Annotationen zu den Zeugen Jehovas

Freude der Ungläubigen

Ein "Markenzeichen" der Russell-Bewegung war ihre Ablehnung der konventionellen Höllenlehre. Vergegenwärtigt man sich die zeitgenössischen "Konkurrenzkirchen" zu ihnen, so wird man sagen können, dass die Liberalen unter ihnen relativ dünn gesät waren. Dogmatik pur - auch andernorts. Nur eben eine etwas anders akzentuierte Dogmatik. Unter anderem auch erkenntlich am Festhalten an der Feuerhöllenlehre. Da gab es in den USA eine deutschsprachige lutherische Zeitschrift, die ihren Standort schon im Titel zum Ausdruck brachte: "Der Lutheraner". Gab Russell eine Traktatserie heraus, die er "Die Alte Theologie" nannte, so ist im Umkreis des "Lutheraner" ähnliches feststellbar. Letzterer hatte noch eine Schwesterzeitschrift. Die nannte sich "Lehre und Wehre" und wurde gleichfalls von der deutschen evangelisch-lutherischen Synode von Missouri, Ohio (USA) herausgegeben. Im Jahre 1907 veröffentlichte "Lehre und Wehre" schon auf den ersten Seiten dieses Jahrganges einmal einen Grundsatzartikel, der hier nachstehend zitiert sei. Er zeigt meines Erachtens nur eines. Die Frage was der Regen ist und was die Traufe, läßt sich bei den Kontrahenten Bibelforscher und Evangelisch-lutherische Synode von Missouri, so gut wie nicht klären.

"Lehre und Wehre" schrieb da also:

"Wir sind Exponenten der alten Theologie. Gerade darin erblicken wir unsere Aufgabe, den alten Glauben und die alte Theologie uns und unsern Kindern zu erhalten und in immer weiteren Kreisen Anerkennung zu verschaffen. 'Für den modernen Menschen einen modernen Glauben und eine moderne Theologie!' Diese Parole geben nicht bloß die materialistischen und evolutionistischen Wissenschaftler und ausgesprochenen Feinde der Kirche aus. Am lautesten kommt vielmehr dieser Ruf mitten aus der Kirche, und zwar zum großen Teil von Männern, die die Kirche vertreten an den Universitäten und Seminaren, ja vielfach sogar auf den Kanzeln.

Wer kennt nicht die Namen: Harnack, Rade, Weinel, Bousset, Baumgarten und viele andere liberale Theologen, höhere Kritiker und Religionsgeschichtler in allen christlichen Ländern? Sie stoßen den Grund um und reißen den alten Glauben an der Wurzel auf. Christum streichen sie aus dem Evangelium und aus dem Apostolikum; die Dreieinigkeit, die Schöpfung, die Weltregierung, die Menschwerdung, die jungfäuliche Geburt, die Versöhnung, die Auferstehung Christ, die Himmelfahrt, das Sitzen zur Rechten Gottes, die Wiederkunft Christi zum Gericht, die Gottheit und Persönlichkeit des Heilgen Geistes, das Wunder der Bekehrung, die Auferstehung und das ewige Leben.

Die alte Theologie lehre eine primitive, längst veraltete Religion, die nicht hineinpasse in den Rahmen des modernen Geisteslebens, nicht harmonisiere mit der modernen Kultur, nicht Schritt halte mit dem Fortschritt der Wissenschaften und sich dem modernen Bewusstsein nicht anpasse. Kurz, für den modernen Menschen habe der alte Glaube seine Anziehungskraft eingebüßt. Und wenn er der Religion den Rücken zukehre, so liege die Schuld bei der Kirche, die es versäumt habe, einen Glauben und eine Theologie auszubilden, die der moderne Mensch, das Produkt des modernen Fortschritts in der Wissenschaft, Literatur und Kunst, anzunehmen vermöge."

Kehren wir zum "Lutheraner" zurück. Auch auf ihn beziehe ich meinen Vorwurf. Weit entfernt von Liberalität. Um so näher am Dogmatismus dran! Und die Höllenlehre war auch für diese Kreise ein "unaufgebbares Dogma". Wehe dem, der sie in Frage stellte. Bitterste Schelte war ihm gewiß. Eben, in diesem Fall auch den Bibelforschern.

In seiner Ausgabe vom 20. August 1912, veröffentlichte der "Lutheraner" einen diesbezüglichen Aufsatz, der nachstehend einmal zitiert sei:

"In vielen Tagesblättern wird gegenwärtig diese Frage behandelt; es erscheinen Artikel dafür und dagegen. Wie kommt es, dass diese Frage jetzt so in den Vordergrund tritt? In Washington war kürzlich eine Gesellschaft versammelt, die sich den hochtrabenden Namen 'Internationale Vereinigung von Bibelforschern' gibt. Es sind Anhänger des großmäuligen Schwärmers Russell, der so ziemlich alles leugnet, was christlich ist. Diese Gesellschaft faßte den Beschluß und verbreitete ihn über die ganze Welt. Es gibt keine Hölle; die Lehre von einer Hölle ist eine Fabel. Von England jauchzte ihnen ein Geistlicher (?) der Staatskirche zu, und dessen Worte gingen durch die Presse zur Freude aller Ungläubigen. So etwas wird schnell verbreitet und mit Freuden aufgenommen. Elend sucht Gesellschaft. Man fühlt sich in seinem Unglauben und seinem bösen Gewissen bedeutend sicherer, wenn viele das sagen.

Aber so leicht ist die Hölle nicht abgeschafft. der Menschen sagen und Beschließen, verschlägt dagegen nichts. Der, auf dessen Segen es ankommt, versichert Matth. 25, 41 die zwei Dinge, daß ein ewiges Feuer bereitet sei, und daß es am Jüngsten Tage Leute, ohne erst ihre Zustimmung sich zu erbitten, dahin senden werde. Mit dem leugnen ist nichts ausgerichtet. Die Zeitgenossen Noahs leugneten auch sehr das kommen der Sintflut, die Einwohner Sodoms und Gomorrhas wußten ganz gewiß, daß ihre Städte nicht zerstört werden würden, und die gottlosen Juden waren ganz sicher, daß das lauter Lästerreden und leere Worte seien, die des Jesus von Nazareth gegen die 'heilige Stätte' redete. Wie es ihnen darüber ergangen ist, ist bekannt.

Der reiche Mann hat auch alle Tage von neuem den Beschluß gefaßt, daß es keine Hölle gebe, und seine fünf Brüder haben alle mit Ja gestimmt. Als er aber in der Hölle und in der Qual war, hat er diesen Beschluß sehr in Wiedererwägung gezogen. Er hätte dann auch gern seine geänderte Meinung veröffentlicht gehabt. Aber ihm wird bedeutet, daß dies gar nicht nötig ist. Moses und die Propheten stehen noch fort, und die Sagen das Nötige; dabei wird's bleiben. Die Spötter schaffen mit ihren Beschlüssen so wenig die ewige Verdammnis ab, daß sie vielmehr nach der Schrift ein Beweis dafür sind, daß der Tag des Gerichts nicht mehr weit ist. Allermeist aber wehe denen, die sich Geistliche und Bibelforscher nennen und die Gottlosen in ihrer Sicherheit stärken! Ihnen gilt, was der HErr solchen Verführern seiner Zeit sagte: 'Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr das Himmelreich zuschließt vor den Menschen! Ihr kommt nicht hinein, und die hinein wollen, lasset ihr nicht hineingehen.' Math. 23, 13"

Die Ablehnung der Höllenlehre durch die Bibelforscher erfolgte keineswegs "uneigennützig". In ihrer Broschüre "Was sagt die Heilige Schrift über die Hölle" vermerken sie (S. 3, 4): "Sehen wir mit Schrecken, daß alle, welche diese lang verehrte Höllenlehre verlassen, sich dem Zweifel oder dem Unglauben zuneigen. …In demselben Maße wie der Glaube an die 'Hölle' erschüttert wird, so wird auch der Glaube an die Bibel als die Offenbarung des wahren Gottes erschüttert. Und diejenigen, welche ihren Glauben an eine 'Hölle' oder an irgend einen Ort endloser Qual verloren haben, sind oftmals ausgesprochene Ungläubige und Spötter."

Damit dürfte Russells Motivation klar sein. Der Vergleich drängt sich auf. Besonders in Deutschland machte die Universitätstheologie dergestalt von sich reden als "liberale Theologie" in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, dass sie allerhand Quellenkritisches und ähnliches mit in ihr Weltbild einbaute. Böse Zungen waren gar geneigt, die "liberale Theologie" dergestalt zu verdächtigen, daß sie die Atheisten gar noch links überholen wolle. Wie man weiß gab es dazu zwar auch Gegenreaktionen, aber die Tendenz war nicht zu übersehen.

Russell war offenbar auch einer von diesen "Linksüberholern", auf einem weit niedrigerem Niveau versteht sich. Preisgabe einer besonders anfechtbaren These, um so zu retten was zu retten ist.

1911er Rückblick zur Zeugen Jehovas Geschichte

 

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