Re: "Ostbüro"


Rund ums Thema Zeugen Jehovas

Geschrieben von Drahbeck am 12. Juli 2007 13:24:08:

Als Antwort auf: "Durch eine göttliche Fügung..." geschrieben von Gerd B. am 12. Juli 2007 09:09:37:

Was die beiläufig mit erwähnten Sicherheitsmaßnahmen das sogenannte „Ostbüro" betreffend betrifft, erinnert mich das an einen älteren Text von mir (aus dem inzwischen im „Nirwana" befindlichen alten Infolink-Forum). Ich habe mir selbigem jetzt nochmal herausgesucht.
http://www.manfred-gebhard.de/Sachstand.jpg


Im Jahre 1983 herrschte in der Kirchenabteilung des MfS Alarmstimmung. Was war geschehen? Diesmal ging der Grund der Beunruhigung nicht von der DDR aus. Dafür aber um so misslicher von dem formal „befreundeten" Polen. Hatte man in der DDR auch - wie man meinte - „alles im Griff", so sah es bezüglich Polen anders aus. Schon die Schlagzeilen bewirkende polnische Gewerkschaftsbewegung „Solidarnosc" hatte die DDR Oberen zutiefst verunsichert. Nur hart war Polen an einer „tschechoslowakischen Lösung von 1968", dass heisst der Besetzung durch ausländische Militärtruppen, vorbeigeschrammt. Einen Dubcek in der Tschechoslowakei hatte man kurzerhand nach Moskau unfreiwillig beordert. Aber was war nun mit Polen?

Es war ein lavieren, und zum Missvergnügen der SED-Hardliner blieben die erhofften Radikallösungen aus. In die Rubrik „lavieren" ist auch einzuordnen, dass Polen begann, seine Zeugen Jehovas-Politik radikal zu verändern.

Da schrieb also ein Hauptmann Krüger in einem Stasipapier vom 24. 11. 1983 (Bl. 71):
„Im Ostbüro der Organisation 'ZJ' in Wiesbaden/BRD betrachtet man die Situation und Entwicklung der 'ZJ' in der VR Polen mit Skepsis. Nach ihrer Meinung waren sie 'geschichtemachend'. Die Zulassung öffentlicher Kongresse der 'ZJ' sei darauf zurückzuführen, daß dem polnischen Staat die Kirche gegenwärtig zu stark sei. Die 'ZJ' würden gegenwärtig als 'kleineres Übel' angesehen und man erhoffe sich von ihren Kongressen ein Aufweichen und eine Abkehr von der Kirche. Danach käme für die 'ZJ' wieder eine Zeit der Verfolgung und Inhaftierung. Bis dahin erhofft man sich jedoch eine aktive Entwicklung der Organisation in der VR Polen.

Auf Grund dieser Lageeinschätzung orientiert das Ostbüro in Abstimmung mit der Hauptleitung der 'ZJ' in der VR Polen darauf, wieder tiefer in den Untergrund zu gehen. Besonderer Wert wird dabei darauf gelegt, daß die Funktionäre und deren konspirative Verbindungen weitgehend unerkannt bleiben. Es wird davor gewarnt, aus der gegenwärtigen Lage voreilige Schlüsse zu ziehen und mit einer vollständigen Legalisierung der Organisation in nächster Zeit zu rechnen. Davon sei man weit entfernt. Die polnischen Sicherheitsorgane würden die derzeitige Situation geschickt ausnutzen um möglichst viele 'ZJ' zu identifizieren und zu registrieren. Dem müsse man unbedingt durch strikte Einhaltung bestehender Weisungen und Verstärkung der Konspiration begegnen.

Sollte sich die Lage bis 1984 nicht wesentlich verschlechtern, wolle man in der VR Polen erneut die Chance nutzen und Kongresse durchführen.

Die Information kann wegen Quellengefährdung offiziell nicht ausgewertet werden."

Mag man in dieser Stasiinterpretation auch eine gehörige Portion von Zweckpessimismus erkennen, so ist jedoch unverkennbar, dass der Stasi die ganze diesbezügliche Entwicklung „gegen den Strich" ging. Symptom dafür ist auch, dass in dem gleichen Stasipapier auch missvergnüglich registriert wurde:

„Durch die Hauptleitung wurde unter Mitwirkung vor allem westeuropäischer Zweigbüros der Organisation 'ZJ', die Teilnahme zahlreicher 'ZJ' aus dem aus dem Ausland an den polnischen Kongressen organisiert. Dem MfS liegt die Kopie eines Schreibens des Zweigbüros in Belgien vor. Daraus geht hervor, daß bereits im Mai 1983 an die Versammlungen der 'ZJ' in Belgien, Einladungen zur Kongreßteilnahme in der VR Polen, versandt wurden. Weiterhin sind darin detaillierte Angaben über Kongreßorte, polnische Kontaktadressen sowie Hinweise zur Erlangung der Visa enthalten.

In ähnlicher Weise wurde durch andere Zweigbüros verfahren. Neben Einladung, Programm und Kontaktadresse erhielten ausländische Teilnehmer bereits vor ihrer Einreise in die VR Polen fotografisch vervielfältigte Auszüge aus polnischen Stadtplänen, in denen Kontaktadressen bzw. die genauen Kongreßorte bereits eingezeichnet waren.
Durch das MfS konnten Teilnehmer aus folgenden 20 Ländern festgestellt werden:
BRD, Westberlin, Österreich, Schweiz, Frankreich, Belgien, Niederlande, Italien, Spanien, Portugal, Finnland, Schweden, USA, Kanada, Tunesien, Algerien, Kamerun, Dänemark, Norwegen, Großbritannien.
Die meisten ausländischen Teilnehmer kamen aus den westeuropäischen Ländern. Ihre Unterbringung erfolgte über die Kontaktadressen in Privatquatieren und Hotels."

Im Anschluss an diese Ausführungen listet die Stasi dann auf: „Es wurden 9 Kongresse und Kontaktadressen bekannt." Im Detail werden dann diese Anschriften genannt. Unter anderem aus: Warszawa, Wroczlaw, Lodz, Jelina Gora-Cieplice, Katowice, Krakow, Poznan, Lublin, Sopot.

Der Stasi war damit klar, dass sich an ihrer Ostgrenze ein neues „Bedrohungspotential" von nicht zu unterschätzendem Ausmaße aufgetan hatte. Und so sind denn jene Jahre, Anfang der achtziger Jahre durch heftige Aktivierungsbestrebungen der Stasi gekennzeichnet. Im eigenen Lande versuchte man die Anti-ZJ-Publizistik weiter zu aktivieren. Der Verfasser erinnert sich, dass just in diesen Jahren, die Stasi versuchte, auch ihn wieder zu gewinnen. Das war allerdings für die Stasi „ein Schuss in den Ofen". Die ihm zugespielte interne Stasiübersetzung eines russischen Buches von Konik über die Zeugen Jehovas, hatte der Verfasser benutzt, um zum massiven Gegenangriff überzugehen. Die Stasi und ihre Lakaien bekamen dazu schriftlich ihren endgültigen „Scheidebrief" zugestellt. Aber immerhin, bei anderen hatte die Stasi mehr Glück. Namentlich bei einen ehemaligen ZJ, der jetzt mit den Freikirchen sympathisierte. Die „Christliche Verantwortung" war ihm zu agressiv und zu wenig religiös. Also sympatisierte er mit dem Gedanken eine eigene religiöse „Ergänzungszeitschrift" herausgeben zu wollen. Herrschte sonst auch in der DDR chronischer Papiermangel und bedurften etwaige neue Zeitschriften, im Vorfeld einer langwierigen bürokratischen Genehmigungsprozedur, so war das in diesem Falle anders. Knall auf Fall wurde neben der „Christlichen Verantwortung" auch noch eine neue Zeitschrift namens „Weggefährte" auf den „Ententeich" gesetzt.

Aber nicht nur im Inland versuchte die Stasi zu aktivieren. Im Nachgang ihrer Polenrecherchen verfasste die Stasi noch eine „Information an die Sicherheitsorgane der UdSSR über vorliegende Erkenntnisse zu Kongressen der Organisation 'Zeugen Jehovas' 1983 in der VR Polen." Der Text führt aus:

„In der Anlage erhalten Sie eine Information über die dem MfS vorliegenden Erkenntnisse zu Kongressen der Organisation 'ZJ' 1983 in der VR Polen zur Kenntnisnahme und operativen Auswertung. Mehrere hundert 'ZJ' aus dem westlichen Ausland, die an Kongressen 1983 in der VR Polen teilnahmen, wurden namentlich bekannt und konnten gespeichert werden.

In diesem Zusammenhang konnte eine Gruppe von 'ZJ' herausgearbeitet werden, die sich selbst als Arbeitsgruppe der 'Zeugen Jehovas' bezeichnet, die für die VR Polen zuständig sei."

Es folgt dann eine Auflistung mit fünf Namen, inklusive Adressendetails. Davon zwei Belgier, zwei Holländer und ein Pole.

Weiter werden noch vier Schweizer, wiederum mit Adressendetails genannt, die den ZJ-Kongreß in Katowice besuchten.

In dem Schreiben an das KGB wird dann noch ausgeführt: „In Auswertung und Ergänzung der vorliegenden Information wird gebeten, dem MfS mitzuteilen, welche Erkenntnisse über Auftreten und Aktivitäten von Mitarbeitern des Ostbüros der Organisation 'Zeugen Jehovas' in Wiesbaden/BRD im Zusammenhang mit den polnischen Kongressen vorliegen."

Wie bereits ausgeführt, hatte die Stasi ihren Operativvorgang „Sumpf" im Vorfeld des beginnenden Aufbaues von Selters angelegt. Zwischenzeitlich war nun Selters inzwischen Realität geworden. Anlass genug für die Stasi dazu am 26. 4. 1985 einen „Sachstandsbericht über die Europazentrale der Organisation 'Zeugen Jehova' in Selters/Taunus (BRD)" abzufassen.

Die Stasi notiert darin:
„Die Europazentrale liegt am Rande des Naturparks 'Hochtaunus' in einem Landschaftsschutzgebiet. Das Grundstück umfaßt 300 000 m2. Davon sind 32 000 m2 Waldfläche, wozu auch zwei Steinbrüche gehören. Über 60 000 m2 wurden durch die 'Zeugen Jehova' aufgeforstet und ein weiterer Teil des Geländes zur gärtnerischen Nutzung umgestaltet. Seit Herbst 1984 wurden zur weiteren Verbesserung der Eigenversorgung zusätzlich (ca. 1,5 km vom Objekt entfernt) eine sogenannte 'Wachtturm-Farm' eingerichtet.

Die Lage der Europazentrale ist aus strategischer Sicht ideal. Zwischen den Ortsteilen Niederselters und Selters-Eisenbach in einer hügeligen Landschaft auf einem Berg (200 bis 235 m über N. N.) gelegen, ist sie schwer einsehbar und nach außen gut abzusichern. Die Gestaltung und Architektur der gesamten Anlage sind der parkähnlichen Landschaft angepasst und lassen Zweck und tatsächliches Ausmaß von außen nicht erkennen. Die einzige direkte Einsichtmöglichkeit bietet die oberhalb des Objektes gelegene Mittelpunktschule, um deren Erwerb (einschließlich des umliegenden Brachlandes) sich die 'Zeugen Jehovas' bemühen. Das Objekt ist eingezäunt und wird bewacht. Für Besucher gelten besondere Regelungen. … Sämtliche Gebäude sind durch über- und unterirdische Gänge miteinander verbunden."

Die Stasi notiert dann auch noch, dass beispielsweise die installierten Computeranlagen „strengen Sicherheitsvorkehrungen unterliegen. Die Computer-Anlage in Selters zum Beispiel darf von Besuchern nicht besichtigt werden" (Bl. 99).

Ein für die Stasi besonders wichtiger Aspekt, betraf auch das Ostbüro der Zeugen Jehovas. Dazu wurde von ihr ausgeführt: „Das Ostbüro untersteht direkt der Hauptleitung und ist ihr gegenüber rechenschaftspflichtig. Im Auftrag der Hauptleitung organisiert und kontrolliert das Ostbüro die gesamte illegale Tätigkeit der 'Zeugen Jehovas' in der DDR und den sozialistischen Ländern Europas. Der genaue Sitz im Verwaltungskomplex der Europazentrale wurde bisher nicht bekannt. Die Räumlichkeiten des Ostbüros unterliegen speziellen Sicherheitsvorschriften. Ohne Sondererlaubnis dürfen sie von Außenstehenden nicht betreten werden. Die genaue Anzahl und Tätigkeit der Mitarbeiter des 'Ostbüros' wird geheimgehalten.

Leiter des Ostbüros (E. Peters).

Bis 1980 war der Deutsch-Amerikaner Willy Pohl Leiter des Ostbüros. Er schied aus dieser Funktion angeblich wegen gesundheitlicher Gründe aus, ist aber Mitglied der Leitung der Europazentrale und zeichnet nach wie vor für die RIAS-Beiträge der 'Zeugen Jehovas' (vierteljährlich Morgenandachten) verantwortlich. Sein Nachfolger wurde Egon Peter. Dieser war unter Leitung des Pohl viele Jahre direkt an der Organisierung der illegalen Tätigkeit der 'Zeugen Jehovas' in der DDR beteiligt. Peter kennt die DDR-Spitzenfunktionäre der 'Zeugen Jehovas' alle persönlich und ist mit der konspirativen Arbeit vertraut. Von der Hauptleitung wird er als Ostexperte geschätzt und gefördert. … Nach bisherigen Erkenntnisen umfaßt das Ostbüro ca. 20-30 Mitarbeiter, wobei eine eindeutige Übersicht zur Zeit nicht vorliegt."

Im weiteren Verlauf dieser Stasidokumentation werden dann die geheimdienstlichen Praktiken im Detail herausgearbreitet : „Registrierung und Archivierung des kompletten geheimdienstlich organisierten Schriftverkehrs mit den Spitzenfunktionären der sozialistischen Länder, einschließlich der angewandten Mittel und Methoden (Tarn- und Deckbezeichnungen, Erkennungszeichen, Identifikationskennzahlen und Schlüsselnummern, Code-Systeme zur Verschlüsselung statistischer Angaben, Deckadressen, spezielle Kurier- bzw. Verbindungssysteme, Geheimschriften, Mikrofilmmaterial, Container für Nachrichtentransport."

Zur DDR speziell wird noch ausgeführt:
„Das Ostbüro fungiert als Koordinator zwischen der Hauptleitung und den 6 Spitzenfunktionären in der DDR (Leiter der 'Zeugen Jehovas' und 5 Bezirksaufseher). Das Gebiet der DDR wurde in 5 Bezirke aufgeteilt, die sich wiederum in Kreise, Gebiete, Versammlungen und Stubengruppen aufgliedern. Um zu garantieren, daß die Organisation auch unter komplizierten Bedingungen solange wie möglich funktionsfähig bleibt und zur Erhöhung der Konspiration, gibt es seit 1966 das Prinzip der dezentralisierten Anleitung durch das Ostbüro. Jeder Spitzenfunktionär verfügt über spezielle Verbindungssysteme zum Ostbüro und wird von dort gesondert angeleitet."

In Bezug auf Sicherheitsvorkehrungen für die eigenen Objekte war die Stasi Profi. Neidvoll registriert sie, dass ihr bei den Zeugen Jehovas genau solche Profis gegenüberstanden. Zitat:

„Das gesamte Objekt ist mit einem über 2 m hohen Maschendrahtzaun umgeben. Die beiden Eingänge werden von Pförtnern bewacht, die Kontrollen bei Betreten und Verlassen des Objektes durchführen. Besucher befinden sich im Objekt in ständiger Begleitung von Mitarbeitern. In regelmäßigen Abständen wurden am Zaun erhöhte Plattformen errichtet,von denen ein besserer Überblick möglich ist. Nachts patroullieren Streifen mit Hunden.

Weitere bisherige Aufklärungsergebnisse erbrachten Hinweise auf eine zusätzlich mögliche elektronische Außenabsicherung, mit deren Hilfe zum Beispiel auf ca. 2 km Entfernung Fotos von der Qualität eines Passfotos von sich nähernden Personen aufgenommen werden können.
Außerdem gibt es Hinweise auf eine mögliche, dem Objekt vorgelagerte Tiefensicherung ( z. B. Schäfer auf umliegendem Brachland).
Die Gegend mit kleinen Ortschaften bzw. Ortsteilen und wenigen Einwohnern sowie die abgeschiedene Lage des Objektes bieten für die Sicherung günstige Voraussetzungen. Hinzu kommt die Gestaltung des Objektes, z.B. Aufforstung zur weiteren Tarnung, und die Tatsache, dass alle Gebäude durch Gänge verbunden sind.

Das Ostbüro ist ständig auf größte Sicherheit bedacht. Wie inoffiziell zuverlässig erarbeitet werden konnte, wurde z. B. 1984 vom Ostbüro das Gerücht in Umlauf gesetzt, es wäre gelungen, einen Mitarbeiter des MfS im Objektgelände zu stellen und dessen Dienstauweis sicherzustellen. Der Mitarbeiter sei jedoch einem Blitzschlag erlegen.
Bekanntgewordene Versuche von 'Zeugen Jehovas' aus der DDR, die in die BRD übersiedelten, mit der Europazentrale direkt in Verbindung zu gelangen, wurden vom Ostbüro als Angriff des MfS gewertet und strikt abgelehnt.
Gegenwärtig Leben und arbeiten in der Europazentrale ca. 400 Mitarbeiter. Davon sind dem MfS 98 namentlich bekannt."

Auch dieser Stasibericht schließt mit der Floskel: „Der Bericht ist wegen Quellengefährdung nicht offiziell auswertbar."
Als Detailbegründung wird dazu noch ausgeführt: „Zur Erarbeitung des vorliegenden Sachstandsberichtes wurden Berichte von IM verwendet, die in das Operationsgebiet eingesetzt wurden und IM in der Konspiration der Organisation 'Zeugen Jehovas', Aufklärungsergebnisse der Hauptabteilung VIII, offizielle Materialien und Druckerzeugnisse aus dem Operationsgebiet sowie Druckerzeugnisse und Materialien der 'Zeugen Jehova.'"


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