Arbeiter als "ernste Bibelforscher"

In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war es bereits soweit. Unter den aktiven Mitgliedern der Großkirchen begannen die Arbeiter zur Minderheit zu werden. Damals und heute ist das Bürgertum ihre Stütze. Die Arbeiter begannen sich anderen Organisationen zuzuwenden. Soweit ihre religiöse Sozialisation nachhaltige Wirkung hatte, war auch die Bibelforscherorganisation Nutznießer dieser Entwicklung.

Heute haben sich die Konturen verwischt. Nach wie vor ist der soziologische Arbeiteranteil bei den heutigen Zeugen Jehovas verhältnismäßig hoch. Es kommt aber hinzu, dass im Berufsleben sich die Berufssparten die man klassischerweise als zum Arbeitertum gehörend einschätzt, zunehmend durch solche ergänzt werden, die eher dem soziologischen Bürgertum zuzuordnen sind. Auch bei den Zeugen Jehovas ist das feststellbar, insbesondere bei ihren zweiten und dritten Generationen. Das heißt, bei denjenigen, die von Kindertagen an ihnen zugehörig sind.

Nach dem Ersten Weltkrieg war die Situation diesbezüglich noch eindeutig. Und vor allem. Auch den Großkirchen ist damals diese Sachlage ins Auge gestoßen, wie es um den soziologischen Bestand der Bibelforscher bestellt ist. Eine gewisse Dr. phil. Elisabeth Abegg machte das im Februar/Märzheft der Zeitschrift "Akademisch-soziale Monatsschrift" zum Thema. Unter der Überschrift "Arbeiter als 'ernste Bibelforscher'" führte sie aus:

"An einem Maisonntag des letzten Jahres saß ich im Park von G. halb in Gedanken an geplante Arbeit … Dann nahm ihren Platz ein Mann ein, sonntäglich sauber gekleidet, den groben, verschafften Händen nach ein Schwerarbeiter. Im Laufe des Gespräches erfuhr ich, dass er aus Hamburg stamme, was auch seine Sprache verriet, bis zum Kriege Landarbeiter gewesen sei, im Lazarett in Gotha gelegen und dort seine Frau kennen gelernt habe und jetzt in einer Fabrik für Porzellanartikel der elektrischen Industrie arbeite. Bei der Arbeit gäbe es viel Staub zu schlucken, einen Ventilator schaffe der Chef aber nicht an, und - auf meine Frage - die Herren von der Fabrikinspektion kämen so selten, und dann gäbe es auch immer Wege, sie von solchen Räumen fernzuhalten.

Alles kam ohne jede Bitterkeit heraus, wie Dinge, mit denen man sich eben abfinden muss.

Allerdings hatte er gelegentlich geäußert, es könne erst nach neuem Blut und Schrecken eine bessere Zeit für alle Menschen anbrechen. Nun erzählte er, auf Pfingsten wolle er mit der Frau nach Leipzig zu einer internationalen Versammlung fahren. Wer hätte nicht gedacht: Kommunist reinsten Wassers! Alles, was er bisher gesagt hatte, sein ganzes Wesen, passte durchaus auf einen gewissen idealen Typus dieser Richtung.

- Nein, die ernsten Bibelforscher wollten sich treffen; die Brüder und Schwestern, wie im letzten Jahr in Hamburg. Unbeholfen fielen nun die Worte von seinen Lippen; man musste an schweres Ackern denken. Sehr klar wurde mir das Wesen dieser Vereinigung nicht. Er war durch seine Frau, diese durch Schwester und Schwager - alle drei katholisch, während er evangelisch war - dazu gekommen.

Von dieser Religion erfuhr ich im Augenblick nur Bruchstücke, z. B. die Lehre, dass der Körper in der Erde in seine siebzehn Bestandteile zerfalle, dass die Seele nicht ohne weiteres unsterblich sei, aber ebenso wenig ewig Höllenpein leide. Wenn ich mehr wissen wolle, solle ich am Abend zu einer Versammlung mitkommen.

Um 8 Uhr trafen wir uns am 'Schützen'. In einem kleinen Saal waren schon mehrere Brüder und Schwestern der Bibelforscher versammelt, schließlich waren es etwa 30 Personen, eher mehr Männer, alle aus Arbeiter- oder Handwerkerkreisen. Alle nannten sich Du und schienen gut bekannt. Ich wurde als Mitgebrachte auch freundlich begrüßt. Mit gemeinsamen Gesang zu Klavierbegleitung und einem Gebet des heutigen Leiters, der ganz ohne äußeres Kennzeichen noch mitten unter den anderen saß, begann die Andacht. Bei der letzten Strophe des Liedes, dass aus dem Englischen übersetzt war, erhoben sich alle, ebenso beim Gebet, einen Dank an Gott für diese Stunde, und die Bitte, sie an unseren Seelen zu segnen, nicht anders wie in unseren Kirchen. Von einem kleinen Rednerpult, unmittelbar vor den Stuhlreihen, verlas dann der Leiter, ein früherer Katholik, einen Absatz aus dem sechsten Band der Schriftstudien von Pastor Russell und besprach in zwangloser Rede und Gegenrede den Inhalt. Die Anwesenden waren nach ihren Antworten völlig vertraut mit den Gedankengängen, die mir als Neuling seltsam und wunderlich vorkommen mussten.

Dogmatische Erörterungen habe ich von ihm gar nicht, von ihr wenig gehört. Beiden war nur eine Sehnsucht ihres Inneren hier gestillt, eine Antwort und Verheißung auf die Rätsel des Daseins gegeben. 'Wir haben unseren Frieden!' damit fasste er alles zusammen.

Auf einem Bücherbord als einzige Bücher die sieben umfangreichen Bände 'Schriftstudien' des amerikanischen Pfarrers Russell und eine Bibel.

Daraus ergibt sich eine höchst verzwickelte Chronologie. Eigentlich war mit dem Jahre 1878 die Zeit für die Herauswahl der 144 000 … abgeschlossen. Nun entstehen aber immer Lücken in dieser Schar durch den Abfall Schwacher, so dass jeder, der sich ihr auch noch heute weiht, Aussicht auf Mitgliedschaft hat.

Die Zeit sei nahe herbeigekommen, schon beginne sich der elektrische Ring um die Erde zu lösen, die zunehmende Unfruchtbarkeit der Erde deute darauf hin, die Luft habe nur noch 25 Prozent Sauerstoff statt wie früher 75 Prozent. Auch der Zionismus, dass Esperanto sind Anzeichen des großen Weltendes.

Die Geschichte ihrer Bekehrung war so einfach und doch im Grunde so unerklärbar, wie alle gewaltsamen seelischen Erschütterungen. An eines Tages großer Trübsal hatte ein Pilgerbruder an der Haustür Schriften angeboten und aus dem Inhalt erzählt. Die Frau war sofort gewonnen und auf ihren Bericht hin entschloss sich auch der Mann, in eine Einführungsversammlung mitzugehen.

Seit drei Jahren hängen sie unentwegt der neuen Lehre an, lassen sich von den Verwandten verspotten, warten und werben für das neue Reich. Ich wurde noch reichlich mit Flugschriften versehen und konnte später daraus sehen, wie sich dies Ehepaar in die Gedankengänge eingelebt hatte, die in immer etwas verschiedener Fassung unter wechselnden Überschriften den Inhalt der Blätter ausmachten."

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1922er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte