarbeiter der K5 wurde (Vorläuferorganisation der Stasi), es später dann noch zum Hauptabteilungsleiter im Staatssekretariat für Kirchenfragen der DDR brachte. Unbeschadet dieser biographischen Aspekte, widerspiegelt seine damalige Stellungnahme aus dem Jahre 1931, dennoch in markanter Weise die damalige kirchenpolitische Situation. Er schrieb zeitgenössisch also damals:

"In den beiden großen christlichen Konfessionen gibt es über die Stellung zu den Nazis zwei verschiedene Meinungen. Im 'Tag' schrieb der evangelische Generalsuperintendent D. Dr. Dibelius: 'Das die Evangelische Kirche dem Beispiel des Bischofs von Mainz nicht folgen und zwischen sich und den Nationalsozialisten keinen Schnitt machen wird, versteht sich von selbst.' Auch ohne diese offene Sympathieerklärung wussten wir, dass die evangelische Kirche durch Wort und Tat die nationalsozialistische Bewegung stützt. Was aber hat Dibelius zu seinem Bekenntnis veranlasst? In einer Erklärung hatte der katholische Mainzer Bischof einen scharfen Trennungsstrich zwischen dem Zentrum und den Nazis gezogen. Wenn ein hoher katholischer Würdenträger zu Ausführungen von so wegtragender Bedeutung greift, dann müssen wirklich ernste politische Erwägungen dazu geführt haben und in der Tat sieht die katholische Kirche in dem Nationalsozialismus eine Gefahr für den Bestand der katholischen Glaubensgemeinschaft. In seinem Buch 'Der Mythus des 20. Jahrhunderts' schreibt der Theoretiker der NSDAP, Alfred Rosenberg: 'Die zentralen Höchstwerte der römischen und protestantischen Kirchen stehen den organischen Kräften der nordisch-arischen bestimmten Völker im Wege. Sie müssen sich neu im Sinne eines germanischen Christentums umwerten lassen.'"

Kommentar von Weise zu diesen Ausführungen:

"Alle diese Ausführungen auf einen Nenner gebracht, bedeuten: Der Nationalsozialismus steht in Kampfstellung zum Katholizismus, der seine geistigen Grundlagen in dem jüdischen Alten Testament findet und seine politischen Befehle aus dem Vatikan in Rom erhält. Die evangelische Kirche ist in die nationalsozialistische Front eingeschwenkt, weil hier ein Bundesgenosse gegen die Großmacht katholische Kirche zu erstehen scheint.

Es gilt aber auch zu erkennen, dass uns im Nationalsozialismus ein neuer Feind erstanden ist. Zu seiner Bekämpfung bedarf es anderer Waffen als im Kampfe gegen die Kirche."

ZurIndexseite

1930er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte