Annotationen zu den Zeugen Jehovas

New Yorker Hippodrom

Herausragend im Jahre 1910 war besonders Russells Auftritt im New Yorker Hippodrom vor Zionisten. Noch 1911 hallte die Erregung darüber, aus unterschiedlichen Motiven nach. Beispielsweise hatte dies ihm und seinen Bibelforschern nachfolgend noch den Vorwurf eingetragen, von den Juden "gekauft" zu sein. In allen Variationen kochten die deutschen Antisemiten und ihre Schleppenträger in kirchlichen Kreisen dieses Thema hoch. War dem wirklich so, wie die Antisemiten pauschal argwöhnten. Ebenso pauschal geantwortet: Nein. Erst der Blick in die Details differenziert das Bild.

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Detailausschnitt aus der großfortmatigen, in Jiddischer (und deutscher) Sprache abgefaßten Schrift "Die Stimme"

Dasselbe Bild aus den "Souvenir Reports"

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Bezüglich des darin wiedergegebenen Fotos; siehe auch: http://www.aliya.de/

Bezüglich der dabei mit zu nennenden Russell-Schrift "Die nahe Wiederherstellung Israels" siehe auch:

Russell Die nahe WiederherstellungIsraels (Datei im pdf-Format)

Beispielsweise druckte der "Wachtturm" vom August 1914 einen von Otto Dathe verfassten Bericht ab, der beschreibt welche Erfahrungen Dathe und ein weiterer Bibelforscher anlässlich des Besuches einer von der "Zionistischen Vereinigung Deutschlands" arrangierten Delegiertenversammlung machten. Die Bibelforscher-Emissäre lauschten gespannt dem dort dargebotenem. Besonders begeistert waren sie auch über jene Programmpunkte die darüber berichteten, welche Erfolge der Zionismus bereits in Palästina erreicht habe. Dies sahen die Bibelforscher allerdings im Lichte ihrer vermeintlichen Bibelprophezeiungen. Und da fingen die Konflikte schon an. Der Dathe-Bericht vermerkt:

"Nach den Vorführungen verteilten wir fleißig das Heft 'Die nahe Wiederherstellung des Volkes Israel' gleich am Saalausgang, ebenso die Nummern in jiddischer Sprache. Alle bestürmten uns und rissen uns förmlich die Blätter aus den Händen."

Die Euphorie sollte nicht allzu lange fortwähren. Dathe weiter:

"Ich hatte noch fünf jiddische Nummern zu verteilen, als mich ein Zionistenführer ansprach und Lärm schlug … forderte er uns auf, das Haus zu verlassen, weil wir keine Erlaubnis hätten. Zwei jüdische Frauen gaben uns die Traktate zurück und wollten sie trotz gütigen Zuredens nicht behalten."

Nicht alle Programmpunkte dieser Veranstaltung fanden das Interesse der Bibelforscher. Ihre partielle Uninteressiertheit offenbart auch ihre Bemerkung:

"Am dritten Tage hörten wir zwei Vorträgen zu, wobei wir bemerkten, daß es sich hier nur um eine Rassenangelegenheit handelte."

Als abschließendem Kommentar vermerkt Dathe:

"Nicht ein Wort wurde von Jehova, dem großen Lenker aller Dinge geredet. Jetzt können wir umso besser erkennen, wie unser himmlischer Vater die Drangsal Jakobs zuläßt, um allen Israeliten zu zeigen, daß Er es ist, der sie in ihr Land zurückdrängt. Wir glauben richtig erkannt zu haben, daß die gläubigen Juden bereits alle in ihrer Heimat versammelt sind und daß nur noch die ungläubigen durch die Drangsal zusammenzubringen sind."

Ein bemerkenswertes Dokument ist auch Russells 1914 erschienene Schrift "Die nahe Wiederherstellung Israels". In ihr berichtet er, dass er schon vor zwanzig Jahren auch Palästina besucht habe, aber für seine Endzeitverkündigung, in die er auch die Juden mit einbaute, nur wenig Resonanz fand. Dennoch blieben seine Aktivitäten nicht ohne Resonanz. Er berichtet dazu:

"Nach unserer Rückkehr aus dem Heiligen Lande wurde unser Bericht über die herrschenden Zustände weit verbreitet, und wir sandten besondere Exemplare davon an die Leiter zweier Gesellschaften: Des Jüdischen Kolonisations-Komitee, das Sir Moses Montefiores Freigebigkeit repräsentierte, und der Jüdischen Kolonisations-Bank des Baron de Hirsch. Die letztere Gesellschaft spendete damals Millionen an Geld, um jüdische Kolonien in Argentinien zu etablieren, während die erstere in Palästina arbeitete. Wir lenkten die Aufmerksamkeit der letzteren Gesellschaft auf die Erklärung der Schrift, daß Israel in seinem eigenem Lande wieder gesammelt werden soll, und daß Bemühungen, die anderwärts gemacht werden, verhältnismäßig fruchtlos bleiben würden - wie es auch seither der Fall gewesen ist. "

Vorstehende eben zitierte Passagen sind auch enthalten in der von der WTG speziell für die Juden geschriebenen Flugschrift "Die Stimme" die als Paralleldruck in Deutsch und Jiddisch erschien. Hier haben wir also ein klassisches Beispiel, wie Russell in religiöser Verbrämung in die Politik eingriff. Er berichtet weiter, dass selbst jüdische Rabbiner in den USA nicht sonderlich von dem Gedanken angetan waren, Palästina erneut jüdisch zu kolonisieren.

Russell war ein Einflussagent der diese Vorbehalte ausräumen half. Er trug auch seinen Teil dazu bei, dass der genannte Baron Hirsch die Argentinienpläne aufgab und sich auch dem Palästina-Trend anschloss. Was Russell nicht sagt ist, das die Standard Oil nicht an Argentinien, sehr wohl aber an Palästina, aus wirtschaftlichen Überlegungen interessiert war.

Antisemiten verkündeten später lauthals, das Jüdische Bankhaus Hirsch in New York finanziere die Bibelforscher. Diesbezüglich stand und steht bis heute: Behauptung gegen Behauptung. Eines ist jedoch sicher. In dieser politischen Kontroverse verlor die "Argentinienfraktion" und Sieger wurden die, die auf Palästina gesetzt hatten. Russell hatte somit schon frühzeitig, seinerseits auch auf das "siegreiche Pferd" gesetzt.

Russell konnte sich auch dergestalt einiges von seiner Zionismustheorie versprechen, indem er mal beiläufig bemerkte (S. 19) "In New-York wohnen annähernd 1 200 000 Juden." Die Zeitschrift "Die Welt" kommentierte dazu am 1. 6. 1911:

"Die wirtschaftliche Krise, von der die Bewohnerschaft des östlichen Stadtteils New York seit einiger Zeit heimgesucht wird, hat neben der erschreckend hohen Ziffer der jüdischen Arbeitslosen noch ein anderes moralisches Elend gezeitigt. Das jüdische Viertel ist von Missionaren geradezu belagert. Jeder Tag bringt neue Fälle der Seelenfängerei. … Die Arbeit der Missionare, der im letzten April zweihundert Personen anheim gefallen sind, vollzieht sich a la Pastor Russell unter dem Deckmantel der Judenfreundschaft."

Russell gab nun vor, die Juden nicht missionieren zu wollen (wer's glaubt wird selig). Aber selbst wenn dem so wäre, stellten sie doch einen gewichtigen Faktor in seiner Marketingstrategie dar. So "stark" war die Bibelforscherorganisation damals noch nicht. Jedenfalls verschaffte ihm sein Philosemitismus Schlagzeilen. Und das ist in einer Werbeorientierten Gesellschaft schon einiges wert. Zudem waren sie auch als ein Baustein in seinem "Prophezeiungsgebäude" brauchbar, dass ja für seine Stamm-Anhängerschaft von elementarer Bedeutung ist.

Sollte es gelingen, sie durch seine Theorien diesbezüglich weiter zu motivieren, wäre dies ein nicht zu übersehender "Pluspunkt" für seine Organisation.

Indes man wird bezweifeln dürfen, ob die eigentlichen Zionisten über seine Thesen sonderlich erfreut waren. Sieht man sich die einschlägige Berichterstattung darüber an, so ist eine gewisse Distanziertheit nicht zu übersehen. "Die Welt" Zentralorgan der Zionistischen Bewegung zitiert (2. 12. 1910):

"Die amerikanischen-jüdischen Blätter sind in hellem Aufruhr über einen Vortrag, den Pastor Russell aus Brooklyn … im Hippodrom zu New York unter zionistischer Ägide gehalten hat." Dieses Pressezitat wird von der "Welt" mit dem Satz kommentiert: "Es ist aber unwahr, daß der Vortrag des Pastors Russell unter zionistischer Ägide erfolgt ist … d. h. mit Unterstützung der leitenden zionistischen Kreise. Es ist selbstverständlich ausgeschlossen, daß irgendein Zionist einen Missionar in seiner Seelenfängerei unterstützen wird. Das braucht nicht erst bewiesen zu werden, und deshalb steht die Verbreitung solcher Nachrichten auf dem gleichen moralischen Niveau wie das Treiben der Missionare."

Ein anderweitiger Pressebericht wird von der "Welt" mit den Worten rezitiert:

"Wie wenig wahr der Bericht … in seinem übrigen Teil ist, geht aus der Schilderung hervor, den das … Blatt von der Aufnahme der Rede Russells entwirft. Es berichtet:

'Und während die Zionisten den Saal unter Zustimmungskundgebungen für Pastor Russell und das herrliche Lied 'Hatikwah' singend verließen, verteilten die Sekretäre und Sekretärinnen des Pastors seine Traktätchen und Missionsbroschüren gratis unter die enthusiomisierten Zionisten.'

Tatsache aber ist, daß nach den uns zugegangenen Informationen im Hippodrom trotz der geräuschvollen Reklame Russells nur sehr wenig Zionisten anwesend waren. Diese verließen noch vor Beendigung der Rede den Saal. Das 'Hatikwah'-Lied sang nicht die Volksmenge, sondern der Chor einer Brooklyner Kirche, den sich der Pastor ad hoc hinbestellt hatte. Sofort nach der Versammlung versandten die zionistischen Vereine und in erfreulicher Übereinstimmung mit ihnen auch die Kehilla Warnungen an die jüdische Öffentlichkeit, welche auch von den jüdischen Zeitungen veröffentlicht wurden."

1911er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

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