Theologische Israel-Verklärung

Kriegerischen Spannungen in Nahost machen es deutlich. Es gibt auch solche, die das alles (wieder einmal) in ein biblisches Korsett hineinpressen möchten. Und die Geschichte der Bibelforscher/Zeugen Jehovas scheint begünstigend für solche Anfälligkeit zu sein. Werner Hodler beispielsweise interpretierte dass Juden durch "in der Bibel prophezeite Jäger", die im konkreten auf den Nazismus gedeutet wurden, nach Palästina getrieben würden. Oder der amerikanische Evangelikale Hal Lindsey, der einen dritten Weltkrieg wegen Israel, verursacht durch die Sowjetunion, glaubte ankündigen zu können.

Franz Delitzsch, der z.B. in seinen „Schriften des Institutum Judaicum in Leipzig" im Jahre 1885 schrieb: „Als Kinder der deutschen Reformation stehen wir auf dem Standpunkt des Paulus, dessen heilsgeschichtliches und erfahrungsgemäßes Recht Luther wie kein anderer vor ihm durchschaut und verteidigt hat. Aber mit Paulus, in dessen Römerbrief nicht bloß Kap. 1-8, sondern auch Kap. 9-11 ein integrierender Bestandteil ist, halten wir auch fest an dem prophetischen Worte von Israels Wiederbringung, blicken auf Israel mit hoffender Liebe und freuen uns in der Gesinnung, welche Luther in seiner Schrift 'das Jesus ein geborener Jude sei' (1523) ausgesprochen hat." [Delitzsch, "Fortgesetzte Dokumente der national-jüdischen christgläubigen Bewegung in Südrussland", Erlangen 1885 S. V]

1887 schrieb er: „Eines ist und bleibt gewiss: die Geschichte der Kirche kommt nicht eher zum Abschluss als bis nach prophetisch-apostolischer Weissagung der Rest Israels sich bekehrt und mit dem Reichtum seiner Kräfte und Gaben das innere und äußere Leben der Kirche von neuem befruchtet. Bei dem jetzt herrschenden antisemitischen Zuge, welcher auch die schriftgläubige Theologie beeinflusst, wird dies vielen als eine abenteuerliche Erwartung erscheinen. Aber man beschimpft das Christentum, wenn man ihm die Macht aberkennt, wie das Heidentum so auch das Judentum geistig zu überwinden." [Derselbe "Dokumente der südrussischen Christentumsbewegung. Selbstbiographie und Predigten von Joseph Rabinowitsch", Leipzig 1887, S. 16, 24]

Der Fehler von Delitzsch (und auch von Russell) war die Überbewertung des Wirkens des jüdischen Rechtsanwaltes Joseph Rabinowitsch in Kischinew (Moldawien) im Sinne der These vom Judenchristentum. Delitzsch selbst sah sich gezwungen, eine jüdische Stellungnahme zum „Fall Rabinowitsch" abzudrucken, in der äußerst scharf polemisiert wurde. Unter anderem konnte man darin lesen:

„Nachdem die Hand des Herrn unser Volk in unserem Geburtslande hart betroffen und der Pöbel zur Zornesgeißel gegen unsere Brüder im Süden geworden ist, ihre Wohnstätten in Trümmern zu legen, hat sich der Schlag gegen das Haus Gottes in ihrer Mitte gewendet, und es sind einige frevlerisch Abtrünnige daraus hervorgegangen, welche die ererbte Religion abgeschüttelt haben, in der Hoffnung, dadurch sich bei der Welt Gunst und Ansehen zu erwerben. Unter diesen Zerstörern befindet sich auch ein alter Mann, welcher vergessen hat, was er gelernt hat, Joseph Rabinowitsch, welcher sich vermessen hat, eine Sekte 'christgläubiger Juden' zu schaffen.

Lass den Trunkenen laufen, er wird schon von selber fallen. Aber mit Recht hat uns der Zorn ergriffen, als wir sahen, dass es ihm gelungen ist, bis in die weite Ferne Staub aufzuwerfen.
Nach der Angabe der 'Times' hätten sich dieser Bewegung schon 250 hebräische Familien angeschlossen, aber wir können versichern, dass ein zuverlässiger Forscher auch nicht eine Familie finden wird, die sich den Träumen und Reden des in Kischinew hervorgetretenen neuen Propheten Israels zugewendet. … Ich vermute fast, dass die aus der 'Times' stammende Nachricht ihn selber zum Urheber hat, und was die 250 Familien betrifft, wer kennt da nicht die Träume und Phantasiebilder die ein solcher Glaubensmacher träumt und sich einbildet, wenn er sich vermisst, Seelen zu schaffen, indem seine eigene Seele ihm abhanden kommt?" [Delitzsch, Fortgesetzte Dokumente S. 10-12]

In einer Selbstbiographie berichtet dieser Rabinowitsch, unter Bezugnahme auf eine Judenhetze welche 1871 in Odessa losbrach: „Da stürmte man los auf alle jüdischen Einwohner, riss ihre Häuser nieder und plünderte am lichten Tage ihr Eigentum, und die Christen, ihre Mitbürger, ließen in schweigsamer Ruhe den fanatischen Pöbel gewähren. Da ward ich inne, dass die Aufklärung, weit entfernt, die Juden aus der Hand ihrer Feinde zu retten, im Gegenteil sie ihren christlichen Gegnern um so verhasster macht und ihre Nationalität als nicht existenzberechtigt erscheinen lässt.

Die Juden Odessas waren die ersten in Russland, welche sich der europäischen Aufklärung untergraben und um brüderlichen und freundlichen Verhältnissen zu den Christen willen, ihre Sprache, ihre Kleidung, ihren Namen änderten, und nun waren sie auch die ersten, welche mit Schmach überhäuft und mit Vertilgung bedroht wurden. … Diese Zeitereignisse trugen das Ihrige dazu bei, mich denjenigen erkennen zu lassen, von welchem Mose und die Propheten geschrieben haben, Jesus von Nazareth." [Delitzsch, "Neue Dokumente der südrussischen Christentumsbewegung", Leipzig 1887 S. 16, 24]

Gewisse christliche Kreise, unter ihnen auch Russell, meinten in Rabinowitsch ein „göttliches Signal" zu erkennen. Russell dokumentierte das auch dadurch, dass er auf seiner 1891-er Weltreise, Kischinew ausdrücklich mit in sein Besuchsprogramm aufnahm. Es lassen sich auch noch andere Vertreter einer solchen Position namhaft machen. Beispielsweise die von der frühen (deutschen) Bibelforscherbewegung als Konkurrenz empfundene sogenannte "Allversöhnungs"-Bewegung um E. F. Ströter (1846 - 1922).

1869 war Ströter von Deutschland mach den USA ausgewandert. Dort stand er in Verbindung zu den Methodisten, amtierte auch als einer ihrer Prediger. Zuletzt war er dort auf verschiedenen kirchlichen Hochschulen der Methodisten tätig. Deutsche Landeskirchliche Gemeinschaftskreise, auf Ströter aufmerksam geworden, warben ihn ab und so war er ab 1899 wieder in Deutschland. In Deutschland wirkte Ströter, der nicht mehr im Dienste der Methodistenkirche stand, als unabhängiger Schriftausleger besonders innerhalb der Gemeinschaftsbewegung und der Evangelischen Allianz. Von 1898 bis 1908 nahm er an acht Blankenburger Konferenzen der Evangelischen Allianz als gern gehörter Redner teil. Gleichwohl kristallisierten sich zunehmend theologische Differenzen zu den Deutschen Landeskirchlichen Gemeinschaften heraus. Im besonderen war man dort nicht bereit seiner sogenannten Allversöhnungslehre zu folgen. Mit der Gründung der Zeitschrift "Das Prophetische Wort" schuf sich aber Ströter ein eigenes "Standbein".

Ströter schrieb z. B.: „Denn Judenbekehrung zu Christo und nationale Hoffnung für Israel als Volk sind nicht gegenseitig fremde oder gar einander ausschließende Begriffe, sondern sie fordern und setzen einander vielmehr voraus." [Ströter, Ernst F. "Die Judenfrage und ihre göttliche Lösung nach Römer Kapitel 11" Kassel o. J. (1903) S. 29]

Weiter meint er: „Das dis bisherigen Versuche eines Joseph Rabinowitsch in Kischinew und einiger anderer, judenchristliche Gemeinden jetzt schon zu bilden noch keinen dauernden Erfolg gehabt haben, will nichts sagen. Wir erblicken in Männern wie Rabinowitsch … die Wykliffe und Huss'e einer neuen Zeit für das Volk der Wahl. Sie tun Vorläuferdienste. Aber ihre Arbeit und ihr Zeugnis sind darum nicht vergebens. Wenn die Zeit gekommen, wenn z. B. ein völkerrechtlich anerkannter jüdischer Volksboden wieder gegeben, wenn Israel wieder ein Heimatland sein eigen nennen kann, sei es unter dem Sultan oder irgend einer anderen Weltmacht - dann wird sich's finden, dass Gott nicht unvorbereitet war, sondern für ausgiebiges Material schon gesorgt hat, zum Aufbau einer judenchristlichen Synagoge oder Gemeine, deren Zeugnis von Christo dem Gekreuzigten und Auferstandenen dann wieder in Jerusalem in die Ohren des ganzen Hauses Israel gegeben wird. Gott kann sie wohl wieder einpfropfen in 'ihren eigenen Ölbaum.'" [Ebenda S. 126]

Das hier eine bestimmte Konjunktursituation bestand, offenbarte Ströter auch, wenn er anmerkt: „Noch vor zwanzig Jahren konnte man sich mit ernsthaften Reden von der nahen Möglichkeit der Aufrichtung eines jüdischen Staates und der Wiederherstellung einer israelitischen Nation höchstens lächerlich machen. Die Juden je wieder eine Nation, im eigenen Lande, unter eigener Obrigkeit? Darob haben sie selbst damals noch ungläubig den Kopf geschüttelt und die Christen sich lustig gemacht. Unterdessen hat man fortgefahren zu weissagen über die toten Gebeine. Und siehe da, ein Rauschen! Gott der Herr lässt die Geisel des Antisemitismus schwingen. Im Judentum fängt's an sich gewaltig zu regen. Die zionistische Bewegung entsteht." [Ströter, Ernst F. "Israel das Wundervolk" Zürich o. J. (1903) S. 28]

Es blieb nicht aus, dass der zeitweilig mit zum Mitarbeiterstab der Ströter'schen Zeitschrift das „Prophetische Wort" gehörende „Johannes Walther", gleichzeitig mit ins Horn der Zionismusbegünstigung hineinblies. Bei „Walther" standen im Hintergrund noch Pate seine einschlägigen Endzeitberechnungen. Etwa, wenn er äußert: „Nur soviel sei gesagt, dass Leute, die durch die Bibel Einblick gewonnen haben in Gottes Weltregierungspläne, nicht nur glauben, sondern geradezu wissen, dass die Zeit für Israels Heimkehr endlich wirklich gekommen ist. Immer deutlicher und unverkennbarer werden die Zeichen der Zeit, und eines der deutlichsten und unverkennbarsten dieser Zeichen ist eben die beginnende Heimkehr Israels ins Land seiner Väter. So wie damals vor mehr als drei Jahrtausenden Moses auftrat um sein Volk zu retten, so ist im Jahre 1897 Theodor Herzl, der vornehmste und gebildeste Jude unserer Tage, aufgestanden mit einem Aufruf an sein Volk, es solle sich von neuem ein Heim im Lande seiner Väter schaffen." [Walther, Johannes "Israels Heimkehr. Ein Wunder Gottes in unseren Tagen", Königsberg 1911 S. 13].

Walther machte Russell und denn Bibelforschern dann noch dergestalt Konkurrenz, indem er "genauer" ein analoges Endzeitdatum publizierte. Russell sagte 1914. Der "genauere" "Johannes Walther: 1912. Gleichwohl waren Russell, Walther, Ströter allesamt "Pioniere" für die theologische Aufwertung Israels. Ihre dabei auch nachweisbaren Fehlprophezeiungen werden indes schamhaft verschwiegen.

Nochmals rekapitulierend. Als die Bibelforscher in Deutschland Fuß zu fassen begonnen, in der Zeit kurz vor dem ersten Weltkrieg, setzte sich ihre hiesige Klientel aus jenen zusammen, die die entweder mit "Freikirchen" oder "Landeskirchlichen Gemeinschaften" oder anderen im kirchlichen Jargon "Sekten" sympathisierten. Einen analogen Kreis sprach auch Ströter an. Die deutschen Anfänge waren keineswegs so zentralistisch wie man das von den heutigen Zeugen Jehovas kennt. Das kam erst später. Erst war ein noch durchaus pluralistisch zu nennendes Spektrum. Wer der "Wachtturm" der Bibelforscher las, war nicht selten zugleich auch Abonnent des "Prophetischen Wortes". Oder gar noch Sympathisant des "Johannes Walther" (alias Walter Küppers), der noch "genauer" als Russell meinte für 1912 Endzeitereignisse voraussagen zu können (vor Tisch). Nach Tisch dann auch bei ihm das große lavieren, Wegerklären und Umdeuten.

Nehmen wir mal die Zeitschrift "Das Prophetische Wort" von Ernst F. Stroeter. Seit 1907 erscheinend. Schon in deren ersten Jahrgang findet sich die Klage (S. 202):

"Das Verständnis für Israel und seine Bedeutung im göttlichen Reichsplan schwand (in den Großkirchen). Man wurde Antisemit und trieb christlich-nationale Reichspolitik und Weltverbesserung."

Dies war in Ströters Sicht ein Fehler, den er nicht wiederholen wollte.

Gleichfalls im ersten Jahrgang genannter Zeitschrift, begegnet er einem auch schon, der bereits genannte "Johannes Walther". In seinem Aufsatz berichtet er euphorisch, nachdem er die sogenannte "höhere Bibelkritik", die er am Falle des Theologen Wellhausen festmacht, kritisiert hat:

"Das Jahr 1906 hat gläubigen Bibelforschern … hochbedeutsame Ereignisse gebracht. Im März eröffnete ein Erlaß des Sultans offiziell dem wandernden Israel die Pforten Palästinas. Seitdem ist der Zionismus aus dem Stadium der Warte in das der systematischen Besiedlung übergegangen. Die Revolution in Rußland sorgte für fortgesetzten Zuzug, und Gott gibt sichtbar seinen Segen dazu; denn wunderbarer Weise stellen sich in Palästina, über dem der Himmel seit Jahrhunderten wie Erz war, seit einigen Jahren ungewöhnlich häufig Regengüsse ein." (S. 262).

Und seinen sich über mehrere Fortsetzungen hinziehenden Aufsatz schließt er mit dem Ausruf:

"Ja; Gottes Wort über Israel ist wunderbar, und alle Welt wird sich verwundert ansehen, wenn über kurz oder lang die Gebrüder Ismael und Israel als die gesegnetsten und angesehensten Völker der Erde sich die Hände reichen werden, wenn Gott den Mittelpunkt der Erde wieder dorthin verlegt, wo er vor alters war, und wo er geographisch hingehört." (S. 315).

Im dritten Jahrgang (1909) verbreitet sich "Walther" erneut mit einer Art Grundsatzartikel. Jedenfalls wird dieser in der redaktionellen Einleitung durch Ströter, entsprechend hochgelobt. Zitat: "Kein Schriftgläubiger wird ohne reichen Gewinn diesen Ausführungen folgen."

Als Ausgangspunkt nutzt "Walther" das Kapitel 19 des Bibelbuches Jesaja, um dann auszuführen:

"Der dritte Abschnitt dieses Teiles (V. 19-22) ist der umfangreichste unter den fünfen. Sein Inhalt ist sehr beachtenswert. 'An jenem Tage' heißt es da, 'soll ein Altar Jehovas mitten im Lande Aegypten stehen und ein Denkmal aus Stein für Jehova am Rande der Einfassung.'

Also zur Zeit der Wiederkunft Christi soll in Aegypten ein Steindenkmal und Zeuge für den neuen König der Erde dastehen. Er soll nicht erst gebaut werden, sondern schon dastehen, während Aegypten noch nicht dem Herrn gehört.

Tatsächlich steht nun solch ein Steinzeuge für den Herrn schon seit Jahrtausenden an dem so eigenartig bezeichneten Platze, ohne daß die Menschheit es gewußt hat. Unsrer Zeit war es vorbehalten, ihn erst zu erkennen als das, wozu ihn Gott von Anfang an bestimmt hat.

alle andern Pyramiden Aegyptens, soweit sie später als diese gebaut sind, sollen nur Nachahmungsversuche dieser größten und wunderbarsten aller Pyramiden sein, - sie ist nur sieben Meter niedriger als der Kölner Dom - und während von allen andern feststeht, daß sie Grabstätten für irgend einen König waren, scheint diese Pyramide nie zu einem solchen Zweck bestimmt zu sein" (S. 77, 78).

Bei den weiteren Verlauf seiner Ausführungen zum Thema Pyramide hat man allerdings den dringlichen Verdacht, dass die eigentlich gar nicht auf dem "Mist" von "Walther" gewachsen sein können. Denn indem er weiter ins Detail geht, auch auf die neuere Pyramidenforschung zu sprechen kommt, wobei er auch den Namen Piazzi Smith nennt. Bei diesen Detailerläuterungen erhärtet sich der Verdacht, "Walther" hat mehr oder weniger nur gekonnt "ab- bzw. umgeschrieben". Seine diesbezügliche Quelle nennt er zwar nicht. Indes wer Russells Schriftstudien", namentlich dessen dritten Band kennt, der ist auch in der Lage den Nachweis zu führen, dass "originell" "Walther" eigentlich nicht ist.

Dennoch ist es zu einfach ihn nur einfach als Plagiator hinzustellen. Er setzt durchaus auch eigenständige Akzente. Dieser Akzent kommt besonders im abschließenden Resümee seiner Ausführungen zum Ausdruck. Nachdem er vorangehend mit Zirzensischer Leichtigkeit mit allerlei Zahlen herumjongliert hat belehrt er seine Leser nun dahingehend:

"Wenn wir nun da das Maß der Pyramide anlegen, so kommen wir auf die erste Hälfte des Jahres 1912. Um diese Zeit also müßte die Entrückung stattfinden; und dafür sprechen auch andere sehr triftige Gründe, auf die wir bei der Besprechung der Worte Ezechiels über Aegpten noch werden hinweisen müssen; denn 1912 ist der erste Endpunkt der 'Zeit der Heiden', und gerade 3 ½ Jahr später, gegen Ende des Jahres 1915, liegt der Hauptendepunkt der 'Zeit der Heiden', der aller Wahrscheinlichkeit nach mit der Wiederkunft Christi und der Aufrichtung seines Reiches zusammenfallen wird." (S. 83)

Bei dieser Aussage wurde offenbar auch dem Zeitschriftenherausgeber Ströter etwas mulmig. Zwar bot er dem Pfarrer der altkatholischen Kirche Walter Küppers (alias Johannes Walther), in seiner Zeitschrift wiederholt und umfänglich eine entsprechende Tribüne. Bei der letzteren Aussage sah er sich aber doch genötigt redaktionell hinzuzufügen:

"Zu dieser, wie zu allen ähnlichen Berechnungen der Zeit für die Entrückung der Gemeine setzen wir ein ernstes Fragezeichen."

Gleichwohl verbreitete sich "Walther" auch nach dieser redaktionellen Distanzierung, weiterhin massiv in dieser Zeitschrift. Der gemeinsame Boden, auf dem sich sowohl "Walther" als auch Ströter immer wieder trafen, war die theologische Verklärung Israels. So etwa im Jahrgang 1910, der auch wieder von ellenlangen Artikeln des "Walther" nur so strotzt.

Ein weiterer gemeinsamer Punkt, wo beide sich immer wieder trafen bestand in der Aussage (von "Walther" jetzt zitiert) (1910, S. 88):

"Wenn man uns fragen würde, wen wir zur Zeit für den gefährlichsten unter den äußeren Feindes des Werkes Christi halten, so würden wir antworten: - Die moderne Theologie."

Nicht uninteressant festzustellen, dass auch "Walther" analog zu Russell, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt mit in sein System einbaut. So liest man etwa im Jahrgang 1910 des "Prophetischen Wortes" S. 120, 124):

"Es scheint vielmehr daraus hervorzugehen, daß wir die Entdeckungen und Erfindungen und all die vielen großen Fortschritte, die uns die letzten vier Jahrhunderte gebracht haben, schon als Vorbereitungen für das kommende Reich betrachten dürfen. Dampferlinien und Eisenbahnen, Telefon und Luftschifffahrzeuge sind offenbar Dinge, die für die kommende Herrschaft Christi und alles, was dann werden soll, im Ratschluß Gottes für nötig erfunden worden sind; denn eine irdische Herrschaft braucht auch irdische Herrschaftsmittel, und jedes Verkehrsmittel ist ein Herrschaftsmittel. Wie soll man irdische Wüsten in irdische Paradiesgärten verwandeln ohne Wissenschaft und Technik? Und unsere verwüstete Erde soll doch trotz Sünde und Satan durch Christi Herrschaft in ein neues Paradies verwandelt werden.

