Bibel lesen - "nicht zu empfehlen"

Bereits im Wachtturm (1919 S. S. 58) war jener flotter Spruch Russells abgedruckt:

"Ferner, wir finden nicht nur, dass die Leute den Göttlichen Plan nicht sehen können, wenn sie die Bibel allein studieren sondern wir sehen auch, dass, wenn jemand die Schriftstudien beiseite legt, nachdem er sie gebraucht hat, nachdem er wohl bekannt geworden ist, nachdem er sie zehn Jahre gelesen hat, wenn er sie dann beiseite legt und sie ignoriert und zur Bibel allein geht, obwohl er seine Bibel zehn Jahre lang verstanden hat, unsere Erfahrung zeigt, dass er binnen zwei Jahren in die Finsternis geht."

Sie nannten sich zwar Bibelforscher, indes wie es um dieses "Bibelforschen" auch zu Rutherford's Zeiten bestellt war, macht auch jene Fragenbeantwortung im "Wachtturm" (1921 S. 187) deutlich:

"Frage. Ist es am ratsamsten, wenn wir uns zum Beröer-Studium versammeln, jedesmal vor Beginn der Stunde ein Kapitel aus der Bibel zu lesen?

Antwort: Wir glauben, dass für ein Beröer-Studium - wenn richtig betrachtet - die in Band VI Kap. 6 gegebenen Anregungen die Vorteilhaftesten sind. In Anbetracht der für die Versammlungen angesetzten knappen Zeit können wir das Lesen eines Kapitels der Bibel nicht das Wort reden".

Die knappe Zeit sollte besser anderweitig verwandt werden. Wie? Auch darüber berichtet der "Wachtturm" (1921 S. 2):

"Im Januar ist voraussichtlich die Broschüre fertig 'Millionen jetzt Lebender werden niemals sterben'. Dann beginnen unsere fähigsten Brüder mit öffentlichen Vorträgen über dasselbe Thema. Wichtig ist nach dem Vortrag weiteste Verbreitung der Broschüre. Deshalb beginnt sofort in der betreffenden Stadt ein Kolporteur-Werk. Nicht nur Berufskolporteure, sondern alle Brüder und Schwestern, die sich für gewisse Tagesstunden in diesem Dienste bereitstellen, nehmen gleich nach dem Vortrag diese Arbeit auf. Die Stadt wird in Bezirke geteilt, und ein jeder sucht in möglichst kurzer Zeit den Bezirk durchzukolportieren. Wir stellen der betreffenden Persönlichkeit eine Bescheinigung aus, aus der hervorgeht, dass diese Arbeit nicht erwerbsmäßig geschieht, sondern in Verfolgung eines gemeinnützigen Zweckes. Je schneller nach dem Vortrage desto erfolgreicher die Arbeit. Wo keine freiwilligen Kolporteure sind, wollen wir versuchen, einige Berufskolporteure zu senden. …

Jeder Abnehmer einer Broschüre wird (unauffällig) notiert … Die Adressen werden später besucht und zu Nachvorträgen und folgendem Bibelstudium eingeladen. Es wird alles ein leichtes und spielendes Arbeiten sein, wenn die Reklame gut ist...."

Zu den Besonderheiten der Rutherford-Schrift von den "Millionen jetzt Lebender die niemals sterben werden", gehörte auch die 1925-Verkündigung, die nachfolgend noch etliche Bibelforscher "aus dem Häuschen geraten" ließ. So hatte Rutherford darin auch die These aufgestellt:

"Da andere Schriftstellen der Tatsache bestimmt Ausdruck geben, dass eine Auferstehung Abrahams, Isaaks, Jakobs und anderer Treuen des alten Bundes stattfinden wird, und das diese die erste Gunsterweisung empfangen werden, können wir erwarten, im Jahre 1925 Zeuge zu sein von der Rückkehr dieser treuen Männer Israels aus dem Zustande des Todes, indem sie auferweckt und zur vollkommenen Menschlichkeit wiederhergestellt sein werden, um die sichtbaren gesetzlichen Vertreter der neuen Ordnung auf Erden zu sein. … Der Beginn des großen Jubeljahrzyklus ist mit dem Jahre 1925 fällig. Zu jener Zeit soll die irdische Phase des Königreiches vorhanden sein". Man vergleiche auch:

http://www.manfred-gebhard.de/Millionen.htm

Offensichtlich waren nicht alle über diese Art von Aktivitäten besonders erfreut, denn der "Wachtturm" (1921 S. 147) notierte auch:

"Einer der Pilgerbrüder schreibt uns, dass er gelegentlich Unzufriedene findet, welche Klagen gegen die Gesellschaft vorbringen wegen des Versuches der Gesellschaft, die Freunde zu allgemeiner eifriger Mitarbeit im Kolportagewerk anzuspornen, was von einigen als 'Treiben' bezeichnet wird, aber richtiger organisiertes energisches Bemühen zur Verkündigung der Botschaft vom Königreiche genannt werden sollte. Jene, welche so klagen, bestehen darauf, dass solch ein Verfahren dem entgegen sei, was Pastor Russell verfolgte und das er niemals die Freunde angetrieben habe, im Dienste tätig zu sein.

Zu den registrierenswerten Vorgängen der Jahre 1920/21 gehört auch der Europabesuch von Rutherford. Ein Pass für Deutschland zu erlangen, war ihm zu jenem Zeitpunkt nicht möglich. Und so agierte er im November 1920 von Basel (Schweiz) aus, wohin insbesondere auch 26 führende deutsche Funktionäre der Bibelforscher beordert wurden. Für den bis dato amtierenden deutschen Wachtturm-Redakteur Max Cunow, der noch von Russell maßgeblich geprägt war, war es das Ende seiner Amtsstellung. Offenbar hatte Cunow schon früher "die Nase voll"; denn in der August-Ausgabe 1920 des "Wachtturms" wurde er letztmalig als Schriftleiter genannt. Ab September 1920 vermerkt das Impressum nebulös "Redaktion: Wachtturm Bibel und Traktat-Gesellschaft". Ab 1921 trat dann der Name des Paul Balzereit in Erscheinung. Rutherford fand es offenbar angebracht, die verantwortlichen Posten im deutschen Zweig seiner Organisation mit jungen Leuten zu besetzen, weil er sich so erhoffen konnte, selbige besser gängeln zu können. Damit schlug die Stunde des Paul Balzereit den Rutherford zum Nachfolger des Cunow ernannte. Nicht ohne hinzuzufügen, dass er (vorerst) seinerzeit von dem Amerikaner C. C. Binkele, der in der Schweiz als Leiter des "Zentraleuropäischen Büros" ernannt wurde, abhängig sei.

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