… Alle Politiker und alle großen Kaufleute merken es, daß bald Europa nicht mehr der Mittelpunkt des Weltgeschehens sein wird, daß eine Zeit beginnt, in der der Stille Ozean nicht weniger belebt sein wird als der Atlantische Ozean und daß der Mittelpunkt sich anders wohin verlegen wird. Wir, die wir Daniel verstehen, wir wissen, wo der Mittelpunkt sich hin verlegen wird. Das Volk des Herrn wird sich in Palästina sammeln, und von Jerusalem aus wird der Messias, unser Herr, die Könige und Völker dieser Erde regieren. Wir aber, die wir jetzt schon ihn als unsern Herrn und König anerkennen, wir werden dann bei ihm sein und in verklärten Leibern, in Leibern, mit denen wir, wie er nach seiner Auferstehung, erscheinen und verschwinden können, mit ihm in seinem Namen herrschen und regieren auf dieser Erde, um endlich das verheißene Reich des Friedens und der Gerechtigkeit zu gründen."

Es wäre zuviel gesagt, wollte man behaupten, die Ströter'sche Zeitschrift und die Bibelforscher würden in allen Punkten auf einer Linie liegen. In einigen wesentlichen Punkten wohl. In anderen wohl nicht. Ein solcher Streit (aus meiner Sicht ein "Streit um des Kaisers Bart") bestand wohl darin, dass die Bibelforscher den Kreis um Ströter als "Allversöhnler" hinstellten. Ich vermag diese Etikettierung zwar nicht ganz nachzuvollziehen. Immerhin zeitgenössisch tauchte dieser Vorwurf auf.

Eine Erklärung dafür findet man vielleicht auch in jener im Jahrgang 1911 (S. 31) abgedruckten Fragebeantwortung:

"Ist es angezeigt, bei dem gegenwärtigen betrübenden Zustande der Gemeine Gottes die Endlichkeit der Höllenstrafen zu betonen?

Antwort: Wir glauben entschieden Ja! …" Und dann folgen wieder ellenlange Ausführungen. In diesem Punkt vertraten die Bibelforscher in der Tat eine andere Position.

1912 war nun das von "Walther" anvisierte Jahr. Nolens volens musste zu jenem Zeitpunkt das "Prophetische Wort" erneut "Farbe" bekennen. Ströter tat es wieder einmal über das Instrumentarium einer "Fragenbeantwortung". In der Januarausgabe 1912 (S. 64) liest man:

"Was ist Ihre Stellung zu der Bestimmtheit, mit welcher Johannes Walther in seiner neuesten Schrift 'Auf Gottes Wunderwegen' sich berufen glaubt zu verkündigen, daß die Entrückung der Gläubigen geschehen wird vom 20. auf den 21. März 1912?

Antwort:

Wir beklagen dieselbe tief als eine sehr bedenkliche Entgleisung des uns so teuren Bruders und Mitarbeiter. Wir lehnen seine 'Weissagung' entschieden ab. Aber wir lassen nicht ab, zu bitten, daß dem teuren Bruder eine sehr gefährliche innere Katastrophe erspart bleiben möge, wenn nun der 21. März 1912 vorübergehen sollte, ohne die Erfüllung seiner Vorhersagung. Alle, die ihn lieben und schätzen gelernt wegen seiner köstlichen Arbeiten auf dem Gebiet der Schriftdeutung, werden uns darin gewiß gern unterstützen. Der Bruder steht vor einem furchtbaren Zusammenbruch, wenn er sich täuschen sollte."

Formal war "Walther" beim "Prophetischen Wort" nun "weg vom Fenster". War er es wirklich? Als Person vielleicht. Indes was sein "Geistesgut" anbelangte durchaus nicht. Zwar vermied Ströter sattsam bekannte Spitzen. Indes das Grundgerüst als solches feierte bei ihm weiter "fröhlichen Urstand". So auch im Jahrgang 1913, wo man in dieser Zeitschrift (S. 48) lesen konnte:

"Sieben Zeiten haben die Dauer von 2520 Jahren, und sie beginnen mit dem allmählichen Zerfall des Königreichs Juda, der 19 Jahre (606 bis 587 v. Chr.) in Anspruch nahm, sodaß das Ende dieser sieben Zeiten, 2520 Jahre später zu erwarten ist, also vom Jahre 1915 bis 1934.

Wir dürfen somit annehmen, daß die bedeutsamen Jahre des Untergangs des Reiches Juda, nach Ablauf der sieben Zeiten, auch wichtige Ereignisse für das Fallen der Herrschaft der Heiden einerseits, und der Wiederherstellung des Volkes Israel als selbständige Nation in Palästina andererseits bringen werden. Aber erst nach dem völligen Ablauf dieser sieben Zeiten, oder 2520 Jahre, von der vollständigen Zerstörung Jerusalems und des Tempels des Herrn an berechnet, können wir auch das Ende der Herrschaft der Heiden und die Befreiung des Volkes Gottes vom fremden Joch und seine Wiederherstellung im heiligen Lande erwarten.

Diese letzten hochwichtigen Ereignisse werden sich durch göttliches Eingreifen, nämlich durch das herrliche Kommen des Menschensohnes vom Himmel mit seinen Heiligen, vollziehen. Dieses sichtbare, sieghafte Kommen des Herrn darf aber nicht mit seinem Kommen in den Lüften zur Abholung seiner Gemeine und zur ersten Auferstehung verwechselt werden. Für diese, die vorher stattfinden wird, haben wir gar keine chronologische Angaben in der Bibel."

Auch den Bibelforschern war es nicht entgangen, dass von Ströter und "Walther"; abgesehen von einigen doch wohl eher marginalen theologischen Unterschieden, da in hohem Maße ihr Geistesgut kopiert, respektive verfremdet wurde. "Was tun sprach Zeus?" Nun, die zeitgenössischen Bibelforscher zogen es offenbar vor, "gute Miene zum bösen Spiel" zu machen. Beleg dafür ist auch ihre Ausführung in ihrem eigenen Wachtturm (1911 S. 107):

"Man schreibt uns: 'Lieber Herr Koetitz! Es dürfte Ihnen wohl nicht unbekannt sein, daß Pastor Ströter Ihre Schriftstudien … in einigen wichtigen Punkten für irrtümlich erklärt … ist es mir unendlich Leid, daß zumal Pastor Ströter in vielen Punkten mit Ihnen eins ist, diese beiden Auslegungen nicht miteinander gehen können."

In der Antwort wird dann auf die theologischen Differenzen eingegangen. Am bedeutungsvollsten ist vielleicht der Satz im "Wachtturm":

"Dies kann man nicht anders verstehen, als daß sich Bruder Ströter und seine Mitarbeiter …zum Universalismus bekennen, das heißt, an keine Vernichtung der Unverbesserlichen glauben, sondern annehmen, daß es schließlich keine solche geben wird, und daß alle Menschen 'endlich' errettet werden.

Wir wollen nicht sagen, wie groß oder gefährlich der Irrtum der Unversalisten ist."

In der gleichen Wachtturm-Abhandlung findet sich dann noch der Satz:

"Es ist allgemein bekannt, dass unser lieber Bruder Ströter die Schriftstudien Tages-Anbruch längst kennt und mit vielem darin einig geht. Wir zweifeln nicht, dass er (sowie auch Pfarrer Küppers, 'Johannes Walther') vieles daraus gelernt und angenommen und verwertet hat. Wir gönnen ihnen dieses gern und sehen durchaus nicht scheel, wenn die lieben Brüder auch verfehlt haben ausdrücklich zu sagen, was sie von Bruder Russell gelernt haben. ('Ehre dem Ehre gebührt')".

Zum Schluss dieses Rückblickes kommend. Offenbar gilt wohl nach wie vor jenes Bibelwort:

Dass es nichts Neues unter der Sonne gäbe (Prediger 1:9). Nicht zuletzt auch auf dem Felde der theologischen Israel-Verklärung.

Die Küppers (alias "Walther"), Ströter und einige andere mehr, fanden seinerzeit in ihrer einleitend beschriebenen Klientel, ein staunendes und glaubenswilliges Publikum. Rückblickend können sie und ihre neuzeitlichen Nachfolger, einem eigentlich nur leid tun!

1910er Rückblick zur Zeugen Jehovas-Geschichte

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